Alle Welt kennt Edward Snowden. Aber wer kennt Charles Seife? Er ist Mathematiker und Sachbuchautor. Im August 2013 veröffentlichte er im Online-Magazin „Slate“ einen „Offenen Brief an seine ehemaligen NSA-Kollegen“. Von 1992 bis 1993 arbeitete er als Student bei der National Security Agency (NSA). Während der Techniker Snowden mit seinen Enthüllungen quasi einen Weck-Stromstoss durch die Weltöffentlichkeit schickte, brachte der Theoretiker Seife eher das spezifische „Krypto“- Klima zur Sprache, das im Innern der Agency herrscht und seine verführerische Wirkung auf einen jungen Wissenschafter ausübt.
In Seifes Offenem Brief heisst es: „Die Mathematiker und Kryptoanalytiker, die ich bei der NSA traf, (...) schienen sich aus zwei Gründen zur Agency hingezogen zu fühlen. Erstens war Mathematik sexy. Das klingt in den Ohren von Nicht-Mathematikern seltsam, aber bestimmte Probleme verströmen nun mal ein gewisses Etwas – das Gefühl, an etwas besonders Wichtigem mitzuarbeiten und die Lösung in Griffweite zu wissen.(...) Zweitens motivierte uns – so dachten wir jedenfalls – die idealistische Vision, für unser Land etwas tun zu können. (...) Und wenn man erst einmal im Innern der Agency war, entdeckte man eine Vielzahl von Wegen, der nationalen Sicherheit zu dienen. Sogar als Neuling fühlte ich die Chance, in kleinem Masse etwas zu bewegen.“
Rekrutierung von Krypto-Spezialisten
Seife fühlt sich durch die Machenschaften der NSA in seinem Idealismus verraten. Sein Brief lässt gerade deshalb aufhorchen, weil er von jemandem stammt, dessen Arbeit die Basis nachrichtendienstlicher Aktivitäten darstellt. Die amerikanische Mathematikerin Cathy O’Neil berichtet in ihrem Blog „mathbabe“, dass Mitarbeiter der NSA in Schulen Ausschau nach vielversprechenden Talenten halten würden, um diese dann für spezielle Sommerkurse der „spooks“ – der Spione/Gespenster – zu rekrutieren.
Höchst aufschlussreich ist dabei das Verfahren, mit dem man diese Mathe-Rekruten ködert: „Zuerst wird ein aktuelles Problem ausgewählt, dann wird zweitens daraus die Mathematik extrahiert, und drittens wird es schliesslich so gereinigt, dass niemand mehr wissen kann, was das ursprüngliche Problem eigentlich war.“
Nun, genau so stellt man sich normalerweise die Arbeit des Mathematikers vor: „gereinigt“ von allen weltlichen und banalen – zwischenmenschlichen, politischen, ethischen – Kontaminationen. Oder böse gesagt: reines Fachidiotentum im Reich des Abstrakten. Noch 1940 konnte der berühmte britische Mathematiker Godfrey Harold Hardy im Brustton des Elitären verkünden, „nie etwas Nützliches gemacht (zu haben). Keine Entdeckung von mir hat je oder wird wahrscheinlich je, direkt oder indirekt, im Guten oder Bösen einen Unterschied zum Wohlergehen der Welt machen.“
So gefährlich wie eine Atombombe
Die Äusserung entbehrt nicht der Ironie. Hardy hätte sich nicht gründlicher irren können. Er ist ein Pionier der Zahlentheorie, also exakt jener mathematischen Disziplin, die in der modernen Codierung von Informationen buchstäblich eine Schlüsselrolle spielt, und von der heute „das Wohlergehen der Welt“ wahrscheinlich stärker abhängt, als einem lieb ist.
Dass Mathematik zu einer Waffe werden kann, offenbarte sich schon im Zweiten Weltkrieg, zu dessen Verkürzung Code knackende Genies wie Alan Turing entscheidend beitrugen. Das war die Geburtsstunde der modernen Kryptoanalyse, die heute recht eigentlich in Blüte steht. Und hier kann man sich der Ironie ebenfalls nicht enthalten: Wenn Verschlüsselungsprobleme ein typisches Charakteristikum des Kriegs waren, leben wir dann heute – gemessen an der Bedeutung der Verschlüsselung – nicht auch in kriegsmässigen Zuständen? Auf jeden Fall in einer Zeit, da ein Code womöglich die gleichen Verheerungen anrichten kann wie eine Atombombe.
Nervensystem der Gesellschaft
Das Nervensystem unseres telekommunikativen Lebens ist zutiefst mathematischer Natur. Denken wir an Vernetzung, Information und deren Verschlüsselung, Automatisierung unserer Tätigkeiten, um die wichtigsten Elemente zu nennen. Nur schon unsere Bankomat-Karte ist mit ihrem eingebauten Chip ein kleines Wunderwerk mathematisch-technischer Ingeniosität der letzten Dekaden.
Ein Grossteil des Verkehrs im Internet beruht auf einem Verschlüsselungs-Verfahren, das drei Mathematiker 1977 entwickelten: dem RSA-Algorithmus, benannt nach seinen Erfindern Ronald Rivest, Adi Shamir und Leo Adleman. Eine ausgesuchte mathematische Tüftelei, die unter anderem auf dem Problem beruht, eine grosse Zahl in zwei – meist hundertstellige – Primfaktoren zu zerlegen, und aus diesen einen öffentlichen (für den Codierer) und einen privaten Schlüssel (für den Decodierer) zu konstruieren. Weil dies selbst für Computer eine zeitaufwendige Aufgabe ist, gilt die RSA-Verschlüsselung als sehr sicher.
Codes sind nicht unknackbar
Was nicht bedeutet, dass sie nicht zu knacken wäre. Ein Code ist „sexy“ in dem Masse, in dem er sich in die Aura der Unknackbarkeit hüllt. Zumal den Geheimdienst kann so etwas nicht gleichgültig lassen, deshalb setzt er „seine“ Mathematiker auf das Problem an.
Ein Schnüffler-Hirn kann verschiedene Wege zum Geheimnis aushecken. Zum Beispiel die Infiltration. 1982 gründeten Rivest, Shamir und Adleman – ganz im Geiste des neoliberalen Forscher-Unternehmertums – die Sicherheitsfirma RSA Security. Dank Snowden wissen wir, dass die NSA Vereinbarungen mit RSA Security traf, deren Zufallszahlen-Generator so zu frisieren, dass er für den Geheimdienst leicht entzifferbar wurde.
Auf ähnliche Weise nimmt die NSA Firmen und Behörden in die Pflicht, sogenannte „Hintertüren“ in ihre Produkte einzubauen, durch welche die Abhörer in die geheimen Gewirke gelangen können. Erst kürzlich wurde die „Kooperationswilligkeit“ des Kommunikationsriesen AT&T bekannt. Es ist, wie wenn ein fremdes Nervennetz stetig seine Dendriten in mein Gehirn einspeiste und allmählich zu meinem eigenen würde. Solche Machenschaften als „Orwellsch“ zu bezeichnen, wäre schiere Untertreibung.
Ein anderer Weg ist natürlich „mehr Forschung“. Von grosser Bedeutung sind leistungsstarke Algorithmen, die Zeit des Codeknackens erheblich verkürzen. Speziell grosse Hoffnung wird in Quanten-Algorithmen gesetzt, Verfahren, die auf der Manipulation von spezifischen, sogenannt verschränkten Zuständen von Atomverbänden beruhen. Damit überschreitet man die Schwelle zu einer völlig neuartigen, nicht-digitalen Datenverarbeitung. Dass die NSA grösstes Interesse daran hat, ist evident. So unterstützt sie die Forschung einerseits in ihren eigenen Top-Secret-Abteilungen; andererseits sucht sie quasi nach Affiliationen, nach „Pentagon-Töchtern“, an Universitäten. Google unterhält ein Forschungslabor über Quantencomputing, an dem sich auch die NASA beteiligt. Der militärisch-industrielle Kryptokomplex formiert sich.
Abschied von der offenen Gesellschaft?
Wenn sich aber Kryptoanalyse stetig verbessert, kann dann eine immer „verschlüsseltere“ Gesellschaft überhaupt noch offen sein? Wir verschränken uns zunehmend mit automatischen Systemen. Unser soziales Leben in der Cloud ist durchsetzt von Computern. Und mit deren wachsender Leistungsfähigkeit wird die Frage, welches Recht auf Verschlüsselung der Bürger und welches Recht auf Entschlüsselung der Staat hat, immer mehr auf ein beunruhigendes Dilemma hinauslaufen: Je besser die Mittel, die unsere Sicherheit garantieren, desto besser können sie sich auch gegen unsere Freiheit wenden.
Der Quantenphysiker Seth Lloyd erzählt eine Anekdote, die uns eigentlich in Mark und Bein fahren sollte. Er wollte Larry Page und Sergey Brin von Google das Projekt einer Quanten-Suchmaschine – „Quoogle“ – schmackhaft machen. Sie sei absolut abhörsicher. Page und Brin lehnten ab: „Wir können nicht in eine Technologie investieren, die uns daran hindert, alles über jeden zu wissen. Das ist gegen unser Geschäftsmodell.“
Geschäfte mit Geheimnissen
Ist das nun Zynismus oder grenzenlose Naivität? Jedenfalls zeigt sich die Ideologie des Internetgiganten nirgends nackter als in diesem Zitat. Hinter dem Geschäftsgeheimnis machen die grossen Internetfirmen ihre Geschäfte mit dem Geheimnis.
Wahrscheinlich bezog sich der Algebraiker Tom Leinster von der Universität Edinburgh darauf, als er in der Aprilausgabe 2014 des „New Scientist“ unter dem Titel „Ethical Calculus“ seine Kollegen aufrief, wachsamer zu werden und nicht mehr als Zudiener dubioser Projekte zu arbeiten. Pointiert könnte man sagen: Es gibt kein „reines“ mathematisches Wissen, das nicht irgendwann von irgendjemandem zu irgendwelchen „unreinen“ Zwecken benutzt werden könnte.
Gewiss, man kann Leinsters Appell resigniert weglächeln angesichts des weltweiten Schnüffler-Rhizoms. Aber der Fall Snowden zeigt doch auch, was ein Einzelner auszurichten vermag, wenn er nur den Mut aufbringt, zu dem zu stehen, was man gar nicht entschlüsseln muss: zu seinen Überzeugungen.