Sowjetführer Stalin liess in den frühen 1930er Jahren Millionen Menschen in der Ukraine verhungern. Während der Herbstsession im September wird der Schweizer Nationalrat voraussichtlich darüber abstimmen, ob dieses Verbrechen als Völkermord eingestuft wird. Die Entscheidung des Nationalrats – egal wie sie ausfällt – wird für Schlagzeilen sorgen.
«Einst wollten sie uns mit Hunger vernichten, jetzt mit Dunkelheit und Kälte», schrieb der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj im vergangenen November in den Sozialen Medien. Während das russische Militär Wohngebiete, Kraftwerke und Spitäler in der Ukraine bombardierte, gedachten Ukrainer wie jedes Jahr Ende November der Hungersnot, die vor 90 Jahren Millionen Menschen das Leben gekostet hatte.
Anfang der 1930er Jahre verhungerten in der ehemaligen Sowjetunion sieben bis neun Millionen Menschen, nachdem Sowjetführer Josef Stalin und seine Helfer absichtlich eine Hungersnot verursachten. Die Sowjet-Führung liess von den Bauern so viel Getreide beschlagnahmen, dass den Menschen kaum mehr etwas zum Essen blieb.
Die ukrainische Bevölkerung war mit vier bis fünf Millionen Opfern am stärksten von diesem Terrorregime betroffen. Die Hungersnot in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik, die von 1932 bis 1933 dauerte, wird «Holodomor» genannt – Tötung durch Hunger. Es ist eines der grössten Verbrechen des 20. Jahrhunderts und der Öffentlichkeit trotzdem weitgehend unbekannt.
Der Schweizer Nationalrat wird voraussichtlich während der Herbstsession im September darüber abstimmen, ob der Holodomor als Völkermord gegen die ukrainische Bevölkerung anerkannt wird. Weltweit haben bereits Parlamente in 29 Ländern diese Hungersnot als Völkermord eingestuft. Die Entscheidung des Nationalrats – egal wie sie ausfällt – wird für Schlagzeilen sorgen, denn eine Anerkennung als Völkermord gilt auch als Zeichen der Unterstützung für die kriegsgeplagte Ukraine.
Horrende Getreideabgaben
Der Schriftsteller Arthur Koestler reiste 1932 auf Einladung der Sowjet-Behörden durch die Sowjetunion. In seiner viele Jahre später erschienenen Autobiografie beschrieb er seine Zugfahrt durch die Ukraine im Sommer 1932: «An jedem Bahnhof drängten sich Bauern in Lumpen und boten Ikonen und Leinen im Tausch gegen einen Laib Brot an. Die Frauen hoben ihre Säuglinge zu den Abteilfenstern hoch – Säuglinge, jämmerlich und furchterregend, mit Gliedmassen wie Stöcke, aufgeblähten Bäuchen und grossen, leblosen Köpfen, die sich auf dünnen Hälsen räkelten.»
Die Hungersnot erreichte ihren schrecklichen Höhepunkt aber erst ein Jahr nach Koestlers Zugfahrt. Im Juni 1933 verhungerten in der Ukraine täglich fast 30’000 Menschen. Viele ukrainische Dörfer waren mittlerweile auf «schwarzen Listen», weil sie nicht genug Getreide produzierten, und wurden zur Strafe von der Aussenwelt abgeschnitten. Die Bauernfamilien durften ihre Dörfer nicht mehr verlassen, keinen Handel betreiben und keine Hilfe bekommen. Diese Gebiete wurden zu Todeszonen.
Liubov Lysoho aus dem Dorf Buky war 1933 zehn Jahre alt. In der Zeitzeugen-Sammlung «A Candle in Remembrance» beschreibt sie, was sie damals erlebte: «Wenn die Menschen in unserem Dorf nichts zu essen hatten, gingen sie auf das Feld, um etwas Weizen oder Getreide zu sammeln, was immer übrig war. Wenn sie dabei erwischt wurden, stellte man sie vor Gericht. […] Die Menschen assen alles, was essbar war: Blätter von den Bäumen, Wurzeln, Frösche, Schnecken. Sie zerkleinerten Rinde. Sie versuchten zu überleben, so gut sie konnten.»
Auf Anordnung der Behörden zogen sogenannte Brigaden, Gruppen von Parteiaktivisten und Polizisten, durch die ukrainischen Dörfer, um die meist unmöglich zu erfüllenden Getreideabgaben bei den Bauern einzutreiben. Dabei wurde auch Saatgut beschlagnahmt und damit die Grundlage für weitere Ernten zerstört. «Da waren diese, wir nannten sie ‘das Rote Kommando’. […] Sie kamen in die Häuser und beschlagnahmten alles bis auf das letzte Korn. Sie durchsuchten die ganze Gegend, überall. Sie nahmen sogar das Essen, das gerade gekocht wurde, aus dem Ofen», erzählte Liubov Lysoho.
Die Historikerin Anne Applebaum zitiert in ihrem Buch «Red Famine» eine Frau aus der Provinz Chernihiv, die als Kind mitansehen musste, wie ihre Mutter misshandelt wurde: «Während der Durchsuchung fragte der Aktivist, wo unser Gold und unser Getreide sei. Mutter antwortete, dass sie beides nicht habe. Sie wurde gefoltert. Ihre Finger wurden in eine Tür gesteckt und die Tür wurde geschlossen. Ihre Finger brachen, Blut floss, sie verlor das Bewusstsein. Wasser wurde über ihren Kopf gegossen und sie wurde erneut gefoltert. Sie schlugen sie, steckten ihr eine Nadel unter die Fingernägel […].»
Hunger als Waffe
Das Ziel der Sowjetführung war es, durch die Hungersnot den Widerstand der selbständigen Bauern gegen die Kollektivierung ihrer Bauernhöfe zu brechen. Doch auch nachdem die Verstaatlichung der Höfe 1932 weitgehend abgeschlossen war, setzte Stalin seinen Terror fort. Die Hungersnot diente ebenfalls der Schwächung der ukrainischen Kultur, die auf dem Land stark verankert war und die Stalin als Gefahr für seine Herrschaft über die Ukraine betrachtete.
Während die Bauernfamilien auf dem Land an Hunger starben, versuchten die sowjetischen Sicherheitsdienste in den Städten auf brutalste Weise alle Ausprägungen eines ukrainischen Nationalbewusstseins zu vernichten. Jeder, der verdächtigt wurde, der ukrainischen Kultur nahezustehen, war gefährdet. Zehntausende Politiker, Lehrer, Künstler und Intellektuelle wurden verhaftet, in Arbeitslager deportiert oder exekutiert.
Das Elend der Kinder
Unzählige ukrainische Kinder verloren durch Stalins Terrorregime ihre Eltern und lebten bettelnd auf der Strasse, in Waisenhäusern oder in Auffanglagern. Manchmal setzten verzweifelte Mütter ihre Kinder in Waisenhäusern ab, in der Hoffnung, ihnen eine Überlebenschance zu geben. In den Städten holte die Polizei täglich oft hunderte verwaiste Kinder von der Strasse und brachte sie in Barackenlagern und Waisenhäusern unter.
In einem Dorf nahe Charkiw betreuten mehrere Frauen verwaiste Kinder in einem provisorischen Waisenhaus. Im Buch «Bloodlands» des Historikers Timothy Snyder beschreibt eine der Betreuerinnen eine Szene, die die Tragik des Verhungerns zeigt: «Die Mägen der Kinder waren aufgebläht, sie waren mit Wunden und Kratzern übersät […]. Wir brachten sie nach draussen, wir legten sie auf Laken, und sie stöhnten. Eines Tages verstummten die Kinder plötzlich, wir drehten uns um, um zu sehen, was los war, und sie assen das kleinste Kind, den kleinen Petrus. Sie rissen Streifen von ihm ab und assen sie. Und Petrus tat dasselbe, er riss Streifen von sich ab und ass sie, er ass, so viel er konnte. Die anderen Kinder legten ihre Lippen auf seine Wunden und tranken sein Blut.»
Das Schweigen im Westen
Nahrungsmittelvorräte in der Sowjetunion wurden nicht an die hungernde Bevölkerung verteilt und Lieferungen von Nahrungsmitteln durch Ukrainer-Gemeinschaften im Ausland lehnten die Sowjet-Behörden ab. Vielmehr exportierte die Sowjetunion während des Massensterbens weiter Getreide und verschleierte die Katastrophe mit allen Mitteln der Propaganda. Doch viele ausländische Diplomaten in der Sowjetunion wussten über das Ausmass des Massensterbens in der Ukraine Bescheid und berichteten davon an ihre Regierungen. Die europäischen Länder und die USA intervenierten aber nicht, denn sie wollten oft die Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion nicht gefährden. Zudem war der Westen mit eigenen Wirtschaftskrisen – der Grossen Depression – und dem Aufstieg von Adolf Hitler beschäftigt.
Nur vereinzelte Journalisten brachten den Mut auf, die sowjetische Zensur und Kontrolle über Telegraphenverbindungen auszutricksen und über die Hungersnot in der Ukraine zu berichten. Einer dieser Journalisten war Malcolm Muggeridge, der Moskau-Korrespondent des «Manchester Guardian». Er musste heimlich durch die Ukraine reisen und seine Berichte nach England schmuggeln, um über das Massensterben berichten zu können. Er schrieb, die Hungersnot sei «eines der abscheulichsten Verbrechen der Geschichte, so schrecklich, dass die Menschen in der Zukunft kaum werden glauben können, dass es sich ereignete».
Einstufung als Völkermord
Unter Historikern ist es unbestritten, dass Stalin Anfang der 1930er Jahre absichtlich Millionen Menschen verhungern liess. Für die meisten Historiker spricht auch einiges für eine Einstufung des Holodomor als Völkermord. Trotzdem gibt es keinen Konsens darüber, ob die Hungersnot in der Ukraine ein Völkermord nach der Definition der UN-Völkermordkonvention ist.
Obwohl die Ukrainer bei weitem am häufigsten Opfer der Hungersnot wurden und sich viele Massnahmen der Sowjetführung spezifisch gegen die ukrainische Bevölkerung richteten, waren auch andere Ethnien in verschiedenen Regionen der Sowjetunion betroffen. Einige Historiker argumentieren deshalb, dass sich Stalins Verbrechen hauptsächlich gegen die soziale Klasse der Bauern und nicht gegen eine bestimmte Ethnie gerichtet habe. Deshalb erfülle der Holodomor die Definition eines Völkermordes nicht.
Russland verharmlost die Verbrechen
Die Anerkennung von Ereignissen wie dem Holodomor als Völkermord durch Parlamente ist laut Iva Vukušić ein politischer und symbolischer Akt. Sie ist Historikerin an der Universität Utrecht in den Niederlanden und forscht vor allem zu Völkermorden. «Jedem Parlament steht es frei […] zu Schlussfolgerungen zu gelangen und Erklärungen abzugeben», sagt Vukušić weiter.
Historiker, Journalisten und Politiker befassen sich vermehrt mit der Geschichte der Ukraine, seit der russische Präsident Wladimir Putin dem Land eine eigene Identität abspricht und einen Angriffskrieg auf die Ukraine führt. Dabei wird deutlich, dass die Unterdrückung einer eigenständigen ukrainischen Kultur und Nation durch Russland und die Sowjetunion eine lange Geschichte hat.
Der ukrainischen Bevölkerung ist es wichtig, die Hungersnot einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, um der jahrzehntelangen Leugnung und Verharmlosung der Verbrechen Stalins entgegenzuwirken. Bis in die späten 1980er Jahre wurde der Holodomor in der Sowjetunion zensiert. Russland streitet bis heute die Tragweite dieser Verbrechen ab. Beispielhaft dafür ist, dass die russischen Besatzungsbehörden in der südukrainischen Stadt Mariupol vor kurzem ein Denkmal für den Holodomor entfernten.
Die Debatten um die Anerkennung der Hungersnot als Völkermord haben für die Ukraine eine zusätzliche praktische Bedeutung bekommen. Das Wissen um den Holodomor erhöht das Verständnis und die Unterstützung im Ausland für den Kampf der Ukrainer gegen die russische Besatzung. Mateusz Morawiecki, der polnische Premierminister, besuchte im vergangenen November den Holodomor-Gedenkanlass in Kiew. Dort brachte er die aktuelle Bedeutung des Holodomor für die Ukraine auf den Punkt: «Wenn wir es Putin erlauben weiterzumachen, wird er zum Stalin des 21. Jahrhunderts.»