Die rechtsextreme Partei Chega will wieder lebenslange Haftstrafen erlauben und verfolgt noch andere Ziele, die mit der Verfassung nicht vereinbar sind. Also hat Chega ein Verfahren zu deren Revision in Gang gebracht, und da wollen auch die anderen Parteien ihre jeweils eigenen Akzente setzen. Sie mögen teils edle Motive haben, und doch ist der Nutzen des Verfahrens umstritten.
Wäre die Strassenverkehrsordnung in Portugal in den letzten 40 Jahren so oft und umfassend geändert worden wie die Verfassung von 1976, wüssten viele Frauen und Männer am Steuer nicht mehr, an welche Regeln sie sich halten müssten. Immerhin sieben Revisionen hat das Grundgesetz der noch jungen Demokratie schon erfahren. Auf Initiative der rechtsextremen Partei Chega («Es reicht») hin ist nun das Verfahren zu einer achten Revision angelaufen. Chegas Vorschläge mögen überwiegend nicht konsensfähig sein. Aber auch die übrigen sieben im Parlament vertretene Parteien haben Projekte zur Änderung eingereicht.
Ein «bedauerliches» Verfahren mit positiven Aspekten?
Bei drei der bisherigen sieben Revisionen wurden je mehr als 100 Artikel geändert, die übrigen Verfahren hatten eher chirurgischen Charakter. Auch diesmal geht es eher um Details, aber um viele Details. Änderungen an 71 der 296 Artikel wünscht der bürgerliche Partido Social Democrata (PSD), stärkste Partei der Opposition, während die Kommunisten an 68, Chega an 65 und die Sozialisten an 20 Artikeln werkeln wollen. Ein schnelles Verfahren zeichnet sich nicht ab.
Der Verfassungsrechtler Jorge Miranda fand den Beginn dieses Verfahrens «bedauerlich». Er verwies auf andere Probleme des Landes, etwa auf die wirtschaftliche Lage, auf schwere Engpässe in den Spitälern sowie auf den Krieg in der Ukraine. Und doch sah Miranda auch positive Vorschläge. Er nannte etwa das Ansinnen der Sozialisten von Ministerpräsident António Costa, einige während der Pandemie aufgetretene Unsicherheiten über die Zulässigkeit der Isolation infizierter Personen auszuräumen. Positiv fand Miranda auch Vorschläge für das Recht auf Wasser, Datenschutz, die palliative Medizin und die kostenlose Vorschulerziehung.
Erinnerungen an den Aufbruch
Diese Verfassung hat eine besondere Geschichte. Sie wurde von einer frei gewählten Versammlung erarbeitet und trat am 2. April 1976 in Kraft, fast zwei Jahre nach dem Sturz einer langjährigen faschistischen Diktatur durch den als Nelkenrevolution bekannten Militärcoup vom 25. April 1974. Auf die befreiende Revolte folgte eine Zeit des linken Aufbruchs, dessen Geist in die Verfassung einging. Ihre erste Version postulierte als Ziel den «Übergang zum Sozialismus» und erklärte die im Jahr 1975 erfolgten Verstaatlichungen von Banken und Grossunternehmen zu «unumkehrbaren Errungenschaften der Werktätigen». Auch die unter dem Motto «das Land denen, die es bearbeiten» begonnene Agrarreform in dem von Grossgrundbesitz gezeichneten Süden des Landes ging in den Text ein. Als Wächter über die Einhaltung der Verfassung fungierte zunächst der von Militärs besetzte «Revolutionsrat».
Infolge der ersten, sehr umfangreichen Revision von 1982 trat das heutige Verfassungsgericht an die Stelle des Revolutionsrats. Eine zweite Revision beseitigte 1989 viel von dem, was die Rechte im Land als «marxistische Phraseologie» bezeichnete. Sie minderte den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, machte den Weg zur Privatisierung von Banken und anderen Grossunternehmen frei und erlaubte die Abhaltung von Referenden. Etliche Feinschliffe erfuhr die Verfassung 1997. Vier weitere, punktuelle Revisionen – 1992, 2001, 2004 und 2005 – ermöglichten unter anderem den Beitritt zur Währungsunion und seine Teilnahme am Internationalen Strafgerichtshof.
Sehr konkrete Vorgaben
Nach wie vor verpflichtet Artikel 7 das Land aber dazu, auf die Abschaffung von «Imperialismus», «Kolonialismus» und jede andere Art der «Ausbeutung im Verhältnis zwischen Völkern» hinzuwirken. Es soll für die «allgemeine, gleichzeitige und kontrollierte Abrüstung» und die «Auflösung der politisch-militärischen Blöcke» eintreten – was das Land freilich nicht daran gehindert hat, der Erweiterung der Nato um Schweden und Finnland zuzustimmen. Im Gespräch ist nun eine Ergänzung dieses Artikels, nach der Portugal für die Schaffung eines internationalen Systems für den Klimaschutz wirken müsste – obwohl niemand dieses Ziel wirklich in Frage stellt.
Neben den in westlichen Ländern üblichen Grundrechten garantiert diese Verfassung bis heute unter anderem die Rechte auf Arbeit, Bildung und Wohnung und, neben dem Streikrecht, das Verbot der Aussperrung. Wo andere Verfassungen es bei allgemeinen Vorgaben belassen, ist Portugals Grundgesetz sehr konkret. Anstatt etwa nur die Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu postulieren, garantiert es gleichen Lohn für gleiche Arbeit. In den Krisenjahren 2011/4 liessen sich manche Massnahmen zum Defizitabbau nicht umsetzen, weil sie das Verfassungsgericht kippte.
Eine enorme Bandbreite von Änderungswünschen
In Spanien hat die Verfassung von 1978 bisher nur zwei kleinere Änderungen erfahren. In Portugal wird über kaum ein Gesetz so rege debattiert wie über die Verfassung. Auch nach allen bisherigen Revisionen kommen immer wieder Vorschläge für Ergänzungen am Katalog der Grundrechte wie auch kleinere Änderungen bei den Aufgaben des Staates, an den Kompetenzen und Rechten des Präsidenten der Republik, des Parlaments, der Regierung, der Gemeinden und autonomen Inselregionen, am Wahlrecht, an der Grösse des Parlaments sowie an dem, worüber das Stimmvolk bei Referenden abstimmen darf und worüber nicht.
Mehrere, nicht nur linke Vorschläge betreffen nun sprachliche Fragen. Anstatt von «direitos do homem» («Rechte des Mannes», ähnlich dem französischen «droits de l’homme») soll fortan gendergerecht von «direitos humanos», also Menschenrechten, die Rede sein. Verboten wäre künftig auch nicht mehr die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer «Rasse», sondern zu einer «Ethnie». Mehrere Vorschläge greifen Fragen der Umwelt und Nachhaltigkeit auf – ohne dass wirklich eine Verfassungsänderung nötig wäre. Auch der Tierschutz könnte in die Verfassung eingehen.
Lebenslange Haft und chemische Kastration?
Was die politische Ordnung betrifft, so ist das Wahlrecht ab 16 ebenso ein Thema wie eine Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten der Republik im semipräsidialen System. Nach Vorstellungen des PSD soll der Präsident nur noch eine Amtszeit absolvieren dürfen, aber mit einer Dauer von sieben Jahren, anstatt jetzt maximal zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten von je fünf Jahren. Von rechts kommen Forderungen nach einer Verkleinerung des Parlaments, das jetzt 230 Abgeordnete hat. Am weitesten geht der Vorschlag der Rechtspopulisten, der eine Verkleinerung auf 100 Sitze zwar nicht vorschreiben, aber ermöglichen würde. Mit Gerangel um die Grösse des Parlaments geht Streit um das Wahlsystem einher. In der Politik will der PSD derweil eine neue Grauzone schaffen, nämlich durch die Änderung von Artikel 46, der Vereinigungen mit «faschistischer Ideologie» verbietet, um solche «mit anderen totalitären Ideologien», wohl gemünzt auf die Kommunisten, einst wichtigste Kraft im Kampf gegen die Diktatur.
Die Verfassung verbietet die lebenslange Haft, die Portugal 1884 abschaffte (die Todesstrafe gibt es seit 1867 nicht mehr). Heute gilt eine Höchststrafe von 25 Jahren, die aber sitze niemand ab, wie die Populisten von Chega bedauern. Sie wollen für besonders schwere Verbrechen gegen das Leben «lebenslang» erlauben, und dazu die chemische Kastration. Im Abschnitt über die sozialen Grundrechte schlagen sie vor, das Recht auf Arbeit um eine Pflicht zur Arbeit ergänzen, wohl mit Blick auf Mitglieder der Roma-Gemeinden, denen Chega gern die Sozialleistungen streichen würde. Nicht unproblematisch ist auch der Vorschlag von Chega zur Umkehrung der Beweislast, wenn Inhaber öffentlicher Ämter im Verdacht stehen, Offizialdelikte – etwa Korruption – begangen zu haben.
Die Verfassung als Regierungsprogramm?
Aus dem rechten und liberalen Lager kommen Vorschläge für die Einführung einer Schuldenbremse und die Öffnung einiger Aktivitäten, in denen der Staat dominiert, für die private Initiative. Nach mehr sozialen Rechten rufen derweil Linksblock und Kommunisten. Letztere wollen unter anderem jährliche reale Erhöhungen des Mindestlohns festschreiben, die Begrenzung des Kaufes von Boden durch Ausländer erlauben und die Übertragung von Kompetenzen an die EU begrenzen. Und doch finden die Kommunisten diese Revision «unnötig».
Verfassungsrechtler Miranda warnt vor Versuchen, das oberste Gesetz in ein Regierungsprogramm zu verwandeln. Lächerlich, unnütz und schädlich findet der Soziologe und Kolumnist António Barreto das angelaufene Verfahren. Es gehe den Parteien nur darum, Lebenszeichen zu geben. Sie wollten sich nicht dem Vorwurf aussetzen, auf die Provokationen von Chega zu reagieren.
«Wer die Verfassung verändert, ist nicht, wer die Revision in Gang setzt, sondern wer sie vollendet», sagt beschwichtigend Sozialistenchef und Ministerpräsident Costa. Für jede Verfassungsänderung ist zudem die Zweidrittelmehrheit nötig, und die kommt nicht ohne die Stimmen von Sozialisten und PSD zustande.
Die Vielfalt von Änderungsvorschlägen lässt jedoch immer noch Platz für Phantasie. Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa nimmt nicht nur seine verfassungsmässigen Aufgaben wahr, sondern äussert sich gern über den Fussball. Nach jedem WM-Spiel der Nationalmannschaft meldet er sich zu Wort (natürlich auch, weil Kameras und Mikrofone auf ihn zielen). Auf die Idee, dem Präsidenten das Recht zu geben, den Nationaltrainer zu ernennen und zu entlassen, ist offenbar noch keine Partei gekommen.