Laut einer neuen Umfrage der Lobby-Organisation Pro Velo unter Velofahrern hat sich die Verkehrssituation für sie in der Schweiz gegenüber 2017 nur um die Note 0.1 verbessert. Im Kommentar des «Tagesanzeigers» heisst es, das sei «beschämend». Es brauche allgemein mehr «Velobewusstsein». Die Zeitung widmet dieser höchst einseitigen Umfrage – bei der ausschliesslich nur die Meinungen einer sehr begrenzten Anzahl von Velofahrerinnen und Velofahrern zum Ausdruck kommen – nicht weniger als vier Artikel. Skeptische Fragen werden nicht gestellt.
Ich bin Velofahrer und lebe in Zürich. Ich lebe gern hier und fahre gern mit dem Velo (seit ein paar Jahren per E-Bike) in der Stadt herum. Aber angeblich gehöre ich als zufriedener Velofahrer zu einer Minderheit dieser Spezies. Laut einer Umfrage der Organisation Pro Velo sind die Velofahrerinnen und Velofahrer sehr unzufrieden mit ihren Verkehrsbedingungen. Sie haben gemäss Berichten im «Tagesanzeiger» diese Bedingungen nur mit 3.8 (auf einer Notenskala von 1-6) benotet. Also ungenügend.
Das ist zwar gegenüber der letzten Pro Velo-Erhebung eine Verbesserung von 0.1 Noten. Aber trotz diesem kleinen landesweiten Fortschritt sind vor allem die Zürcher Velofahrer «höchst unzufrieden». Gemäss dem Aufmacher auf Seite 1 im «Tagesanzeiger» ist Zürich nämlich die «velofeindlichste Stadt der Schweiz». Zwar seien auch hier Verbesserungen zu verzeichnen, doch andere Städte hätten mehr getan und deshalb sei Zürich mit einer Note von 3.4 auf den letzten Platz der grossen Schweizer Städte gerutscht. Winterthur brachte es mit Note 4.4 auf den ersten Platz in dieser Kategorie.
Muss ich also als zufriedener Zürcher Velofahrer in mich gehen und die Velosituation in der Schweiz allgemeinen als «beschämend» und in Zürich als «höchst unbefriedigend» beurteilen, wie das der «Tagesanzeiger» deklariert? Bevor ich darauf eine Antwort gebe, scheint es mir angebracht, ein paar skeptische Frage zu stellen, die die erwähnte Zeitung in ihren umfangreichen Berichten zu der Pro Velo-Umfrage aus irgendwelchen Gründen vermieden hat:
Wie repräsentativ ist eine Umfrage unter Velofahrern, bei der in der Stadt Zürich gerade mal 996 Beantwortungen berücksichtigt wurden? Die Vermutung liegt jedenfalls nahe, dass bei dieser Enquete überwiegend Velo-Aktivisten der Lobby-Organisation Pro Velo mitgemacht haben. Und natürlich sind Aktivisten jeglicher Couleur nie zufrieden mit den aktuellen Verhältnissen. Folglich besteht auch Grund zur Annahme, dass zufriedene Zürcher Velofahrer wie meine Wenigkeit auf diese Umfrage wenig bis gar keinen Einfluss hatten.
Zu fragen wäre weiter, warum bei einer journalistischen Bewertung über die Verkehrssituation ausschliesslich nur über die Meinung der Velofahrer berichtet wird. Gerne würde man für ein ausgewogeneres Bild auch erfahren, was denn beispielsweise die Fussgänger von den Velofahrern halten. Dass diese sich in Sachen Verkehrsregeln und Rücksicht auf nicht mit Fahrzeugen ausgerüsteten Verkehrsteilnehmer nicht durchwegs vorbildlich verhalten, ist ja wohl keine übertriebene Behauptung.
Eine andere Anregung zur journalistischen Differenzierung in diesem Zusammenhang wäre, dass sich der «Tagesanzeiger» neben seiner epischen Berichterstattung über die Befindlichkeit der Velofahrer auch einmal mit der der Gemütslage der Autofahrer in Zürich befassen könnte. Wenn man zum Beispiel erfährt, dass es inzwischen auf Zürcher Stadtgebiet 45’000 Velo-Abstellplätze und 48 Velo-Pumpstationen gibt, so würde man im gleichen Kontext gerne erfahren, wie sich die Zahl der Auto-Parkplätze in den letzten Jahren entwickelt hat. Und was dazu nicht nur die Velofahrer, sondern auch die Autofahrer sagen.
Kurz, ich bekenne mich weiterhin als zufriedener Velofahrer in der laut «Tagesanzeiger» «velofeindlichsten Stadt der Schweiz. Mit diesem Gegensatz kann ich gut leben. Auch deshalb, weil ich nicht daran zweifle, dass Millionen von Menschen in der weiten Welt glücklich wären, in der «velofeindlichsten Stadt der Schweiz» zu wohnen.