Während in Genf die Verhandlungen über die Zukunft Syriens zögernd beginnen, haben die syrischen Kurden erklärt, die von ihnen besetzten Zonen in Nordsyrien an der türkischen Grenze sollten von nun an autonome Zonen bilden, die sie Kantone nennen. Ein föderaler Teilstaat Syriens wurde ausgerufen, der den Namen Rojava (ausgesprochen Rodschawa) trägt. Er soll aus den drei Kantonen, Qameschli, Kobane und Afrin, bestehen.
Doch es soll nicht ein rein kurdischer Staat werden sondern eine Föderation aus den vielen Völkern, die in der heute von den kurdischen Truppen beherrschten Region leben: Kurden (majoritär) zusammen mit Arabern, Turkmenen, Armeniern, Tschetschenen, Assyrern und anderen.
Ein Rat aus 200 Personen wurde gebildet, dem Vertreter aller dieser Völker angehören. Er «wählte» eine Zentralregierung für Rojava. Jeder Kanton wird auch seine eigene Regierung erhalten. Die Kantone sollen frei sein, ihre eigenen Gesetze aufzustellen und sich selbst zu regieren, soweit keine Widersprüche mit der Zentralen Regierung entstehen.
Bisher noch ohne Grenzen
Die Grenzen des neuen Teilstaatengebildes liegen noch nicht fest. Die syrisch-kurdischen Truppen der in Rojava führenden Partei, PYD (Demokratische Einheitspartei, sind weiterhin damit befasst, die von ihnen beherrschte Machtzone auszudehnen. Zwischen Afrin und Kobane besteht vorläufig eine Lücke, in welcher teils der IS herrscht, teils die Widerstandsgruppen gegen Asad, die überwiegend aus syrischen Sunniten bestehen.
Die Kurden der PYD beabsichtigen, diese Lücke zu schliessen. Die Türkei jedoch hat erklärt, sie würde dies niemals zulassen. Sie hat auch schon mit Artilleriebeschuss eingegriffen, um die Ausdehnung des Kurdenterritoriums von Afrin nach dem Osten, welche die Lücke schliessen würde, zu verhindern.
Sowohl die Asad-Regierung wie auch ihre Feinde, die Rebellengruppen gegen Asad und die Türkei, lehnen das kurdische Staatengebilde ab. Auch die Amerikaner haben gemahnt, die Zukunft Syriens müsse in den Verhandlungen festgelegt werden, die gegenwärtig in Genf begonnen haben und möglicherweise zu einem Resultat führen könnten. Allerdings hat der amerikanische Verteidigungsminister, Ashton Carter, gleichzeitig nicht anzumerken verfehlt, die USA wüssten die Kampfkraft der Kurden gegen den IS zu schätzen. Sie seien den Kurden dankbar, und sie seien weiterhin dazu bereit, die syrischen Kurden in ihrem Krieg gegen den IS aktiv zu unterstützen.
Nicht nach Genf eingeladen
Der kurdische Schritt kommt, nachdem die syrischen Kurden nicht zu den Verhandlungen nach Genf eingeladen worden waren. Dies war auf den Druck der Türkei zurückzuführen. Ankara hatte erklärt, entweder die Türkei oder die syrischen Kurden würden an der Genfer Konferenz teilnehmen; beide zugleich kämen nicht in Frage.
Da die syrischen Kurden ausgeschlossen wurden, können sie mit Recht sagen, die Mächte von Genf schickten sich an, über das Schicksal der syrischen Kurden zu bestimmen, ohne diese auch nur darüber zu Rate zu ziehen. Gleichzeitig können sie darauf pochen, dass es ihre Kämpfer und ihr Blut gewesen sind, die Rojava aus den Händen des IS befreit haben und dass sie weiter für die Arrondierung des Gebiets von Rojava und dessen Verteidigung gegen den IS zu kämpfen gedächten.
Ein Staat neuer Art
Die Sprecher der PYD erklären, die Ära der Nationalstaaten sei vorbei. Sie gedächten einen neuen Staat zu gründen, in dem die Völker Nordsyriens auf föderaler Ebene zusammenleben könnten. Wenn im übrigen Syrien ähnliche Strukturen aufgebaut würden, werde sich ein neues Syrien ergeben, in dem die Menschen aller Völker gleiche Mitspracherechte erhielten. Auch Männer und Frauen sollen in Rojava die gleichen Rechte geniessen.
Die PYD hat neben ihren eigenen kurdischen Milizen neue Kampfformationen aufgestellt, in denen Kurden, Araber und Angehörige anderer syrischer Völker, darunter auch Christen, gemeinsam gegen den IS kämpfen. Sie laufen unter dem Namen Syrische Demokratische Kräfte (SDF), und sie werden in den gemischten Gebieten ausgehoben.
Ein Entwurf Öcalans
Die Vorstellungen der PYD von dem neuen syrisch-kurdischen Föderalstaat gehen auf politische Entwürfe zurück, die Abdullah Öcalan, der Gründer der PKK, nach seiner Abkehr vom Marxismus-Leninismus in seiner Gefängniszelle ausgearbeitet und veröffentlicht hat. Man kann sie auf Englisch im Internet lesen. Solche Programme fügen sich auch in die Überlegungen ein, die von vielen Seiten darüber angestellt werden, ob und in welcher Form ein künftiger Staat Syrien, oder künftige Staaten in Syrien, zustande kommen sollen und werden.
Rojava hat auch schon ein Büro in Moskau und kann sich rühmen, der erste syrische Teilstaat zu sein, der gute Beziehungen (allerdings inoffizieller Natur) sowohl mit den Russen wie auch mit den Amerikanern unterhält.
Widersprüche auch unter Kurden
Doch die Einzelheiten der kurdischen Politik sind komplexer, als es aus solchen Idealvorstellungen hervorgeht. Innerhalb von Rojava gibt es nicht nur die PYD sondern auch die KNC (für Kurdish National Council). Die PYD ist führend, weil sie über kampfgewohnte bewaffnete Einheiten verfügt. Wahlen, um über die Mehrheitsverhältnisse zu bestimmen, können noch nicht durchgeführt werden, unter anderem deshalb nicht, weil Rojava, wie erwähnt, nur Frontverläufe, aber noch keine Grenzen besitzt.
Seit 2012 wurde mehrmals versucht, eine Kollaboration zwischen PYD und KNC in Rojava einzurichten. Sie wurde sogar beschlossen. Aber sie kam nicht zustande, weil die KNC eine Beteiligung von 50 Prozent beansprucht – was die PYD geradezu lächerlich findet. Die KNC meint dazu, die PYD gehe in Wirklichkeit darauf aus, alleine zu regieren.
Die Schwergewichte Barzani und Öcalan
Die kurdischen Abkürzungen:
PKK, die «revolutionäre» Partei der Kurdischen Bauern und Arbeiter in der Türkei. In der Türkei gibt es auch die HDP (Demokratische Partei der Völker), die auf Versöhnung zwischen den Kurden und den Türken ausgeht.
KRG, ist die Kurdische Regionale Regierung im Irak. Dort gibt es drei Hauptparteien, die KDP Barzanis, die PUK (Partei der Kurdischen Volkseinheit) weiter im Süden und die wichtigste Oppositionspartei, welche Gorran (Wechsel) heisst.
Die PYD (Demokratische Einheitspartei) ist führend in Nordsyrien. Sie steht der türkischen PKK nahe. Ihre Hauptrivalin ist der KNC (Kurdischer Nationaler Rat), auch in Syrien, welcher der KNG im Irak nahe steht.
Die Miliz der PYD geht unter den Sigeln YPD (Volksverteidigungskräfte), und die gemischte Miliz aus Kurden und anderen Völkern Syriens heisst SDF (Syrische Demokratische Kräfte). Die Armee der KRG (in irakisch Kurdistan) wird die «Peschmerga» (die vor dem Tod Stehenden) genannt.
Hinter den kurdischen Grossbuchstaben stehen gewichtige Unterschiede: Die KNC steht dem Kurdenteilstaat des Iraks unter Masoud Barzani nahe (abgekürzt KRG für Kurdish Regional Government), die PYD der türkischen PKK. Das KRG hat gute Beziehungen zur Türkei, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Die PKK wird zurzeit von der türkischen Armee und Luftwaffe blutig bekämpft.
Dazu kommen deutliche weltanschauliche und ideologische Gegensätze zwischen der Barzani-Partei im Irak und der PKK. Ihre Differenzen widerspiegeln sich zwischen ihren Klienten oder Töchterparteien in Syrien, dem KNC und der DYP.
Barzani ist Politiker und Stammeschef, Erbe seines Vaters, des berühmten Kriegs- und Stammeschefs Mullah Mustafa Barzani. Der Kern seiner Partei (die sich KDP nennt) besteht nach wie vor aus Barzani-Stammesleuten und Kriegern.
Die PKK wurde 1978 gegründet als revolutionäre marxistisch-leninistische Partei durch den kurdischen Studenten Abdullah Öcalan. Er ist seit 15 Jahren – zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet – in einem türkischen Gefängnis. Öcalan selbst und seine Kampfgenossen haben ihre alten Überzeugungen seither revidiert. Jedoch einiges davon ist übrig geblieben.
Im Fall der syrischen DYP zeigt es sich in der Experimentierfreudigkeit, die aus dem kühnen Entwurf des nicht-nationalistischen föderalen syrisch-kurdischen Staates spricht, sowie auch aus den knappen Aussagen, welche die PYD-Verantwortlichen über ihre wirtschaftlichen Pläne machen. In dem angekündigten syrisch-kurdischen Teilstaat sollen keine Monopole geduldet werden, Wasser und Elektrizitätsversorgung seien von der Öffentlichkeit zu regeln, und es habe auch keine kapitalistische Ausnützung zu geben. Die Bevölkerung jedes Kantons werde jährlich die Regierenden einer Prüfung unterziehen und im Bedarfsfall neue Behörden wählen.
Auf der Gegenseite muss man wissen: Masoud Barzani ist nicht nur Stammeschef und Präsident Kurdistans (Irak), sondern auch eine der reichsten Männer in seinem Staat.
Diesen Unterschieden entsprechend, fehlt es nicht an Spannungen zwischen der KRG und PYD. Sie gehen so weit, dass es dieser Tage auf beiden Seiten zu Reiseverboten für bestimmte politische Persönlichkeiten gekommen ist, die von dem einen in das andere Kurdengebiet hatten reisen wollen.
Ebene und Gebirge
Die politischen Differenzen gehen auch Hand in Hand mit den geographischen Gegebenheiten in den beiden kurdischen Hoheitsgebieten. Das syrische Kurdistan ist eine weite Ebene, in welcher in guten Jahren Getreide wächst, ohne der Bewässerung zu bedürfen, während die Ströme, die aus der (kurdischen) Türkei durch die Ebene fliessen (Tirgris, Khabur, Ephrat) Bewässerung erlauben. In dieser weiten offenen Steppe haben sich viele Völker und Religionsgemeinschaften überlagert und niedergelassen.
Das irakische Kurdistan hingegen ist ein Gebirgsland mit Felsen, Gebirgswäldern und engen, langgezogenen grünen Tälern, in denen die Menschen leben. Dort haben die Kurden in typischen Rückzugsgebieten schon vor den Zeiten gesiedelt, in denen (401 vor Christus) Xenophon mit seinen 10’000 griechischen Söldnern das Land von «hoi Kyrdoi», wie er sie nennt, auf seinem langen Rückmarsch von Babylon bis an das Schwarze Meer durchquerte.
Weil es sich in syrisch Kurdistan oder Rojava immer um Mischbevölkerungen handelt – auch in den Ortschaften und Landstrichen, in denen die Kurden die Mehrheit bilden –, wäre die angestrebte föderale Lösung in der Tat sehr erstrebenswert. Angesichts der Waffen, die sich nun in Syrien in aller Händen befinden, besteht die Gefahr, dass es zu ethnischen Säuberungen kommt, wenn keine Lösung für das Zusammenleben der vielen Völker im syrischen Kurdistan wie auch in ganz Syrien und im Irak gefunden wird.