Als am 15. August ein neuer Waffenstillstand in Syrien ausgerufen wurde, war von vornherein klar, dass die Gefahr seines Zusammenbrechens gross sei. Der Waffenstillstand war von den Aussenministern der USA und Russlands ausgehandelt worden. Die Verhandlungen, die zu ihm führten, hatten Monate gedauert. Beide Aussenminister hatten sich immer wieder getroffen. Im Hintergrund hatten Diplomaten gerungen, um Vorschläge einzubringen und zu diskutieren. Die Grundformel, die erreicht worden war, lautete: Beide Supermächte sollten auf ihre syrischen Klienten einwirken, um sie zu veranlassen oder zu zwingen, den erhofften Waffenstillstand einzuhalten. Gleichzeitig jedoch wollten die USA und Russland festlegen, dass die radikalen Islamisten, die man auch Jihadisten nennen kann, von dem Waffenstillstand ausgeschlossen blieben. Wenn der Waffenstillstand eine Woche lang halte, so wurde beschlossen, würden die beiden Supermächte zu einer gemeinsamen Bekämpfung der Jihadisten übergehen.
Unpräzise Diplomatie
Wie immer lagen die Schwierigkeiten im Detail:
- Wer genau waren die Jihadisten oder radikalen Islamisten unter den Hunderten von Kampfgruppen, die in Syrien unter Waffen stehen und versuchen, die Asad-Regierung zu stürzen?
- Wie genau würden Amerikaner und Russen zusammenarbeiten, um die Jihadisten zu bekämpfen?
- Was genau war unter der Formel „Einwirken auf die syrischen Klienten“ zu verstehen?
- Wer genau waren die Klienten der Amerikaner? Wieweit konnten die USA ihnen vorschreiben, was sie tun und lassen sollten?
- Wieweit konnten die Russen dem Asad-Regime befehlen, was zu tun und zu lassen sei?
Unterschiedliche Ziele der Grossmächte
Es gab nicht nur solche Fragen, die zu lösen waren. Es gab auch andere, welche die wahren Absichten der beiden Vertragspartner betrafen. Waren die Russen wirklich bereit, wie die Amerikaner es hofften, das Asad-Regime nach einer Übergangsperiode durch ein neues Regime abzulösen, das die Syrer selbst zu bestimmen hätten? Oder deuteten sie bloss an, dass sie dazu bereit sein könnten, um zunächst einmal die Lage Asads zu festigen und den Widerstand gegen ihn zu reduzieren?
Umgekehrt mussten die Russen sich fragen: Waren die Amerikaner wirklich bereit, auf eine Übergangsperiode hinzuarbeiten, in welcher das Asad-Regime (in russischer Sicht „die legale und legitime Regierung Syriens“) das geplante Übergangsregime leiten würde und damit auch in die Lage versetzt würde, seine eigene Zukunft selbst zu bestimmen?
Wenn die Amerikaner und Europäer, wie anzunehmen war, dazu nicht bereit waren, mit welchen Mitteln konnte man sie dazu veranlassen, eine derartige „Lösung“ schliesslich doch anzunehmen? Nur soviel war klar: Diese Grundfragen waren ungelöst.
Schwierige Position der USA
Weiter war schon zu Beginn des Waffenstillstandes klar: Die Amerikaner befanden sich in einer schwierigeren Position als die Russen. Dies aus zwei Gründen. Militärisch hatten die Russen ihre Luftwaffe in Syrien stationiert. Zudem besassen sie einen Verbündeten: Asad und seine Armee mit ihren Bodentruppen. Die Amerikaner haben keine Basis in Syrien. Ihre Luftangriffe beschränkten sich darauf, die Jihadisten zu bekämpfen, sowie andere radikal islamistische Gruppen, den IS und die Nusra-Front. Diese sind zwar Gegner des Asad-Regimes. Doch sie kämpften nicht direkt mit Waffen gegen die Asad-Armee. Ihre Politik ist es, einen Teil der Anti-Asad-Opposition mit Geld und Waffen zu unterstützen.
Die Strategie der Russen war klarer: Ihnen ging es darum, Asad an der Macht zu halten. Für sie waren alle jene Kräfte, die Asad zu Fall bringen wollten, Gegner. Das sind sowohl jene, die von den USA unterstützt werden, als auch die Jihadisten, die Amerika bekämpfen.
„Gemässigte“ und „Radikale“
Ein besonderer Schwachpunkt in der Position der Amerikaner ging auf den Umstand zurück, dass sich der Widerstand gegen Asad nicht wirklich sauber in zwei Teile trennen liess. Die Jihadisten, die Amerika und Russland bekämpfen wollten, waren nicht klar zu unterscheiden von den Kämpfern des „gemässigten“ Widerstandes gegen Asad, denen die Amerikaner helfen wollen. Dies betraf nicht den IS, der klar zu den radikalen Jihadisten gehört und keinerlei Bundesgenossen unter anderen Kampfgruppen besitzt. Doch in der Nusra-Front, die sich erst kurz vor dem Waffenstillstand von al-Kaida getrennt und neu benannt hatte (sie heisst nun „Front zur Befreiung der Levante“), gibt es viele verbündete Gruppen, die nicht genau die Ideologie der Nusra-Front teilen, jedoch bereit sind, mit ihr zusammen gegen das Asad-Regime zu kämpfen. Wobei es unterschiedliche Bündnisse gibt: solche, die es seit längerem gibt und solche, die aus Organisationen bestehen, die nur eine Zeit lang an bestimmten Frontabschnitten zusammenarbeiten und dort Offensiven oder Verteidigungskämpfe organisieren.
Einige der Gruppen, die gelegentlich mit Nusra zusammenarbeiten, wurden von den USA unterstützt, andere, in viel grösserer Zahl, erhielten Hilfe nicht von den USA, jedoch von den Saudis und anderen Golfstaaten, die im Syrienkrieg auf Seiten der USA stehen. Die Frage, wer genau die sogenannten „gemässigten“ Kampfgruppen seien, für welche der ausgehandelte Waffenstillstand gelten solle, war unter diesen Umständen schwer zu beantworten.
Nusra, offizielle Filiale von al-Kaida
Beide Verhandlungspartner, Russen und Amerikaner, kannten diese Schwäche. Die Amerikaner versuchten in den Vorverhandlungen, wie mehrmals durchsickerte, einzig den IS als gemeinsames Kampfziel der Russen und der Amerikaner zu bestimmen. Dies zweifellos, weil sie wussten, wie schwierig es sein würde, eine „jihadistische“ Nusra von anderen „gemässigten“ Kampfgruppen sauber zu unterscheiden. Doch die Russen weigerten sich, darauf einzugehen. Sie argumentierten, dass Nusra schliesslich die offizielle Filiale der al-Kaida in Syrien sei. Der erst kürzlich erfolgte Namenswechsel sowie die offizielle Lossagung von al-Kaida seien jedoch ein offensichtliches Täuschungsmanöver und zwar mit dem Ziel, der Front ein günstigeres Image zu verpassen.
Auch die Amerikaner mussten einräumen, dass Ex-Nusra als terroristisch einzustufen sei. Sie gaben der russischen Forderung nach. Für beide Gruppen, den IS und die Nusra, galt also der Waffenstillstand nicht. Beide sollten im Falle einer amerikanisch-russischen Zusammenarbeit bekämpft werden.
Aufsplitterung der Asad-Gegner
Doch damit handelten sich die Amerikaner unüberwindbare Schwierigkeiten ein. Sie verlangten nun offiziell, dass sich die „legitime Opposition“ gegen das Asad-Regime von Nusra trennt, um „legitim“ zu bleiben. Wenn sie das nicht täte, würde sie als Feind der Amerikaner und der Russen eingestuft und behandelt. Dies bedeutete für die Kämpfer, dass sie ihre gemeinsame Front mit Ex-Nusra entweder auflösen müssten, um weiter amerikanische Hilfe zu erhalten, oder dass sie, falls sie dies nicht täten, Gefahr laufen würden, zusammen mit Ex-Nusra von den Russen, den Amerikanern und den Syrern bombardiert und am Boden bekämpft zu werden.
Das heisst, der Waffenstillstand, so wie er schliesslich zustande kam, teilte die bisherige Widerstandsfront gegen das Asad-Regime auf: in einen Teil, der sich gezwungen sah, zusammen mit Ex-Nusra weiter zu kämpfen, und in einen anderen Teil, der von den Amerikanern dazu aufgefordert wurde, auf den Waffenstillstand einzugehen. Die Kampfkraft des Widerstandes gegen Asad wurde dadurch stark geschwächt, wahrscheinlich halbiert.
Versprochene humanitäre Hilfe
Mit dem Waffenstillstand verbunden war auch das Versprechen, humanitäre Hilfe für die grossen Massen der belagerten syrischen Zivilisten zu leisten. Nach Schätzungen der Uno sind rund 600’000 Menschen von solchen Belagerungen betroffen, die grosse Mehrheit davon Kämpfer und Zivilisten des Widerstands gegen Asad. Wahrscheinlich waren wegen dieser humanitären Versprechen die Widerstandsgruppen (ausser dem IS und der Nusra) auf die Waffenstillstandsvorschläge eingegangen. Allein in Ost-Aleppo drohen zwischen 250'000 und 300'000 Menschen ausgehungert zu werden.
Die Widerstandsgruppen waren mit unverbindlichen Formen auf die Vorschläge eingegangen. So hiess es: „Wir befürworten den Waffenstillstand.“ Es hiess nicht klar: „Wir nehmen den Waffenstillstand an.“ Immer wieder betonten die Gruppen, ob der Waffenstillstand eingehalten werde, hänge vom Verhalten der Gegner ab. Entscheidend sei auch, ob die versprochene Hilfe wirklich eintreffe.
Auf das Konto der Nusra-Front
Der Waffenstillstand begann am Id al-Adha, den höchsten und populärsten Feiertagen im Islam. Aus diesem Grund war es schwierig für die Kampfgruppen, die Waffenruhe abzulehnen. Id al-Adha, das Opferfest, ist ein Familienfest mit Geschenken und besonderen Speisen – in vieler Hinsicht unserem Weihnachtsfest vergleichbar. Die Gelegenheit, das Fest während einer Waffenruhe zu feiern, konnten die Kämpfer nicht in den Wind schlagen, ohne die Bevölkerung gegen sich aufzubringen.
Doch mehrere Kampftruppen argumentierten, der Waffenstillstand würde sie schwächen, weil sie nun von der potenten Nusra-Front getrennt seien. Einige Kämpfer legten sich deshalb nicht endgültig auf die Waffenruhe fest. Andere sagten unverblümt, sie wollten sich nicht von der Nusra trennen.
Höchstens verbale Unterstützung der USA
Ex-Nusra hatte seinerseits ein Interesse daran, dass der Waffenstillstand zusammenbrach. Denn in diesem Fall kann die Front ihre frühere Zusammenarbeit mit „gemässigten“ Gruppen weiterführen. Um den Waffenstillstand zu beenden wurde die Front militärisch noch aktiver als sonst – und dies in Zusammenarbeit mit ihren bisherigen „gemässigten“ Verbündeten. Ein Teil der zahlreichen von den Russen und dem Asad-Regime gemeldeten Brüche des Waffenstillstandes ging zweifellos auf das Konto der Front.
Die „Gemässigten“ mussten sich sagen, wenn der Waffenstillstand hält und, wie vorgesehen, Friedensgespräche nach sich zieht, konnten sie offenbar mit nicht viel mehr als mit bloss verbaler Unterstützung der Amerikaner rechnen.
Idlib, Bedrohung für Asad
Das Wichtigste für den Widerstand – immer abgesehen vom IS – ist es, die Provinz Idlib mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt zu dominieren. Idlib, die Stadt und die Provinz, werden gehalten von Ex-Nusra. Sie ist die dort führende Gruppe, arbeitet aber mit zahlreichen anderen Kampftruppen zusammen. Einige von ihnen sind in einem grösseren Verband zusammengeschlossen: den „Freien Syriens“ (Ahrar al-Sham). Idlib stellt eine Bedrohung für das Asad-Regime dar, weil die Provinz im Westen an die Wohngebiete der alawitischen Minderheit grenzt, auf welche Asad sich stützt. Östlich der Provinz Idlib schliesst sich die Provinz von Aleppo an, und der Kampf um Aleppo könnte den Krieg entscheiden.
Der Belagerungsring der Asad-Armee um die westlichen Teile der Grossstadt wurde am 6. August vorübergehend gesprengt, zum Teil dank Truppen aus Idlib. Später gelang es der syrischen und russischen Luftwaffe wieder, den Ring zu schliessen.
Doch dass die Belagerung eine Zeit lang durchbrochen werden konnte, zeigt, dass Idlib nach wie vor eine Bedrohung für Asad darstellt. Würden die verbündeten Milizen sich von Ex-Nusra abwenden, wäre diese Bedrohung stark reduziert. Dies läge natürlich im Interesse Asads und der Russen, und es würde die Position des Widerstandes bedeutend schwächen. Man kann vermuten, dass dieses Resultat von den Russen angestrebt wurde, als sie mit den Amerikanern über den Waffenstillstand verhandelten.
Die USA bombardieren syrische Truppen
Der Waffenstillstand brach dann endgültig zusammen, als Flugzeuge der amerikanischen Koalition am 5. Tag der Übereinkunft, am 18.September, eine Position der syrischen Armee bombardierten, während diese Stellungen des IS angriff. Dieser Zwischenfall ereignete sich nahe des Militärflughafens von Deir az-Zor. Mindestens 60 syrische Soldaten wurden getötet. In der Folge dieses Bombenangriffs konnte der IS vorübergehend Stellungen auf einem Hügel erobern, von denen aus Flugzeuge beschossen werden können, die auf dem nahen Militärflugplatz landen. Der IS hat die syrischen Armeepositionen in Deir az-Zor eingekreist. Die Verbindung über den Flughafen ist ihre einzige Brücke zur Aussenwelt. Einen Tag später gelang es den syrischen Armeeeinheiten, den umstrittenen Hügel wieder dem IS zu entreissen.
Die Amerikaner und ihre Partner stellten den Luftangriff ein, nachdem die Russen sie zweimal gewarnt hatten, dass ihre Ziele syrische Armeestellungen waren. Später erklärten die Amerikaner, es habe sich um einen Irrtum gehandelt. Sie hätten gegen den IS, nicht dessen Gegner, vorgehen wollen. Doch eine Frage blieb offen: Wie kam es dazu, dass amerikanische Flugzeuge, die offenbar von australischen und von britischen Jets begleitet waren, in einen Kampf eingriffen, der sich zwischen dem IS und der Asad-Armee abspielte? Entweder sie halfen mit einem Eingriff entweder Asad gegen den IS – oder dem IS gegen Asad. In beiden Fällen handelten die Amerikaner als Helfer eines ihrer Gegner.
Die USA „unter einer Decke mit dem IS“
Weder die Russen noch die Syrer waren bereit, die amerikanische Entschuldigung anzunehmen. Die syrischen Propagandisten erklärten, Amerika und der IS steckten beide unter einer Decke und seien heimlich verbündet. Die Bombardierungen der syrischen Truppen seien der beste Beweis dafür. Auch die Russen erklärten, die amerikanische Entschuldigung, dass ein Irrtum vorläge, sei unglaubwürdig. Am Tag nach diesem undurchsichtigen Zwischenfall kam es zu Kämpfen nahe von Damaskus – so nahe, dass sie in der Hauptstadt zu hören waren. Die Syrer behaupteten, sie hätten einen Angriff der Rebellen zurückgeschlagen. Syrien erklärte darauf, der Waffenstillstand sei beendet, Syriens Feinde hätten ihn gebrochen.
In noch nächtlicher Stunde, am frühen Morgen des 19. Septembers, griffen Kampfflugzeuge einen Konvoi mit 31 Lastwagen an, die Hilfsgüter transportierten. Diese wurden in ein Depot des Syrischen Roten Kreuzes in Urum al-Kubra, einem von den Rebellen beherrschten Ort nahe von Aleppo ausgeladen, als der Angriff erfolgte. Der Konvoi war mit Bewilligung der syrischen Behörden unterwegs. 18 der Lastwagen wurden zerstört, ebenso teilweise das Depot. 20 Zivilisten, Chauffeure und syrische Rotkreuzfreiwillige, wurden getötet. Die Amerikaner erklärten, drei Sukhoi 24 seien über dem Konvoi gesehen worden. Sie gaben den Russen die Schuld an dem Angriff mit der Begründung, die syrische Luftwaffe könne des Nachts nicht zielsicher Bomben abwerfen. Die Russen stritten alles ab und erklärten, es habe sich um einen Raketenangriff gehandelt, der vom Boden ausgegangen sei, nicht aus der Luft. Verantwortlich für den Angriff seien die Rebellen. Da die Hilfsgüter für die Rebellen bestimmt waren, ist dies wenig wahrscheinlich.
Aushungerungstaktiv
Die Hilfslieferungen waren tagelang an der türkischen Grenze blockiert gewesen. Schliesslich erlaubte die syrische Regierung, dass einige von ihnen die Grenze überqueren durften. Ein Konvoi erreichte den Ort Talbisch, nördlich von Homs. Talbisch wird von den Aufständischen gehalten. Der in Urum al-Kubra bombardierte Konvoi hätte Hilfe für 78’000 in Aleppo eingeschlossene Menschen bringen sollen. Da die Syrer in Aleppo offensichtlich eine Aushungerungstaktik betreiben, wie sie es auch in zahlreichen anderen, kleineren Orten tun, war die Bombardierung im Interesse der syrischen Taktik. Welches Interesse die Rebellen an einer Bombardierung des Konvois gehabt hätten, ist nicht ersichtlich.
Unmittelbar nach dem Abbruch des Waffenstillstands am 19. September wurden Teile Aleppos wieder heftig bombardiert. Damaskus sprach von einer neuen Offensive in Aleppo. Das Bustan al-Qasr-Quartier stand teilweise in Flammen. Die Rebellen warfen der Asad-Armee vor, Phosphorbomben einzusetzen. Die Zentren der freiwilligen Retter, die als Weisshelme bekannt sind, wurden gezielt bombardiert. Drei sollen völlig zerstört worden sein, eines funktioniert noch teilweise. Die Zerstörung der Hilfszentren gehört zur gleichen Taktik wie die gezielte Bombardierung der Spitäler. Den Zivilisten auf Seiten der Rebellen soll jede Hoffnung genommen werden, dass sie in der belagerten Stadt überleben könnten. Mit diesem Mittel sollen sie gezwungen werden, sich unter den Schutz und in die Kontrolle der Asad-Kräfte zu begeben, die in den westlichen Stadtteilen herrschen.
Wem nützte der Waffenstillstand?
Wem haben die sieben Tage des teilweise funktionierenden Waffenstillstands genützt? Sicher mehr dem Krieg als dem Frieden. Die Beziehungen zwischen den Russen und den Amerikanern haben sich bedeutend verschlechtert. Beide Seiten erklären die Gegenseite zum Kriegsverbrecher, die Russen die Amerikaner aufgrund der Bombardierung syrischer Armeeteile in Deir az-Zor vom 18. September. Und die Amerikaner die Russen wegen des Angriffs auf den Hilfskonvoi bei Aleppo am Tag danach.
Wichtiger noch, das Vertrauen der sogenannten gemässigten Gruppen in die Amerikaner ist noch mehr erschüttert als es schon vorher war. Das Verhalten der Amerikaner hat gezeigt, dass sie dem Kampf gegen den IS und Nusra den Vorrang geben. Sie waren bereit, eine bedeutende Schwächung des Widerstands gegen Asad hinzunehmen, indem sie die Trennung des „legitimen“ Widerstandes von Ex-Nusra forderten, ungeachtet des Umstandes, dass dies den Widerstand schwächen musste.
Ex-Nusra hat ihrerseits eine Kampagne begonnen, die darauf abzielt, die bisherigen Verbündeten enger an die eigene Gruppe zu binden.
Die USA haben die Initiative verloren
Die Asad-Regierung kann den eigenen Gefolgsleuten erklären, sie habe sich friedenswillig gezeigt. Doch die Amerikaner „mit ihrem Verbündeten, dem IS“ hätten den Waffenstillstand gebrochen. Der Kampf mit allen Mitteln, wie er nun in Aleppo begonnen hat, sei deshalb notwendig und gerechtfertigt. Ähnliches werden die Russen ihrer eigenen Bevölkerung und – mit ihren Propagandamitteln – dem Ausland erklären. Die russische „Friedensdiplomatie“ muss als ein Mittel gesehen werden, den Krieg und die Kriegsziele Russlands und Asads zu fördern, indem man sie auch diplomatisch abstützt. Die Amerikaner gehen darauf ein, „faute de mieux“. Da sie in Syrien nicht direkt eingreifen wollen und da ihre Versuche „gemässigte“ Widerstandskämpfer gegen Asad zu finden und einzusetzen, mehrmals kläglich gescheitert sind, geben sie vor, auf einen diplomatischen Frieden zu hoffen. Dies dient zur Verschleierung der unschönen Tatsache, dass Washington, im Gegensatz zu den Russen, in Syrien die Initiative verloren hat und sich von den Ereignissen treiben lässt.
Nach dem Zusammenbruch des Waffenstillstandes hat der russische Aussenminister Sergei Lawrow in New York bestätigt, der Schlüssel des Waffenstillstandes sei, die gemässigten Rebellen von den „militanten“ zu trennen. „Leider“, so sagte er, „war die Koalition, die von den USA angeführt wird, nicht fähig, dies zu bewirken.“ Kerry habe klargestellt, dass Washington dieses Ziel weiterhin anstrebe. Lawrow erklärte auch, wenn die Aufenthaltsorte der Nusra-Front genau festgelegt werden könnten, dann wäre ein Waffenstillstand und Hilfsleistungen möglich. Kerry beschränkte sich darauf zu erklären: „Wir sind im Begriff, einige gemeinsame Ideen konstruktiv zu beraten. Nichts weiter.“