Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat, in einer provisorischen Reaktion auf den Versuch Südafrikas, Israel wegen Genozids anzuklagen, eine eher unklare Formulierung gewählt: Die israelische Armee wird aufgerufen, die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen «besser zu schützen», aber das Verdikt enthält keinen Hinweis darauf, dass die Kampfhandlungen beendet oder zumindest unterbrochen werden müssten.
Sie enthält übrigens, was Israel und westliche Regierungen erwartet haben, keine Ermahnung an Hamas, die seit mehr als hundert Tagen in den Verliesen der Terror-Organisation im Gaza-Streifen festgehaltenen Geiseln freizulassen.
Tut Israel das Möglichste zur Begrenzung der Opferzahlen?
Die israelische Regierung konterte mit dem Hinweis, sie tue bereits ihr Möglichstes, um die Zahl ziviler Opfer bei der Bevölkerung so klein wie möglich zu halten. Stimmt das? Mussten tatsächlich schon mehr als 26’000 Palästinenserinnen und Palästinenser (davon gemäss Schätzungen von humanitären Organisationen über 10’000 Kinder) bei den Attacken gegen Hamas sterben? Da äussern Mitarbeiter der NGOs und auch die wenigen noch im Gaza-Streifen aktiven Journalisten Zweifel. Umso mehr, als durch die Bombardierungen und die Bodenkämpfe nicht eine einzige der mehr als 130 Geiseln gefunden oder befreit werden konnte.
Israels politische und militärische Führung aber bleibt dabei: Es gäbe keine Alternative zu ihrem Vorgehen, und wenn schon die ungeheuerliche Beschuldigung von Völkermord in die Debatte geworfen werde, dann sollte einzig Hamas wegen der Attacke vom 7. Oktober mit 1200 Todesopfern und der Entführung der Geiseln an den Pranger gestellt werden, argumentiert sie.
Krieg der Worte und Argumente
Der blutige Krieg im Gaza-Streifen mit seinen 2,2 Millionen Menschen wird, je länger desto erbitterter, auch zu einem Krieg der Worte und der Argumente. Was ist notwendig, was allenfalls nicht, um Hamas im Kern zu treffen und die Geiseln frei zu bekommen? Oder anders gefragt: Wer ist überhaupt imstande, die Lage vor Ort unparteiisch zu beurteilen? Es sind oder wären die Mitarbeiter der humanitären Organisationen und jene der Medien. Eigentlich. Doch Tatsache ist: die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) ist aufgrund einer israelischen Anschuldigung ins Zwielicht geraten und kämpft nun um die Glaubwürdigkeit.
Der Vorwurf ist massiv: Zwölf UNRWA-Mitarbeiter hätten an der Hamas-Massenmord-Attacke vom 7. Oktober teilgenommen. Ob das zutrifft oder nicht, lässt der Direktor der UNRWA der Schweizer Philippe Lazzarini, nun untersuchen. Die USA, Australien, Grossbritannien und andere Länder aber haben bereits aufgrund der israelischen Vorwürfe die Finanzhilfe für das Flüchtlings-Hilfswerk eingefroren. Die Schweiz reduzierte ihren Beitrag schon vorher von 20 auf 10 Millionen.
Wenn die UNRWA ins Zwielicht gerät, werden auch die Berichte ihrer Mitarbeiter vor Ort, aus den Trümmern des Gaza-Streifens, nicht mehr als verlässlich betrachtet. Welche Instanz bleibt dann noch, um auch nur einigermassen glaubwürdig aus und über das zu berichten, was der Krieg anrichtet, wer kann überprüfen, ob Israel die Forderung des Internationalen Gerichtshofs befolgt oder nicht? Antwort: die Medien.
Prekäre Situation für die Medien
Doch im Gaza-Gebiet sind nur noch wenige Reporterinnen und Reporter aktiv – 83 kamen seit dem 7. Oktober ums Leben. Einige der weiterhin unter dem Bombenhagel arbeitenden Journalisten sind freiberuflich für arabische oder westliche Medien tätig, scheinen aber kurz vor dem Ende ihrer Kräfte zu sein. Der für die deutsche ARD arbeitende Berichterstatter ersucht schon seit zwei Monaten, aus Angst auch um die eigene Familie, um die Erlaubnis zur Ausreise – die israelischen Behörden aber verweigern sie.
Al-Jazeera-Kommentare sind nicht neutral
Die Mehrzahl jener, die ungeachtet ständiger Lebensgefahr aus dem Kriegsgebiet berichten, liefern ihre Beiträge an den TV-Sender Al-Jazeera. Von dessen Zentrale in Qatar aus werden sie dann entweder direkt ausgestrahlt oder von anderen Sendern, auch in Europa, übernommen. Was wiederum zur Frage der Glaubwürdigkeit führt: Wie verlässlich ist das, was so auch in unsere Wohnzimmer gelangt?
Die Antwort ist ebenso einfach wie schwierig: Was das Optische betrifft, die Trümmer, die zu Fuss oder mit Eselskarren von einem Ort im Gaza-Streifen zum anderen Flüchtenden, das tägliche Elend, all das ist authentisch. Verfolgt man den Sender Al-Jazeera im Original, erkennt man anderseits: Die Empathie der Journalisten liegt – das geht aus den Kommentaren hervor – auf der Seite der Palästinenser, ist hart Israel-kritisch und was Hamas betrifft, wahrt Al-Jazeera in der Wortwahl wenig Distanz.
Israelische Zensur für ausländische Berichte
Auf der anderen Seite: Wie steht es denn um die Glaubwürdigkeit der westlichen TV- und Radiosender? Das Recherche-Medium «The Intercept» wies nach, dass die Journalistinnen und Journalisten des US-amerikanischen Nachrichtensenders CNN das, was sie von ihrem Studio in Israel aus übermitteln (also auch Clips oder Reportageteile, die ursprünglich von Al-Jazeera stammen), der israelischen Zensurbehörde vorlegen. Das Resultat: Nichts, was das Militär Israels als schädlich für sein Image betrachtet, wird veröffentlicht. Und nicht nur die für CNN tätigen Journalisten müssen sich, wenn sie aus einem Studio in Israel ihre Beiträge übermitteln, mit den staatlichen Instanzen Israels arrangieren: Das gilt auch für alle anderen ausländischen Berichterstatter. Weigern sie sich, wird ihnen die Akkreditierung entzogen.
Resultat: Wir erhalten über die uns zur Verfügung stehenden TV-Kanäle nur gefilterte Informationen. Sie sind wohl nie «falsch», aber sie verschleiern möglicherweise einen Teil der Wahrheit.
Sollte Sie, liebe Leserin, lieber Leser von Journal21 das nun empören oder irritieren, darf ich Ihnen aus alter journalistischer Erfahrung mitteilen, dass die Situation früher, vor dem 7. Oktober und dem Beginn des Gaza-Kriegs, grundsätzlich nicht anders war. Es gab für ausländische Reporter schon früher eine Zensur, aber sie war eher ein kleines Ärgernis als Grund zu echter Besorgnis.
Kontrolle von Medienberichten nicht neu
Zum Beispiel: Ich realisierte einmal im Westjordanland am Tag von Hochspannung einen TV-Beitrag. Es gab Konfrontationen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften. Rein zufällig nahm die Kamera meines Mitarbeiters dies auf: Aus einem Privat-Auto stiegen zwei oder drei Soldaten in Uniform und händigten Gewehre an Männer in Zivil aus. Die begaben sich dann ins lokale Konfrontations-Gebiet. Als Reporter fand ich das nicht nur eigenartig, sondern irritierend – und als ich im Studio in Jerusalem (Capital Studio hiess das damals) das Kollegen der BBC und eines französischen Senders zeigte, sagten sie: Sensation, das beweist, dass das Militär sich illegal verhält.
Dann aber meldete sich der «Editor», Angestellter von Capital Studio, zu Wort: Diese Szene wird gelöscht, sagte er. Warum? Weil da eine Aktivität von Leuten des Shin-Bet, des israelischen Inland-Geheimdienstes, dokumentiert wurde und weil das private Capital Studio einen Vertrag mit der Regierung habe, solche Aktivitäten nicht zu verwenden. Punkt.
Wie sollen die Auflagen des Haager Gerichtshofes überprüft werden?
Das ist ein Beispiel dafür, dass es in Israel Zensur auch schon lange vor dem Gaza-Krieg gegeben hat. Und wie schwierig es immer wieder war und weiterhin ist, wirklich offen über den Nahost-Konflikt zu berichten. Aber auch, wie sehr der Berichterstattung über das, was jetzt im Krieg wichtig ist, Grenzen gesetzt werden. Was dazu führt, dass das, was im Verdikt des Internationalen Gerichtshofs gefordert wird, nämlich die Minderung des Leids für die Zivilbevölkerung, an Ort und Stelle kaum überprüft werden kann. Weil es keine Möglichkeit für unabhängigen Journalismus gibt und weil die wichtigste humanitäre Organisation im Konfliktgebiet, die UNRWA, ein Glaubwürdigkeitsproblem hat.