Die ältere Frau, die an diesem sonnigen Herbstnachmittag bei der Metro-Station Puschkinskaja in Charkiw an einem niedrigen Tisch Erd- und Baumnusskerne anbietet, ist nicht gut auf die heutigen Zustände in der Ukraine zu sprechen. Natürlich sei zur Zeit der Sowjetunion das Leben besser gewesen. Damals habe man einfach solider gelebt. Man habe sich an die eigenen Produkte gehalten, von den Kleidern bis zu den Nahrungsmitteln. Heute sei ja alles importiert und teuer. Auch wenn die nostalgischen Erinnerungen der Frau an die Verhältnisse in ihren jüngeren Jahre nicht ganz unverständlich sind –zuverlässig können sie nicht sein.
Wer etwa über die Lebensmittelversorgung vor dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion im Jahre 1991 näher Bescheid weiss, wird die Behauptungen der Charkiwer Strassenverkäuferin schwerlich für bare Münze nehmen. Und es ist kaum anzunehmen, dass viele unter den mehrheitlich modisch gekleideten jüngeren Leuten, die auf der Puschkin-Strasse entlang den zahlreichen Geschäften mit ausländischen Markenprodukten flanieren, sich unbedingt nach sowjetischen Zuständen und seinem dürftigen Konsumangebot zurücksehnen.
Lenin auf dem Freiheitsplatz
Charkiw (russisch Charkow) liegt im Osten der Ukraine und ist mit 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrösste Stadt des Landes. Hier sprechen die Menschen untereinander praktisch nur russisch. Aber immerhin sind alle öffentlichen Hinweise in ukrainischer Sprache angeschrieben, auch in der effizient funktionierenden U-Bahn. Ukrainisch ist seit der Unabhängigkeit die einzige offizielle Landessprache. Allerdings ist das Russische überall sehr stark präsent und in einigen Regionen – unter anderem auf der Krim – wird sie auch als Amtssprache anerkannt. Neuerdings wird über einen Vorschlag diskutiert, neben dem Ukrainischen auch das Russische und zugleich das Englische als offizielle Sprachen anzuerkennen.
Von 1918 bis 1934 war Charkiw sogar die Hauptstadt der Sowjetukraine – unter anderem deswegen, weil die Machtverhältnisse in Kiew während der Wirren im Ersten Weltkrieg und der bolschewistischen Oktoberrevolution noch länger nicht geklärt waren. Aber die zeitweise Verlegung der ukrainischen Hauptstadt nach Charkiw könnte auch mit einer gewissen Rivalität zu tun gehabt haben, die man in Moskau gegenüber dem älteren Kiew – der Wiege der orthodoxen Kirche und der ostslawischen Staatenbildung – empfand. Zu den Wahrzeichen Charkiws gehört der riesige Freiheitsplatz, der paradoxerweise immer noch von einer Statue des sowjetischen Gründervaters Lenin im wehenden Mantel dominiert wird. Aber niemand scheint sich an diesem Widerspruch zwischen Freiheitsbeschwörung und der Ikone der Sowjetdiktatur zu stossen. Man habe sich mit solchen Paradoxa eingerichtet, meint Jewgeni Sacharow, der Leiter einer örtlichen Menschenrechtsgruppe, nachsichtig.
Dass der grösste Teil der Bevölkerung in den Grosstädten Kiew und Charkiw es sich bei weitem nicht leisten kann, in den teuren und begehrten Apartments im Zentrum zu wohnen oder sich in den in der Hauptstadt entstandenen schicken Shoppingcenters mit Luxusgütern einzudecken, lehrt etwa ein sonntäglicher Besuch auf dem Zentralmarkt in Charkiw. Dort kann man durch ein endloses Labyrinth von Buden und Verkaufsständen streifen, wo es praktisch alles zu kaufen gibt, was für das tägliche Leben gebraucht wird und was emsige Händler aus chinesischen oder andern Billigmärkten herangeschleppt haben – von Wollmützen über Handy-Ersatzteile und Toilettenrohren bis zu kleinen Katzen und Hunden. Auch das kleine Abenteuer einer Fahrt in der voll gestopften Marschrutka (private Minibusse) von den U-Bahn-Endstationen in die weitläufigen Kiewer Vororte mit ihren gesichtslosen Plattenbauten lässt das Gefälle zwischen dem mondän gewordenen Glanz der Innenstadt und dem materiellen Lebensniveau einfacher Bürger krass hervortreten.
Luxus-Geländewagen und das Stichwort Korruption
Was allerdings die unglaublich dichte Präsenz ebenso teurer wie mächtiger Luxus-Geländewagen betrifft, so könnten Kiew und Charkiw westlichen Städten wie Zürich oder Berlin problemlos den Rang ablaufen. Auf die Frage, wo denn in der als vergleichsweise arm geltenden Ukraine das Geld für solche kostspieligen Status-Symbole herkomme, hat mein Begleiter in Kiew nur ein müdes Lächeln übrig. Das Stichwort Korruption muss er gar nicht mehr aussprechen, er hat es in unseren vorhergehenden Gesprächen schon so oft zur Erklärung aller möglichen Phänomene erwähnt, die dem Besucher ins Auge gestochen sind.
Auch in Politik fehlt es der Ukraine – flächenmässig das grössten Land Europas, das ganz zu diesem Kontinent gehört, 45 Millionen Einwohner – nicht an erstaunlichen Entwicklungen. Seit dem Februar dieses Jahres ist in Kiew ein Präsident an der Macht, den man noch vor einigen Jahren kaum ein solches Comeback zugetraut hätte. Wiktor Janukowitsch schien nach dem spektakulären Erfolg der so genannten „orangen Revolution“ gegen seine von der alten Machtelite 2004 manipulierten Wahl zum Staatschef politisch am Ende zu sein. Doch im Februar 2010 hat er die Stichwahl gegen Julia Timoschenko mit 49 gegen 46 Prozent Stimmenanteil gewonnen – die Proteste und Einsprachen der Verliererin blieben erfolglos.
Seither haben Janukowitsch und seine Partei der Regionen die politische Macht in der Ukraine in einem Ausmass und einem Tempo ausgebaut, die alle Beobachter verblüfft. Allerdings sind die Führer des ehemaligen „orangen“ Lagers für ihre Niederlage und das praktische Auseinanderfallen ihres einst mit so vielen Hoffnungen verknüpften Bündnisses in erster Linie selbst verantwortlich. Wiktor Juschtschenko, Held der „orangen“ Bewegung, und seine Koalitionspartnerin Julia Timoschenko brachten nicht die Grösse auf, über die Schatten ihrer persönlichen Eifersüchteleien zu springen und im Interesse einer glaubwürdigen Reformpolitik konsequent am gleichen Stick zu ziehen. Hätten sie das vollbracht, sässe der bullige Janukowitsch, der zweifelsohne auch der Wunschkandidat der Machtelite im benachbarten Russland ist, heute nicht auf dem Kiewer Präsidentenstuhl.
Zu den Folgen dieser politischen Wende gehört, dass das seit der ukrainischen Unabhängigkeit vor bald zwei Jahrzehnten häufig von Reibereien und Rankünen belastete Verhältnis zwischen Kiew und Moskau merklich entspannter geworden ist. So ist unter Präsident Janukowitsch ohne öffentliche Diskussion ein Abkommen unterzeichnet worden, das die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol bis 2042 zulässt. Gemäss den vorherigen Vereinbarungen war das nur bis 2017 garantiert gewesen. Begründet wurde dieser Schritt mit Preisnachlässgen bei den russischen Erdgaslieferungen an die Ukraine – eine Konzession, deren Bedeutung umstritten ist.
Restauration der alten Verfassung
Politisch ungleich bedenklicher ist die vom ukrainischen Verfassungsgericht am 1. Oktober dieses Jahres mit 18 gegen 17 Stimmen (wegen angeblicher Verfahrensmängel) beschlossene Ungültigkeitserklärung der 2005 verabschiedeten neuen Verfassung und die Inkraftsetzung der früheren (unter dem damaligen Präsidenten Kutschma durchgesetzten ) Verfassung von 1996. Zweck dieses dubiosen Manövers ist offenkundig eine neue dominante Machtbefugnis des Präsidenten gegenüber dem Parlament. Die nach dem Erfolg der „orangen Revolution“ im Sinne eines Kompromisses mit den unterlegenen Parteien beschlossenen Verfassungsänderungen von 2005 wiesen zwar manche Unklarheiten auf, sodass Klärungen als durchaus wünschenswert erschienen. Doch statt differenzierter parlamentarischer Verhandlungen über deren Inhalt ist nun im Hauruckverfahren pauschal die alte Kutschma-Verfassung wieder in Kraft gesetzt worden. Das gleicht ominös dem Muster einer „gelenkten Demokratie“ wie es in Russland in der Ära Putin-Medwedew praktiziert wird.
Dem tragischem Thema des Holodomor – der von Stalin provozierten Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33, bei der laut Fachleuten zwischen 3 und 4,8 Millionen Menschen in der Ukraine gestorben sind – werde unter Präsident Janukowitsch aus politisch durchsichtigen Gründen deutlich weniger Relevanz beigemessen zu werden als unter dessen Vorgänger Juschtschenko, erklärte mir ein Kollege in Kiew. Es sei deshalb ratsam, im Zusammenhang mit meinen Recherche-Plänen in einem staatlichen Archiv das Stichwort Holodomor nicht fallen zu lassen. Das könnte den Zugang zu interessierenden Dokumenten nur unnötig erschweren oder verunmöglichen.
Ob das ein gewichtiger Rat war, bleibt ungeklärt. In Kiew konnte ich eine umfangreiche Akte, in der auch politische Bezüge zu den Ereignissen der dreissiger Jahre eine gewisse Rolle spielen, ungestört einsehen. In Charkiw dagegen wurde mir der Archivzugang in der gleichen Angelegenheit verwehrt - mit Verweis auf meinen Status als Ausländer. Es scheint also in Sachen Archivzugang und Vergangenheitserforschung unter dem Janukowitsch-Regime noch keine einheitliche Praxis zu geben. Zumindest weiss die linke Hand offenbar nicht immer, was die rechte tut.
Es wäre grundfalsch, wenn der Westen und insbesondere die EU aus Enttäuschung über die jüngsten Entwicklungen eine gleichgültige oder gar resignierte Haltung gegenüber der Ukraine einnehmen würde. Die Entstehung einer unabhängigen Ukraine und ihre politische Konsolidierung während der letzten zwei Jahrzehnte muss man immer noch als eine Art politisches Wunder einstufen, mit dem zuvor niemand ernsthaft gerechnet hatte.
Zeichen der Empathie für ferne Nachbarn
Strategische Köpfe wie Zbigniew Brzezinsky und Henry Kissinger haben nach der Auflösung der Sowjetunion immer mit besonderem Nachdruck gemahnt, die unabhängige Ukraine zu unterstützen und ihre langfristige Anbindung an westliche Kooperationssysteme zu fördern. Solange das grosse „Grenzland“ (Ukraine) ein eigenständiger Staat bleibe, werde Russland auch nicht mehr zum früheren Status einer dominierenden Supermacht zurückkehren können. In unideologischer Perspektiv betrachtet liegt die gedeihliche Entwicklung einer unabhängigen Ukraine deshalb im wohlverstandenen Interesse sowohl der ukrainischen als auch der russischen und der westlichen Bürger.
Eine volle Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato ist seit dem Machtwechsel im Februar in Kiew kein Thema mehr. Sie war schon zuvor keine sinnvolle Option, weil das die ukrainische Bevölkerung nur zusätzlich polarisiert und das stets empfindliche Verhältnis Kiews zu Moskau unnötig belastet hätte. Wesentlich konstruktiver für alle Seiten dürfte sich eine kontinuierliche gegenseitige Annäherung zwischen EU und der Ukraine auswirken. Daran ist wohl auch das neue Janukowitsch-Regime im Prinzip interessiert - trotz allen Affinitäten zum grossen Nachbarn im Osten. Europa sollte als ein Zeichen seines Interesses und der Empathie gegenüber den Ukrainern zumindest überlegen, ob es die ukrainische Visa-Freiheit für Reisende aus den Schengen Staaten nicht seinerseits mit einem grosszügigeren Visa-Regime für die ukrainischen Bürger belohnen könnte.