Dies war der grösste türkische Verlust an einem einzigen Tag seit vielen Jahren. Am Tage zuvor hatte eine Bombenexplosion auf einer Strasse fünf Soldaten und drei Zivilpersonen das Leben gekostet, die in einem Buss unterwegs waren. Darunter war ein zweijähriges Kind.
Die türkische Armee hat sofort mit Gegenschlägen auf irakischem Territorium geantwortet. Es hiess, Truppen hätten die Grenze überschritten und seien zunächst vier Kilometer in den Irak vorgedrungen: Beschiessungen aus Flugzeugen und Artillerie begannen. Aufklärungsdrohnen amerikanischer Herkunft, da die bisher verwendeten aus Israel nicht mehr aktiv sind, befinden sich permanent über der Grenz- und Gebirgszone zwischen der Türkei und dem Irak.
Übereinkünfte mit den irakischen Kurden
Schon zuvor waren die irakische Kurdenregierung und die Türkei überein gekommen, dass die Dörfer und Flüchtlingslager der irakischen Kurden, die in der Nähe der Basen der PKK in den irakischen Kurdenbergen liegen, evakuiert werden sollten. Dadurch soll die Gefahr verringert werden, dass irakische Kurden den gegen die PKK gerichteten Bombardierungen durch die Türkei zum Opfer fallen.
Mit diesen blutigen Konfrontationen, die wohl erst in den Anfängen stehen, droht die Kurdenpolitik der Erdogan Regierung zu scheitern. Sie hatte darauf abgezielt, die Kurden in das demokratische Spiel einzubeziehen. Doch war diese Politik seit den Wahlen vom vergangenen Juni immer mehr in Frage gestellt worden.
Suche nach den Ursachen
Die Ursachen dafür sind komplex, und die verschiedenen Beobachter beurteilen sie sehr unterschiedlich, weil sie Erdogan unterschiedliche Absichten unterstellen. Manche glauben, er habe das Kurdenproblem nie wirklich anpacken, sondern nur "managen" wollen. Das heisst so behandeln, dass es seinem Regime möglichst wenig Schaden bringt. Andere glauben, er habe nach wirklichen Lösungen gesucht, doch die Kurden hätten Forderungen gestellt, die er schlechthin nicht erfüllen konnte.
Gewiss ist, dass es ausführliche Kontakte gegeben hat, nicht nur zu der legalen kurdischen Partei BDP (Friedens- und Demokratie Partei), sondern auch zum gefangenen und zum Tode verurteilten Gründer der PKK, Abdullah Öcalan.
Immer neue Zwischenfälle an der Grenze
Doch die Kämpfer der PKK in den irakischen Kandil Bergen haben ihre Grenzüberfälle nie aufgegeben, und dies hat zweifellos mitbewirkt, dass die legale Kurdenpartei, die erwähnte BDP, zwar bei den Wahlen mitwirken konnte, aber dann trotz bedeutenden Wahlerfolgen, ihre errungenen Sitze nicht einnahm. Die Partei hat sich nie völlig von den "Terroristen" der PKK losgesagt.
Auf der Ebene ihrer einfachen Mitglieder geniessen die PKK Kämpfer, als Kämpfer für die kurdische Sache, nach wie vor ein grosses Prestige, gegen das die Parteichefs nicht angehen können - oder nicht angehen wollen. Dies trägt ihnen von Seiten der türkischen Politiker, besonders natürlich der Nationalisten, der Militärs und auch oftmals der Staatsanwälte und Richter den Vorwurf ein, sie seien in Wirklichkeit keine demokratische Partei, sondern bloss ein legales Gewand für die illegalen Terroristen.
Gewählte Politiker vor dem Richter
In der Türkei gibt es eine 10-Prozent-Hürde, der entsprechend eine nationale Partei in allen Provinzen der Türkei mindestens 10 Prozent der Stimmen erhalten muss, um als Partei ins Parlament einziehen zu können. Dies zwingt die Leute der BDP, nicht im Rahmen ihrer Partei, sondern nur als parteilose Einzelkämpfer in die Wahlen zu ziehen. In den kurdischen Provinzen des Ostens kommt die kurdische Partei leicht über diese Hürde hinweg. Doch in den rein türkischen der türkischen Provinzen ist ihr das unmöglich.
Unter den angesehensten Politikern der Kurdenpartei hatte Hatip Dicle ein Parlamentsmandat errungen. Doch der Staatsanwalt in Diarbakir, der grössten Kurdenstadt der Türkei, verklagte ihn und andere Politiker der legalen Kurdenpartei der heimlichen Zugehörigkeit zur PKK. Er und seine 150 Mitangeklagten, unter denen sich auch der gewählte Bürgermeister der Millionenstadt Diarbakir befindet, wollen sich auf kurdisch verteidigen. Doch der Richter will dies nicht zulassen, und der Prozess ist blockiert. Einige der Angeklagten befinden sich seit 18 Monaten im Gefängnis.
Die anderen gewählten Abgeordneten der DBP haben beschlossen, aus Solidarität mit den Angeklagten ihrer Partei, die sich nicht in ihrer Muttersprache verteidigen dürfen, ihre Sitze im Parlament nicht einzunehmen.
Ein Arm der PKK in den Städten?
Ein weiterer Streit entstand um eine neue Kurdenpartei, die sich KCU nennt, was sinngemäss bedeutet: Union für eine Kurdische Gemeinschaft. Die Behörden klagen sie an, eine direkte Fortsetzung der PKK zu sein, welche die Aufgabe habe, in den städtischen Gebieten der Türkei für die kurdischen Separatisten zu werben und zu agitieren.
Weil wegen der Zerstörung der kurdischen Dörfer durch die türkische Armee im Kampf gegen die PKK während der 90 er Jahre grosse Massen von Kurden gezwungen worden sind, in die Grossstädte des türkischen Westens auszuwandern und seither dort in ausgedehnten Elendsvierteln ihr Leben fristen - besonders in Ankara und in Istanbul - ist die Agitation unter den Kurden der Städte heute eine neue und gefährliche Aktionsmöglichkeit für die PKK.
Erneut politische Gefangene
Die KCU wurde verboten und zahlreiche ihrer mutmasslichen Anhänger festgenommen und vor Gericht gestellt. Zu den sofortigen Reaktionen auf die Angriffe der PKK in den letzten Tagen gehörte, neben den Gegenschlägen der Armee, die Gefangennahme von 40 mutmasslichen Angehörigen der KCU. Die Gefahr, dass solche Gefangene nach wie vor misshandelt werden, ist gross.
Die immer noch legale BDP hat Ende September einen Kongress in Diarbakir abgehalten. Dort sprach der zweite Vorsitzende der Partei, Selahettin Demirtash, von "Minen", welche vom Weg der Versöhnung mit den Kurden weggeräumt werden müssten, bevor die Aussöhnung mit der Regierung stattfinden könne.
Solche Minen seien gegeben durch die Einschränkungen der Meinungsfreiheit der Kurden; die Hindernisse gesetzgeberischer Natur; die Behinderungen, um Parteien zu bilden; die 10-Prozent-Hürde. Wenn diese Minen nicht weggeräumt würden, "kann die Regierung weder die PKK noch uns von ihren guten Absichten überzeugen. Die Regierung sollte das Vertrauen von Allen gewinnen. Wir klagen die Regierung an, das Gegenteil davon zu tun!"
Fortgesetzter Boykott des Parlamentes
Der Kongress beschloss nicht, wie von manchen Beobachtern erhofft und erwartet worden war, dass die kurdischen Abgeordneten im Parlament ihre Sitze einnehmen sollten. - Dieses Parlament wird auch über den Wortlaut einer neuen Verfassung zu beraten haben. Wenn die Sprecher der Kurden dort fehlen, werden ihre Anliegen in dem Verfassungstext einmal mehr unberücksichtigt bleiben.
Auf der Regierungsseite ist trotz des immer energischen Auftretens Erdogans eine gewisse Unsicherheit darüber zu bemerken, wie die Kurdenfrage weiter angepackt werden soll. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Kräften der Armee, die im vergangenen August einen Höhepunkt erreichte, aber mit dem Fortdauern der Prozesse gegen mutmassliche Verschwörungen von Armeeoffizieren noch immer nicht gänzlich beseitigt ist, hatte Erdogan Pläne formuliert, in Zukunft den Kurdenkrieg nicht mehr ausschliesslich den Streitkräften und ihren Generälen zu überlassen, sondern auch Sondereinheiten der Polizei und Gendarmerie dafür auszubilden und einzusetzen.
Die Grenzen militärischer Einsätze
Dies ging mit einer wachsenden Zahl politisch Interessierter einher, die fragten, ob es überhaupt möglich sei, die Kurdenfrage mit militärischen Mitteln zu lösen. Es handelt sich schliesslich um gegen 15 Millionen Menschen, die durch Gewaltmassnahmen immer mehr Alle in die Ecke der Opposition zusammengedrängt werden.
Doch die politischen Mittel, die bisher - eher zaghaft - eingesetzt wurden, scheinen ziemlich wirkungslos geblieben zu sein. Die Geister scheiden sich: Weil die Regierung sich zu konziliant und gleichzeitig zu inkonsistent erwiesen hatte, kritisieren die einen; weil sie es nicht wagte, genügend grosszügige Konzessionen zu machen, die anderen.
Autonomie als das Ziel der Kurden
Doch wie weit Ankara gehen müsste, um die türkische Kurdenfrage aus der Welt zu schaffen, ist ebenfalls unklar. Es sieht so aus, als ob die Kurden, auch die Friedens- und Demokratiewilligen (nach dem Namen ihrer Partei zu urteilen), sich heute nicht mehr allein mit einer vollen Gleichberechtigung der Kurden gegenüber den Türken begnügen würden. Ein Postulat, das theoretisch von der Regierung bejaht wird, doch in der Praxis noch lange nicht als erreicht gelten kann. Wie die oben erwähnten "Minen" auf dem Weg der Versöhnung es zeigen.
Die friedenswilligen Kurden fordern im Grunde wohl Autonomie für die Kurden, wobei noch auszuhandeln wäre, wie weit diese gehen müsste und könnte. Doch Autonomie - das glaubt Erdogan wahrscheinlich zu recht - kann weder seinen Militärs, noch seiner nationalistischen Opposition zugemutet werden. Sie liesse sich wohl nicht einmal seinen eigenen Parteimitgliedern vermitteln, besonders nicht jenen auf dem konservativeren Flügel der AK Partei.
Auf die Mitarbeit der nationalistischen Opposition aber, die sich in der zweiten Partei des Landes zusammenfindet, in der Republikanischen Volkspartei Atatürks (CHP), und darüber hinaus in der ultra-nationalistischen dritten Partei der Türkei, der MHP (Partei der Nationalen Bewegung), ist Erdogan für die Verwirklichung seiner Verfassungspläne angewiesen. Ohne sie kann er die dazu nötige absolute Mehrheit im Parlament nicht erreichen.