Das „Album“ ist schon rein optisch ein Kunstwerk. Gestaltet von Enzensbergers altem Freund und Mitarbeiter Franz Greno kommt es ohne Paginierung aus; Leser und Leserin werden Seite für Seite mit je anderer Typografie, mit stilistisch ganz verschiedenen Layouts, mit Illustrationen, Zeichen, Bilderrätseln konfrontiert. Eine Wundertüte. Ein wildes Durcheinander, das genau dem literarischen Konzept entspricht.
Am Anfang und am Schluss des Buchs finden wir die grafisch verfremdete Tomografie des Hirns des Autors. Enzensberger nennt es „Vorratskammer“. Der Inhalt dieser Vorratskammer macht das Buch aus. Genauer: ein Teil dessen, was dem Autor durch den Kopf geschossen ist, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, hat er transparent gemacht, aufgezeichnet, gesucht und gefunden, kopiert, aneinandergereiht. Und noch genauer: Das Hirnmaterial wird nicht in seiner originalen Form, also fragmentarisch, nur bedingt artikuliert und geformt präsentiert, sondern „literarisiert“. Das trifft auf die Fundstücke (Eigen- und Fremdzitate aus Zeitschriften und Büchern) naturgemäss zu, aber es gilt auch für die vom Autor eigens für das „Album“ konzipierten Texte.
Gelobt sei das Allerlei
Trotzdem kommt das Buch der Idee einer transparenten Hirnvorratskammer nahe. Es repräsentiert das „Allerlei, das uns durch den Kopf geht“, wie es einmal im Buch heisst. In diesem Allerlei hat die Philosophie ebenso Platz wie die französische Aufklärung, Kinder und Spiele so gut wie Kuriositäten, Politik natürlich, Satire, Lyrik, Schalk, Witz und Ironie, Biologie und Mathematik, Geschichten, Gerede, Listen von allem und jedem, Wortfelder aus denen sich, vielleicht, Gedanken und später Argumente schöpfen und zimmern lassen.
Es wird nicht gewertet in dieser Vorratskammer. Die Dinge, die Sprachkörper stehen nebeneinander, manchmal kann man eine gewisse Methodik oder Logik erkennen, manchmal ein assoziatives Prinzip und dann wieder wird der blosse Zufall am Werk gewesen sein. Nicht alles, was wir zu lesen bekommen, verfügt über die gleiche Qualität. Reimereien können zu eher dürftigen Kalauern verkommen, einige der üppig eingestreuten Aphorismen verdienen diesen Namen nicht wirklich und den ins Absurde getriebenen Gedankenspielen mag man nicht immer bis in die letzte Konsequenz folgen. Aber das gehört zum Projekt und macht auch seinen Reiz aus: dass eben ungefiltert produziert und veräussert wird, dass die Vorratskammer nach Lust und Laune gefüllt, nicht organisiert wird und dass sich schliesslich jeder Leser nach Gusto bedienen kann.
Mit der (diebischen) Elster fängt das „Album“ an, der Elster, die mit allem, was sie findet, ihr Nest schmückt, dabei fremde Federn, überhaupt fremdes (Gedanken)gut nicht verschmäht und sich mit Vorliebe auf Glitzerndes konzentriert, egal ob es sich um „Strass oder Diamant“ handelt: ein stimmiges Gleichnis für die Absichten des Autors. Mit einer „Meditation über alles, was weiss ist“ beschliesst er sein Buch. Da erleben wir, fulminant, Enzensberger at his best. Da kommt er uns als ebenso brillanter wie behender und stupender Gedankenfabrikant entgegen. In bester Essay-Tradition führt der Text nirgendwohin, aber er wirbelt unterwegs genügend Gedankenstaub auf, um die verschiedensten Hirnvorratskammern mit Material zu versorgen.
Misserfolge, Nieten und andere Erleuchtungen
Wenn es etwas gibt, an dem es Enzensberger gewiss nie gefehlt hat, dann ein sehr gerüttelt Mass an Selbstbewusstsein. Und so kann es einen auch nicht erstaunen, wenn er schon in der „Prämisse“ zu seinen gesammelten oder ausgewählten Flops, diesen Misserfolgen in der Rückschau einiges Amüsement und sogar veritable Erleuchtung abgewinnen kann. Bevor er uns genüsslich darlegt, was da für Perlen an Säue verfüttert wurden und uns, charmant und eloquent wie eh und je, zu Komplizen seiner ehrenvollen Niederlagen im geistlosen Magma der Kulturindustrie macht, ruft er Schriftstellerkollegen zu, es ihm gleich zu tun und endlich mal rauszurücken mit all dem, was nicht so gut gelaufen ist.
Die Kino- Opern-, Theaterflops, die literarischen oder verlegerischen Pleiten werden dann knapp dokumentiert, wobei es natürlich dem Autor ( fast immer zu Recht ) nie in den Sinn käme, so etwas wie mangelnde Qualität am Scheitern des einen oder anderen Projekts verantwortlich zu machen. Schuld ist oft der Kulturbetrieb, der sich lieber kulturfernen Gesetzen beugt, als sich der wirklich relevanten Angebote anzunehmen. Wer wüsste das nicht? Manchmal ist es auch bloss das unberechenbare Schicksal, das hier einen einflussreichen Gönner im falschen Moment aussteigen oder sterben lässt und dort nur eine „unüberhörbare“ Stille statt lauten Applaus als Reaktion auf ein Divertimento produziert. Elegant, ironisch und selbstironisch zeigt Enzensberger seine Flops her – und er tut noch mehr, liefert dem Leser bereitwillig Unterlagen, Dialogfragmente, Zusammenfassungen, so dass jeder selber beurteilen kann, was da als Niete untergegangen ist, statt uns auf der Leinwand, im Theater, zwischen zwei Buchdeckeln zu beglücken.
Den Flops lässt Enzensberger ein Ideenmagazin folgen, in dem sich zu bedienen jedermann aufgefordert wird. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, geeignet, den schier unglaublichen Ideenreichtum dieses in allen Kultursparten heimischen Tausendsassas zu dokumentieren – hier ist er. Egal was man sich greift in diesem disparaten Baukasten, es taugt als Initialzündung für dieses oder jenes Projekt, es verfügt über Potential, es hält einen an zum Sinnieren über geistige Abenteuer, die zu wagen wären.