Die brillante Gelehrte und Intellektuelle gilt in reformorientierten schiitischen Kreisen als epochale Vordenkerin. Unerschrocken fordert sie die Mullahs heraus. Nach sechs Jahren im schwedischen Exil kehrt sie in den Iran zurück und wird inhaftiert.
Ist sie wirklich so gefährlich? Die Szene ihrer Verhaftung sagt darüber einiges aus.
Es ist der 15. März 2024, kurz vor Sonnenaufgang. Vier bewaffnete Geheimdienstler verschaffen sich unbemerkt Zugang zu dem Appartement, in dem sich die «Gefahrenquelle» befindet. Wieder einmal eine nächtliche Polizeiaktion mit Überraschungseffekt; eine bekannte, tausendfach praktizierte und deshalb bewährte Methode. Die zum Teil maskierten Männer werden an diesem Tag von einer ebenfalls bewaffneten Kollegin begleitet. Denn sie wollen eine Frau dingfest machen: eine 61-jährige, fast blinde Theologin. Nach dem üblichen Geschrei fesseln sie ihr «Objekt» und sammeln akribisch ihre persönlichen Sachen ein, einer von ihnen nimmt auch ihren Gehstock mit.
Über die Gefährlichkeit der verhafteten Person besteht kein Zweifel. Sie ist ein ganz besonderes Sinnbild des Widerstands im Iran, fordert das System heraus aus seinem tiefsten Inneren. Mit dem, was sie tut und wie sie es tut, hat sie es geschafft, eine sehr respektable Persönlichkeit zu werden, über viele Grenzen hinweg. Und das ist wahrlich sehr gefährlich.
Sie verkörpert einen Epochenbeginn
Die aufwühlende Biographie von Sedigheh Vasmaghi birgt viele Geschichten in sich. Nicht nur die der Islamischen Republik oder jene von Ali Khamenei samt seinem Aufstieg und Niedergang. Diese zierliche Frau offenbart in ihrem Werdegang nicht weniger als etwas Epochemachendes.
Was Frau Vasmaghi tut und vor allem, wie sie es tut – das ist ein markanter Wendepunkt in der Geschichte des Schiitentums. Generationen von Orientalisten und Islamwissenschaftlern werden sich mit dieser Frau und ihren Thesen befassen müssen, wenn sie etwas über die Frau im Islam schreiben wollen. Sie habe längst das Ende jener Rechtslehre eingeläutet, die jahrhundertelang von Turbanträgern gedacht, verordnet und oft gewaltsam durchgesetzt wurde. Frau Vasmaghi sei ein Phänomen, mit ihr gehe die uns bekannte Geschichte des schiitischen Klerus zu Ende – man könne sie so gesehen auch als auch ein Jahrtausendphänomen bezeichnen.
Diese Sätze liest man im Internetportal Zeitoon, der Webseite der schiitischen Neudenker. Theologieprofessoren und Ayatollahs gehören ebenso zu den ständigen Autoren der Seite wie viele Journalisten, die aus dem Iran und vor allem aus schiitischen Seminaren berichten.
«Wir haben mit den Männern Probleme»: Das ist die Überschrift von Vasmaghis letztem Interview mit Zeitoon.
Im Bann der Revolution
Sedigheh Vasmaghi machte gerade ihr Abitur, als 1979 die Islamische Republik das Licht der Welt erblickt. Wie viele Gleichaltrige ist sie von der Revolution begeistert. Noch läuft sie ohne Kopftuch und mit Minirock durch die Welt; Bilder aus dieser Zeit sind im Internet verewigt. Doch die Revolution schlägt sie so heftig in ihren Bann, dass sie trotz sehr guten Noten nicht zur Uni, sondern zu schiitischen Frauenseminaren geht.
Ayatollah Khomeini, der Gründer der «Republik», hatte sich wiederholt für das gesellschaftliche Engagement von Frauen ausgesprochen – in einer religiösen Öffentlichkeit, versteht sich. Selbst das ist für viele Geistliche ein grosser Tabubruch, doch es diente der neuen Macht so sehr, dass niemand zu widersprechen wagte.
Theologin und islamische Jurisprudenz
Sedigheh weilt drei Jahre unter den Mullahs und studiert islamische Jurisprudenz (فقه). Die Abiturientin mit Bestnoten hat von Anfang an in den schiitischen Seminaren eine besondere Stellung. Danach geht sie zur Teheraner Universität und wird dort nicht nur eine akademische Theologin, sondern auch eine Forscherin im universitären Sinne. Ihre Vorlesungen sind Ereignisse, und grosse Aufregung gibt es fast immer auch dann, wenn ein Beitrag oder ein Gutachten von ihr veröffentlicht wird. Und Sedigheh veröffentlicht viel. Seit ihrer Gymnasialzeit schreibt sie Gedichte, Geschichten und Romane. Und als Expertin für schiitische Rechtslehre publiziert sie nun auch noch Fachbücher rund um diverse theologische Themen, natürlich hauptsächlich über Frauenrechte.
Wir befinden uns in den Anfängen der Revolution, noch hegen viele die Hoffnung, die islamische Republik liesse sich reformieren. In diesen Jahren engagiert sich auch Frau Vasmaghi in einer landesweiten Reformbewegung, die einen politischen Islam mit menschlichem Antlitz anstrebt. Mohammad Khatami, der künftige Präsident, wird zur Symbolfigur dieser Bewegung. Sedigheh ist zu dieser Zeit nicht nur Publizistin, sie engagiert sich auch politisch, lässt sich ins Teheraner Stadtparlament wählen, wird dessen Sprecherin.
Ist Politik machbar?
Das ist die Zeit eines kurzen, turbulenten Frühlings der Freiheit. Sie findet ihr Ende mit der Installierung des Populisten Ahmadinejad. Heute steht Ex-Präsident Khatami unter einem Hausarrest besonderer Art: Er darf sein Haus ohne Erlaubnis nicht verlassen, iranische Zeitungen und Webseiten dürfen keine Bilder von ihm veröffentlichen, nicht einmal sein Name wird in den offiziellen Medien erwähnt.
Als Ahmadinejads Wiederwahl ansteht, erlebt die Islamische Republik die bis dahin grösste Krise ihrer Geschichte. Monatelang protestieren Hunderttausende gegen Wahlfälschung, es gibt zahlreiche Tote und Verletzte, an einem einzigen Tag versammeln sich mehr als drei Millionen schweigend Protestierende auf den Strassen. All das ist vergeblich. Die so genannte Grüne Bewegung wird brutal niedergeschlagen, Präsidentschaftskandidat Mussawi und seine Frau Zahra Rahnavard werden unter strengen Hausarrest gestellt – bis heute.
Exiljahre sind wahre Lehrjahre
Das Leben und Arbeiten unter Ahmadinejad wird für Frau Vasmaghi zunehmend unerträglich, ja unmöglich. Ihr gelingt es schliesslich, das Land zu verlassen. Zunächst erhält sie eine Gastprofessur an der Universität Göttingen, dann wechselt sie zur schwedischen Universität Uppsala, sechs Jahre lehrt sie dort.
Diese Exiljahre sind fruchtbare Zeiten. Vasmaghis Distanz zum schiitischen Rechtswesen nimmt im schwedischen Milieu andere Dimensionen an. Hier veröffentlicht sie ihre Standardstudie «Women Jurisprudence, Islam» und die schwedische Übersetzung eines ihrer Gedichtbände. In diesen sechs Jahren ist Vasmaghi auch eine angesehene Referentin bei iranischen «Auslandsfeministinnen». Die islamische Rechtsgelehrte spricht in verschiedenen europäischen Städten vor Iranerinnen, die alle Flüchtlinge vor dem politischen Islam sind. Und siehe da: Alle hören interessiert zu. Ihre sechs Exiljahre sind wahre Lehrjahre, für sie selbst und für ihr Publikum.
Doch der Exilboden kann sie nicht sesshaft machen. Sie will zurück, dorthin, wo sie gänzlich zuhause ist – geistig, politisch und sprachlich. «Ich beschäftige mich so viel mit diesem Stück Erde hier, auf dem ich stehe. Warum nur? Kann diese Erde denn nicht meine Heimat sein? Was ist der Unterschied? Das Gleichgewicht ist unterschiedlich. Es gibt keinen Vergleich mit meiner Heimat. Hier habe ich das Gefühl, ich schwebe in der Luft», schreibt sie in ihrem Buch «Gefängnis oder Exil».
Was ist Gleichgewicht?
Sie macht sich endlich auf den Weg, ihr Gleichgewicht zu finden, obwohl sie im Iran in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist. Auf dem Teheraner Flughafen angekommen, präsentiert man ihr das Urteil der islamischen Jurisprudenz, nach mehreren Stunden darf sie dennoch einstweilen gehen. Eine sofortige Festnahme bei der Ankunft scheint nicht opportun; die Taktiken der Geheimdienstler sind unergründlich, sie nehmen diverse Formen an. Wenige Tage später wird Sedigheh Vasmaghi dann aber doch verhaftet und ins berüchtigte Teheraner Evin-Gefängnis gebracht. Erst nach Wochen und gegen eine sehr hohe Kaution kommt sie zunächst frei.
Doch diese Freiheit ist eine geborgte, eine vorübergehende. Eine neue Anklage schliesst sich an die anderen an, die Zahl der Gefängnisjahre, die sie vor sich hat, summiert sich einstweilen auf elf, etliche können noch dazu kommen.
Nie und nirgendwo Hijab
Vasmaghi leidet an einer Netzhautdystrophie, eine Erbkrankheit, die zu einem fortschreitenden Absterben der Netzhaut führt. Gefängnisstress bedeute für sie baldige völlige Blindheit, sagen die Augenärzte. Vor zehn Tagen war es soweit: Sie musste in eine Augenklinik ausserhalb der Gefängnismauern eingeliefert werden. Ohne Kopftuch ging das nicht, mit Kopftuch wollte sie nicht. Seit dem Mord an Mahsa Amini im September 2022 bei der Sittenpolizei, und seit dem Zeitalter der «Frau, Leben, Freiheit»-Proteste trägt sie keinen Hijab mehr. Nicht einmal ihrem Rechtsanwalt will sie mit Kopftuch gegenübertreten.
Trotzdem schreibt sie fast regelmässig aus ihrer Zelle offene Briefe über die Zustände inner- und ausserhalb der Gefängnismauern. Ihr Adressat ist fast immer Ali Khamenei. Denn Frau Vasmaghi hält den Mann an der Machtspitze für den allein Verantwortlichen. Zu Recht.
Publiziert mit freundlicher Genehmigung von IranJournal