Kleinen Staaten wie der Schweiz und Österreich bietet das Völkerrecht Schutz vor Willkür der Grossmächte. Einfache Bürger sind dank der Menschenrechte vor Benachteiligungen durch Staat und Gesellschaft geschützt. Die Schweiz sieht sich seit einigen Jahrzehnten als Teil der Weltgemeinschaft: Als Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen von der BGB, heute SVP, Aussenminister war, wurde die Schweiz 1963 Vollmitglied des Europarats. Bereits ein Jahrzehnt zuvor hat der Europarat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgearbeitet.
Mehr statt weniger Menschenrechte
Ausgerechnet der SVP-Übervater Christoph Blocher und der Zürcher Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt haben eine Volksinitiative ausgeheckt, welche die Europäische Menschenrechtskonvention in Frage stellt und wohl bedeuten würde, dass die Schweiz den Europarat verlassen sowie Abkommen des internationalen Rechts aufkünden müsste. Die SVP wettert gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der fast immer im Sinne der Schweiz entscheidet, in einigen Fällen jedoch gegen die Schweiz. Dabei gab es wenige Urteile, die in unserem Land vielen gegen den Strich gingen.
Das 15. Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention, das der Bundesrat Anfang März dem Parlament unterbreitete, will gerade das Subsidiaritätsprinzip stärken. Das bedeutet: Die Schweiz und die andern Vertragsstaaten erhalten mehr Ermessenspielraum beim Umsetzen der Menschenrechtskonvention, um den lokalen Umständen und Bedürfnissen besser Rechnung tragen zu können. Dadurch wird Vorbehalten von bürgerlichen Politikern Rechnung getragen und der SVP-Initiative Wind aus den Segeln genommen. Der Nationalrat wird das Zusatzprotokoll voraussichtlich im Herbst beraten.
Weniger Menschenrechte, das wäre nicht allein für die Schweiz ein gefährlicher Irrweg, sondern für alle demokratischen Staaten. Für die Schweiz und die meisten andern Länder der globalisierten Welt wären mehr Menschenrechte in allen Staaten eine Wohltat. Die Globalisierung verlöre ihr hässliches Gesicht, denn wenn die Menschenrechte weltweit gelten würden, gäbe es die Schmutzkonkurrenz vieler Länder nicht mehr, die dank Zwangs- und Kinderarbeit sowie Gewerkschaftsverbot so billig produzieren können, dass ein Land mit einem gezähmtem Kapitalismus nicht konkurrenzfähig sein kann.
Sonderbare Demokraten
Der von vielen verehrte Übervater der SVP, Christoph Blocher, sagte vor den Medien mit Bezug auf die neue Volksinitiative: Die höchste Staatsgewalt in der Schweiz ist der Souverän (d.h. das Volk), für die Bundesverfassung Volk und Stände, für die Bundesgesetze das Schweizer Volk. – Das Volk ist einer der wesentlichen Akteure in der Schweiz, doch zu den Säulen der Demokratie gehören gleichzeitig das Parlament als Gesetzgeber, der Bundesrat als Regierung sowie die Justiz. Alle diese Kräfte sind durch ihre Rechte und Pflichten eingebunden ins komplexe politische System der Eidgenossenschaft. Keiner dieser Träger unserer Demokratie hat eine absolute Vormacht: Das Volk kann nicht alleiniger Machtträger sein, denn ein Volk kann auch verführt werden. Deshalb braucht es ein Gleichgewicht der Kräfte.
Gegenwärtig vertraut die SVP-Spitze allein dem Volk, das der SVP zwar viele Abstimmungsniederlagen bescherte, aber wegweisende Vorlagen im Sinne der SVP entschieden hat, wie beim Europäischen Wirtschaftsraum, dem Minarettverbot, der Ausschaffung von kriminellen Ausländern und der Masseneinwanderung. Gross ist das Misstrauen gegenüber dem Bundesrat, und Blocher spricht zudem verächtlich über das Parlament, dem er immerhin 26 Jahre angehörte und in dem seine Partei am meisten Sitze innehat; hart kritisiert wird auch das Bundesgericht. Wer so schlecht über Regierung, Parlament und Justiz spricht, dem darf man unterstellen, dass er ein sonderbarer Demokrat ist.
Verfassungstreue nach Belieben
Die jüngste SVP-Initiative stammt von einem Wirtschaftsrechtler, dem Zürcher Uni-Professor und SVP-Kantonsrat Hans-Ueli Vogt. Ein Intellektueller, ein Professor als Verfasser einer Volksinitiative und als SVP-Ständerats-Kandidat – das ist ein Novum. Der Tages-Anzeiger titelte: „Hans-Ueli Vogt steht für eine neue SVP“. Ja, das stimmt, aber er steht für eine SVP, die an den Grundfesten unseres Staats rüttelt, für eine SVP, die uns aus der Staatengemeinschaft herauslösen will und die von der Überzeugung getragen ist, dass wir allein am besten über die Runden kämen. Solche Phantasien können sich die USA, China oder Russland leisten, aber nicht die kleine Schweiz, die mit ihren nahen und fernen Nachbarn wirtschaftlich eng verflochten ist; in vielen Bereichen über internationale Vereinbarungen und Abkommen auch politisch.
Einerseits beteuert die SVP, die Bundesverfassung stehe über allem, andererseits grollt SVP-Präsident Toni Brunner, weil das Parlament beim Anwenden der Ausschaffungsinitiative die Bundesverfassung ernst nimmt und das in Artikel 5 verankerte Verhältnismässigkeitsprinzip wenigstens in Härtefällen beachtet. Das ist ein eklatanter Widerspruch, denn Brunners Partei kann doch nicht auf der automatischen Ausschaffung von kriminellen Ausländern beharren, da die Verhältnismässigkeit gewahrt werden muss. Das zeigt auf, dass für die SVP die wortreich gelobte Bundesverfassung nur ausschlaggebend ist, wenn es ihr passt. Das weckt Misstrauen. Also Hände weg von der Verfassungsinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», die mit dem neuen Extrablatt der SVP allen Haushalten in der Schweiz zugestellt wurde.