Max Nordau, einer der Begründer des Zionistischen Weltorganisation, empfahl schon auf dem Zweiten Zionistenkongress in Basel 1898, Juden sollten turnen und fit werden, damit sie ihren Staat aufbauen könnten. Die Pioniere des Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft, die in Palästina auf dieses Ziel hinarbeiteten, gaben sich ganz dem Ideal des heldenhaften "Muskeljuden" hin.
Für die von der Flucht gezeichneten Überlebenden, die aus Europa einwanderten, hatten sie deshalb wenig Sinn. Sie betrachteten diese als Vertreter der "Schafe, die sich zur Schlachtbank" hatten führen lassen, als Schande für das Judentum. Wer Deutsch oder Jiddisch als Muttersprache mitbrachte, den identifizierten sie oft automatisch mit den Nationalsozialisten. Den Überlebenden war das Leiden ins Gesicht geschrieben, von ihren belastenden, unerträglichen Geschichten wollte sich keiner den Optimismus nehmen lassen, und auch sie selbst hüllten sich meist in Schweigen, weil es zu sehr schmerzte, über das Erlittene zu sprechen. Der israelische Historiker und Journalist Tom Segev hat das in seinem 1995 auf Deutsch erschienen Buch "Die Siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung" ausführlich beschrieben.
Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse lautete im werdenden israelischen Staat die Devise. Wer eignete sich dafür besser als Kinder und Jugendliche? "Die Kibbuzniks versuchten, den Holocaust-Kindern zu helfen, so wie sie sich eine angemessene Hilfe vorstellten. Sie versuchten, die Vergangenheit der Kinder auszulöschen, ihr Anderssein zu ignorieren und ihnen beizubringen, bessere Menschen zu werden – das hiess Israeli", so Tom Segev. Die Kibbuz-Berater diagnostizierten die verwaisten, traumatisierten Kinder oft als verhaltensgestört, als "unabhängig, frühreif, egoistisch und unsozial".
Sie zeigten, wie Segev nachweist, einen erschreckenden Mangel an Sensibilität: "Ein Junge, fanden sie, sei 'stark behindert in seiner Fähigkeit zuzuhören', worauf in einem Nebensatz die Bemerkung folgte, dass sie leider mit dem Kind nicht hatten sprechen können, weil es nur Ungarisch verstand." Die meisten waren unfähig, sich eine Vorstellung vom Unvorstellbaren zu machen: der Shoah. Die Traumata aus jener Zeit zeigen bis heute in der israelischen Gesellschaft ihre Wirkung.
Tom Segev bezieht sich in seinem Standardwerk auch auf die Werke Aharon Appelfelds. Denn kein anderer israelischer Schriftsteller hat das Schicksal der Überlebenden, die Israelis wurden, in mehr als 40 Büchern sprachlich so präzise eingefangen. Am 16. Februar 1932 im rumänischen Czernowitz (heute Ukraine) geboren, erzählt Appelfeld in seinen Büchern stets auch über sein eigenes Leben. Er war acht Jahre alt, als er mit ansehen musste, wie Nazis seine Mutter ermordeten. Zusammen mit seinem Vater und Grossvater wurde er deportiert und konnte 1941 aus dem Lager fliehen. Erwin, so hiess Appelfeld damals, versteckte sich in den Wäldern, zunächst im Haus einer mütterlichen Prostituierten, dann bei einer Gang von Kriminellen, die ihn ebenfalls beschützten. Mit 12 schloss er sich als Küchenjunge der russischen Armee an – "auch das war eine wichtige Schule für mich", so Appelfeld in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz – und gelangte schliesslich nach Italien, von wo aus er 1946 nach Palästina auswanderte.
Mit vierzehn Jahren erreichte er das Land, das ihm eine neue Heimat werden sollte, ohne Schulbildung oder gar Sprache, denn Jiddisch, Deutsch, Rumänisch oder Ukrainisch galten hier nichts.
In diesem ungeheuerlichen Lebensverlauf eines Kindes, das im Alter von acht Jahren abrupt erwachsen werden musste, liegt der dichte Stoff für Appelfelds jahrzehntelanges Schreiben. Es ist wohl auch auf diese Erfahrungen zurückzuführen, dass der Autor ein tiefes Verständnis für das Innenleben verschiedenster Menschen entwickelt hat. Er begreift Identitäten als fragmentiert und vielfältig – keineswegs als monolithisch, wie es der zionistische Aufbruchsgeist gebot.
Um die Frage von Identität geht es auch in Appelfelds neuem Buch, das nun zu seinem 80. Geburtstag am 16. Februar 2012 auf Deutsch erschienen ist. Nach "Geschichte eines Lebens" ist dies eines seiner persönlichsten Werke geworden, in dem sich abermals Phantasie und Erinnerung vermischen. Der Protagonist heisst Erwin und ist der "schlafende Junge". Weil er immerzu schlafen muss, überlebt er nur mit der Hilfe von Flüchtlingen, die ihn bis in ein Displaced Persons Camp nach Neapel mitschleppen. Dort wird er Mitglied einer Jugendgruppe, die der junge Zionist Efrajim körperlich und sprachlich auf die Alija, "den Aufstieg", nach Palästina vorbereitet. Der Schlaf hilft dem Jungen, im Traum in seine Heimat zurückzukehren und Kontakt mit seinen Eltern aufzunehmen. Immer wieder spricht er mit Mutter und Vater, gerade so als lebten sie noch, er scheint ihren Tod zu verdrängen. Es kommt ihm wie Verrat vor, dass er seinen Vornamen ändern und nun Aharon heissen soll, empfindet das als Verleugnung seiner Herkunft.
Rasch merkt er, dass seinem Mentor Efrajim "die Vergangenheit offenbar nichts wert" ist. Erwin ist angehalten, den Kontakt mit den Flüchtlingen im Lager nebenan zu meiden, "aber ich empfand dies als undankbar, als eine schwere Sünde, am liebsten hätte ich gesagt, man darf uns nicht trennen, wir sind ein einziger Körper". Der Körper als Metapher für die Identität spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle. Für den Autor Appelfeld ist der Körper der Ort, in dem die Erinnerungen als Gefühle und sinnliche Wahrnehmungen gespeichert sind. Er selbst hatte seine Kindheit schon fast vergessen, bis sein Vater, dem er 1950 in Israel wieder begegnete, ihm half, sein Leben in der Bukowina zu rekonstruieren.
Appelfelds Protagonist Erwin alias Aharon erreicht Palästina und wird bald darauf bei einem paramilitärischen Einsatz der Hagana schwer verletzt. Seine Beine sind gelähmt, nervlich abgetrennt von ihm wie die Vergangenheit. Auf dem Krankenbett beginnt er, die Bibel abzuschreiben, um sich das Hebräische anzueignen. Er will Schriftsteller werden und vollenden, was seinem Vater nie gelungen war. Erwins Umgebung betrachtet sein einsiedlerisches Schaffen mit Befremden. Alleinsein wird hier mit Verzweiflung assoziiert, und dass er Bibelstellen abschreibt, erinnert viele Menschen an die betenden Juden aus dem Schtetl. "Du bist ein junger Mann, du solltest keinen Illusionen nachhängen. Wir sind hier in dieses Land gekommen, um ein echtes Leben zu führen, du musst dir das Wort Beten aus dem Kopf schlagen. Die Juden haben mehr als genug gebetet", wirft ihm ein zorniger Mitpatient an den Kopf. Erwin jedoch besteht auf seiner Individualität, sucht die Einsamkeit, die er als inspirierend empfindet. Er beschäftigt sich mit der Vergangenheit, weil er instinktiv begreift, dass nur das ihn in der Gegenwart ankommen lassen wird und für die Zukunft vorbereitet. Doch das wird als egoistisch empfunden: "In einer Gesellschaft wie der unseren gibt es keine Privatangelegenheiten. Das Private ist auch das Gesellschaftliche. In diesen schweren Zeiten, da uns ein grosser Krieg bevorsteht, beschäftigst du dich nur mit dir selbst?", sagt ein anderer Patient und bringt damit den israelischen Kollektivzwang auf den Punkt, der so viele Immigranten ihre mitgebrachte Identität verbergen liess.
Der Prozess des Schreibens ist für den Jungen zugleich Trauerarbeit, denn allmählich lässt er sein altes Leben hinter sich, von dem er weiterhin unermüdlich träumt. In dem Masse, wie Hebräisch in ihm Wurzeln schlägt, verdrängt er seine Muttersprache. "Wie oft hatte ich meiner Mutter versprochen, ihre Sprache zu hüten, um ewig mit ihr verbunden zu bleiben. Meine Mutter fürchtete, die Sprache des Meeres würde die Muttersprache unterdrücken", sagt Erwin, gequält von Schuldgefühlen. Seine wachsende Ausdrucksfähigkeit geht einher mit seiner Genesung, die sich über mehr als zwei Jahre hinzieht und von acht Operationen begleitet wird. Die Sprache verbindet sich immer mehr mit seinem Körper, und erst als er beim Schreiben den Durchbruch erlebt, kommt auch das Leben in seine Beine zurück.
In Israel wird Aharon Appelfeld oft als "unisraelischer" Schriftsteller angesehen, sei er doch ganz woanders verwurzelt und schreibe über die Zeit vor Israels Entstehung. Im Magazin der Jerusalem Post klärt Appelfeld dieses Missverständnis auf: "In Israel ist jeder Zweite eingewandert oder Kind von Einwanderern. Ich repräsentiere die Einwanderer. Ich schreibe über Menschen ohne Wurzeln. Ich bin der israelische Schriftsteller, weil Israel eine Gesellschaft von Einwanderern ist." Er habe drei Identitäten, so der leidenschaftliche Israeli, der noch immer sehr gut Deutsch spricht, im selben Interview 2009. "Meine erste Identität ist die des europäischen Judentums. Als Jude lebte ich glücklich, und ich litt als Jude. Ich kann mein Jüdischsein nicht ablegen. Ich bin mit Körper und Seele jüdisch. Aber ich stamme aus einer sehr assimilierten Familie, meine zweite Identität ist also die des assimilierten Juden. Meine dritte Identität ist die des Israeli. Ich lebe hier seit 64 Jahren. Wie jeder moderne Jude habe ich drei Identitäten."
Seinen Protagonisten lässt Appelfeld im Traum sagen: "Ich bin hier, Vater, im Herzen der Judäischen Berge. Diese Berge hier dulden keine Sprache, die nicht die ihre ist." "Und was ist ihre Sprache?", fragt der Vater. "Schweigen, Schweigen und noch mal Schweigen." Es ist genau diese Stille, die der Autor am Hebräischen, seiner angenommenen Sprache, so liebt. Seine Sätze sind klar und simpel und evozieren in all ihrer Nüchternheit innere Bilder, die weitere Worte überflüssig machen.
"Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen", von Mirjam Pressler fabelhaft übersetzt, geht unter die Haut und lagert sich als bleibender Eindruck im Körper ab. Aharon Appelfeld hat seinen Lesern zu seinem 80. Geburtstag ein weiteres wunderbares Buch geschenkt.
Aharon Appelfeld. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, rowohlt Berlin, 288 Seiten, 19,95 Euro
Appelfelds Bücher bei rowohlt Berlin http://www.rowohlt.de/buch/Aharon_Appelfeld_Der_Mann_der_nicht_aufhoerte_zu_schlafen.2940967.html