Eigentlich könnten sich die politischen Büchsenspanner und PR-Strategen im Berliner Bundeskanzleramt und im Konrad-Adenauer-Haus der CDU die teuren Ausgaben für die in kurzen Zeitabständen regelmäßig durchgeführten Meinungsumfragen sparen. Denn seit Monaten schon sind die Ergebnisse praktisch immer dieselben. Zumindest, was die Namen an der Spitze der Polit-Rankings anbelangt. Wie einbetoniert steht dort Angela Merkel, die Bundeskanzlerin. Zwar folgt dann, mit etwas Abstand, der sozialdemokratische Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Doch während die christdemokratische Regierungschefin im Sog ihrer Popularität auch ihre Partei mitzieht und auf immerhin rund vierzig Prozent hievt, bekommt die SPD von den Positivwerten Steinmeiers so gut wie nichts ab; die Genossen dümpeln unverändert bei deprimierenden rund zwanzig Prozent öffentlicher Zustimmung. Das ist insofern schwer erklärlich, weil erstens der innenpolitische Bereich der bisherigen großkoalitionären Berliner Regierungstätigkeit deutlich eine sozialdemokratische Handschrift aufweist, und – zweitens – am aktuellen internationalen Krisenmanagement der Außenamtschef nicht weniger engagiert mitwirkt als die Kanzlerin.
Geborgen wie bei Muttern
Warum also dieser spezielle Merkel-Bonus? Ganz offensichtlich unterscheidet sich die öffentliche Wahrnehmung (also die der breiten Bevölkerung) dieser Frau deutlich von der veröffentlichten Darstellung. Nicht geringe Teile der – bei Weitem nicht nur linken – heimischen Medien vermissen bei Angela Merkel Glamour und Glimmer und das Gewähren von Einsichten ins Private. Als Ersatz dafür amüsiert man sich über zu knapp sitzende Jacken, registriert wiederholt getragene Kleider etwa bei den Bayreuther Wagner-Festspielen und karikiert ihre sich gern zu einer Raute formenden Hände . B. bei Fototerminen als „linkisch“. Praktisch in keinem Porträt über die Kanzlerin fehlt zudem der Begriff „Mutti“ – als herablassendes Synomym für eine unterstellte, gewisse Hausbackenheit.
Die „Leute draußen“, indessen, teilen diese Einschätzung nicht. Zumindest nicht mehrheitlich. Ihnen fehlt bei Merkel nicht äußerer Glanz. Vielmehr gefällt ihnen, umgekehrt, augenscheinlich das überhaupt nicht eitle Auftreten der Frau an der Spitze der Republik. Und was die herablassende Titulierung als „Mutti“ anbelangt – sind nicht die hohen Popularitätswerte der Kanzlerin gerade der Beweis dafür, dass sich die Majorität der Deutschen in den gegenwärtigen Kriegs- und Krisenzeiten bei ihr eher „geborgen fühlt wie bei Muttern“? Wenn Angela Merkel aus den Medien entgegen schallt, sie zaudere bei Entscheidungen und neige zum „Aussitzen“ von Problemen, so entspricht auch diese Kritik erkennbar nicht dem Empfinden der Bevölkerung, die spürbar Gelassenheit und Ruhe einer politischen Hektik und aufgeregtem Aktionismus vorzieht.
Voran beim Krisenmanagement
Tatsächlich läuft gegenwärtig kaum ein Vorwurf an die Bundesregierung so ins Leere wie der einer angeblichen Tatenlosigkeit. Wenigstens was den außenpolitischen Sektor anbelangt. Ukraine-Krise, drohende Vereisung der Beziehungen zu Russland, Raketen auf Israel und Bomben auf Gaza, katastrophale humanitäre und politische Zustände in Syrien und im Irak, Flüchtlingswellen aus dem Maghreb übers Mittelmeer – wer versucht denn wenigstens, die Brände einzudämmen? Wo sind die Briten und Franzosen, die Italiener und Spanier? Kurz, wo ist die Europäische Gemeinschaft als Einfluss- und Ordnungsfaktor? Fehlanzeige! Es sind, im Prinzip, allein die Bundeskanzlerin und ihr Außenminister. Es ist Angela Merkel, die – zumindest telefonisch – die Fäden zu Putin nicht abreißen lässt. Man vermisst die Initiativen von Francois Hollande oder David Cameron, die ansonsten nicht müde werden, ihre europäischen und weltpolitischen Bedeutungen hervorzuheben. Nicht anders ist es mit Blick auf die Brände im Nahen Osten, wo sich Frank-Walter Steinmeier verzweifelt abmüht, dem Morden und Zerstören wenigstens Grenzen zu setzen.
Ohne geschwellte Brust
Früher hätte man so etwas wohl als Führungsrolle bezeichnet, nicht selten auch gebrandmarkt. Doch, erstaunlich genug, die in der Vergangenheit nie ausbleibenden Aufgeregtheiten in Paris, London und anderen europäischen Plätzen über angebliche deutsche Machtansprüche und Einflussnahmen fehlen dieses Mal völlig. Das mag an der weit verbreiteten Sorge liegen, man könne sich bei eigenen Aktivitäten womöglich die Finger zu verbrennen. Es liegt aber ganz sicher auch an der Tatsache, dass die Berliner Bemühungen sehr zurückhaltend erfolgen – ohne geschwellte Brust und ohne den vom Dichter Emanuel Geibel in der Mitte des 19. Jahrhunderts postulierten Anspruch „…und es soll am deutschen Wesen, einmal noch die Welt genesen“.
Das ist, nicht zuletzt, das Verdienst der Frau aus Deutschlands Osten, die soeben ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert hat. Keine Frage, Angela Merkel befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer politischen Laufbahn. In ihrer Partei, der CDU, ist weit und breit niemand zu erkennen, der zu einem Konkurrenten werden könnte. Kein Wunder, lautet hierzu ein immer wieder zu hörender Vorwurf, Merkel habe sich ja auch aller Personen entledigt, die ihr auch nur ansatzweise gefährlich hätten werden können. Zugespitzt: Sie habe links und rechts erbarmungslos alles weggebissen. Man muss nun wirklich kein Fan der Kanzlerin sein, um das als Unsinn bloßzustellen. Erstens: Zu einem Machtkampf gehören immer mindestens zwei. Wo waren die Herausforderer? Damit zusammenhängend, zweitens: Was haben die potentiellen Mitbewerber um die Partei- und Regierungsspitze eigentlich getan, um ihre Ziele zu erreichen? Die noch relativ jungen, ehrgeizigen Ministerpräsidenten und Bürgermeister von Hessen (Koch), Baden-Württemberg (Oettinger), Hamburg (von Beust), Nordrhein-Westfalen (Rüttgers), Saarland (Müller), der Finanzexperte und Ex-Fraktionschef der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Friedrich Merz, oder der bei der Landtagswahl im Nordrhein-Westfalen kläglich gescheiterte und danach abgesetzte Umweltminister Röttgen? Nur, um ein paar wenige Beispiele zu nehmen. Haben sie den Kampf um den Gipfel aufgenommen? Nein, kein einziger von ihnen; die meisten sind einfach abgetreten. Nicht selten, um in der Wirtschaft mehr Geld zu verdienen. Wer also müsste in Wahrheit gescholten werden?
Der Kanzlerwahlverein
Mag Angela Merkels Position von daher im Moment und auf Sicht auch ungefährdet sein, so ist die Lage – staatspolitisch gesehen – dennoch unbefriedigend. Die nächsten Bundestagswahlen finden in zwei Jahren statt. Tritt die Powerfrau aus Mecklenburg dann nochmal an? Niemand weiß es. Merkel schweigt, lässt sich nicht einmal Andeutungen entlocken, gefällt sich als Sphinx von der Spree. Doch auch die Partei hält still (oder besser: den Mund). Sie müsste doch eigentlich in höchstem Maße darauf bedacht sein, dass an ihrer Spitze frühzeitig eine Kontinuität aufgebaut wird, damit man nicht in wenigen Jahren vor einer dramatischen Personalnot steht und riskiert, die Regierungsfähigkeit zu verlieren. Stattdessen begnügt man sich in der Union mit der bequemen Rolle eines Kanzler-Wahlvereins, sonnt sich in Merkels Ansehen und hofft vermutlich, der liebe Gott werde schon alles richtig lenken.
Niemand weiß, ob Angela Merkel wirklich Freunde hat. Und zwar sowohl politisch wie privat. Es ist mittlerweile schon eine ganze Reihe von Biographien über sie erschienen. Aber richtig nahe gekommen ist ihr von den Autoren niemand. Wahrscheinlich ist diese Fähigkeit zur Distanz eine Erklärung für den erstaunlichen politischen Aufstieg dieser Frau von einer unscheinbaren Sympathisantin der Menschenrechtsbewegung in der DDR Ende der 80-er Jahre an die Spitze der Bundesrepublik Deutschland. Distanz ist das Eine, das Talent zu blitzschnellem Lernen das Andere. Jahrelang war die gelernte Physikerin unterschätzt worden. Bis sie im Jahr 2000 (damals immerhin schon Fraktionsvorsitzende im Bundestag und damit im innersten Machtzirkel ihrer Partei) die in ihr liegende Härte offenbarte, als sie ihren jahrelangen Mentor Helmut Kohl gnadenlos stürzte – und mit dieser Tat allerdings die wegen der damaligen Spendenaffäre moralisch am Boden liegende Partei rettete.
Wer Macht will…
Merkel hatte Kohl die ganzen Jahre über genau beobachtet. Und dabei ganz sicher eine seiner Hauptmaximen verinnerlicht: Wer Macht will, muss auch Machtwillen zeigen. Danach hatte der Pfälzer zeit seines politischen Lebens gehandelt. Als Merkel ihn vor 14 Jahren als Ehrenvorsitzenden der CDU vom Thron stürzte, brach für ihn eine Welt zusammen. Wäre er nicht gesundheitlich so angeschlagen, würde er – mit dem zeitlichen Abstand – heute vielleicht anerkennend applaudieren: „Du hast sehr gut aufgepasst!“