Wenn wir in Saint-Lamain ankämen, sollen wir gegenüber dem Dorfbrunnen den Chemin du Tunnel nehmen und dann sofort rechts in den Chemin du Cart abbiegen, schreibt unsere Gastgeberin Christiane. Ihr Haus trage die Nummer 19, weil dessen Eingang – schmiedeeisernes Tor mit Glyzinie – 19 Meter vom Anfang der kleinen Strasse entfernt sei. – So präzise sind die Regeln des französischen Staates, auch weit entfernt von Paris in einer paradiesischen Landschaft, wo viele Strassen bis vor kurzem noch keine Namen und erst recht keine Hausnummern trugen.
Sie kennen Saint Lamain nicht? – Die Gemeinde besitzt sogar einen deutschen Wikipedia-Eintrag, wo Sie Ihr Bildungsdefizit decken können. Leicht gekürzt heisst es dort:
„Saint-Lamain ist eine französische Gemeinde mit 114 Einwohnern im Département Jura. Sie gehört zum Arrondissement Lons-le-Saunier und zum Kanton Bletterans. Die Einwohner nennen sich Saint-Laminois.“
Christiane ist, wie wir während der herzlichen Begrüssung erfahren, erst nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Pensionierung aus dem Norden Frankreichs hierher gezogen und hat im ehemalige Bauernhaus ihres Grossvaters eine Chambre d’Hôtes eingerichtet, dank der es ihr gelinge, trotz ihrer bescheidenen Rente menschenwürdig zu überleben. Wie arm die Bauern hier einst gewesen sind und wie eng ihre Wohnverhältnisse, können wir höchstens noch ahnen, wenn wir aus unserem Zimmer auf die gepflegten Gärten der einstigen Bauernhäuser schauen.
„La pie qui chante“ – die singende Elster – nennt unsere Gastgeberin ihr Anwesen. Elstern waren uns bislang zwar nicht gerade als begnadete Singvögel bekannt, aber in Christianes Ohren tönen sie offenbar anders – natürlich mit gutem Grund: Sie hätte einst einen verlassenen Elster-Jungvogel aufgezogen, zuerst in einem grossen Vogelkäfig, später im Freien. Manchmal sei die Elster für ein paar Tage weggeblieben, aber immer wieder im Garten erschienen und hätte mit ihrem „Gesang“, den Christiane unterdessen von den Rufen ihrer Artgenossen zu unterscheiden wusste, ihre Präsenz angemeldet. Nach etwas mehr als einem Jahr blieb sie dann für immer weg. Christiane fürchtet, sie sei verunfallt oder von einem andern Tier gefressen worden.
Nach dem Bezug unseres Zimmers bei der singenden Elster fahren wir ins östliche Nachbardorf Passenans. Das Weinbauerndorf liegt am Fuss des französischen Juras, der von den Hochtälern westlich der Schweizer Grenze in mehreren Stufen ins Burgund und ins Tal der Sâone abfällt. Auf dem kargen Boden gedeihen besondere Weine. Berühmt ist der Vin Jaune, der vor allem in der Gegend um Château Chalon nach einem speziellen Verfahren aus der weissen Savagnin Traube hergestellt wird. Er wird während mindestens sieben Jahren in einem Eichenfass gelagert und verliert in dieser Zeit durch Verdunstung rund 40% seines Volumens, was ihm einen Sherry-artigen Geschmack verleiht.
Doch nicht wegen des Weines sind wir heute hier. In Passenans führten Felix, der verstorbene Bruder meiner Frau, und seine Frau Colette während vielen Jahren eine Auberge. Colettes Familie stammt ursprünglich aus Passenans und besitzt bis heute mitten im Dorf ein grosses Anwesen mit einem parkartigen Garten. Dort wird heute der fünfzigste Geburtstag ihrer Tochter Miryam gefeiert.
Französische Familienfeste sind – ich habe es im Laufe der Zeit während vieler Gelegenheiten, in Passenans und anderswo, erfahren dürfen – barock und grenzenlos, haben weder einen definierten Anfang (nur die Deutschschweizer finden sich zur angegebenen Zeit ein und hoffen dann vergeblich auf einen ersten Drink) noch ein klares Ende. Grenzenlos sind sie auch deswegen, weil der Kreis der Eingeladenen unbestimmt ist und man daher auch nie genau weiss, wer wann kommt und ob überhaupt. Ich habe es daher aufgegeben, vorher mit meiner Frau den Stammbaum der Familie und die Namen der möglichen Gäste zu repetieren: Personen, die ich zu kennen glaube, schauen mich verdutzt an, wenn ich Vertrautsein markiere, und andere, die mir fremd vorkommen, fallen mir um den Hals.
Jedes Familienfest ist wieder anders. Diesmal sorgt das Wetter für eine besondere Note. Noch vor dem Abendessen vertreibt uns der Regen trotz einiger im Garten aufgestellter Zelte in den düsteren Durchgang zwischen Wohnteil und Scheune des alten Weinbauernhauses, der an beiden Enden durch grosse bogenförmige Tore begrenzt wird. Während es draussen trotz Regen noch einigermassen hell ist, zündet man drinnen Kerzen an und harrt der Dinge, die da kommen mögen. Doch diese „Dinge“ lassen auf sich warten, im Unterschied zur nassen Kälte, welche sich klammheimlich von den beiden Toren her zwischen die Gäste schleicht und diese im Laufe des Abends zu immer fantasievollerer Kostümierung zwingt.
Endlich tauchen – im Weinbauernhaus! – die ersten Weinflaschen auf. Einige schaffen es bis an unser Tischende, bevor sie leer sind. Dann, kurz vor 21 Uhr, beginnen sich die Dinge zu überstürzen. Es werden Kisten herangetragen, auf denen „Antartica“ steht und die eine Suppe enthalten, allerdings nicht eine wärmende, sondern eine zwar schmackhafte, aber kalte Gemüsegazpacho. Zwei Stunden später folgt der Hauptgang – ich erinnere mich nicht an Details, nur dass die Speisen gewisse warme Zonen enthielten. Nach dem mitternächtlichen Käse schleichen wir uns wegen mangelnder Fitness für französische Festivitäten davon und finden Wärme im Bett der singenden Elster.
Oh Wunder – am frühen Morgen weckt uns blauer Himmel. Im Garten ist ein munteres Vogelorchester am Werk. Eine Elster ist zwar nicht auszumachen, dafür wartet auf uns ein von Christiane liebevoll vorbereitetes Frühstück, dem wir – den besonderen Umständen entsprechend – viel Aufmerksamkeit schenken.
„A la recherche du temps perdu“
Jetzt endlich ist die Zeit gekommen für jenen Teil unserer Reise, auf den wir uns besonders gefreut haben: der Morgenspaziergang durch eine uns seit über vierzig Jahren vertraute Landschaft. Mein Schwager Felix hatte damals, als er mit seiner Frau die Auberge du Rostaing in Passenans führte, die Umgebung mit einem Netz von markierten Wanderwegen überzogen. Jede Route hatte ihren eigenen Farbcode, den man auf einer Karte, welche Felix seinen Gästen als fotokopiertes A4-Blatt aushändigte, ablesen konnte. So gab es auch eine Route von Passenans nach Saint-Lamain und weiter nach Toulouse-le-Château, welche über einen kleinen Hügel führte, welchen die Bahnlinie von Besançon nach Bourg-en-Bresse in einem kurzen Tunnel unterfährt.
So liegt es nahe, dass wir unseren Morgenspaziergang – gleichsam „A la recherche du temps perdu“ – auf dem Chemin du Tunnel beginnen. Wir fühlen uns wie in einem begehbaren Bilderalbum, das uns mit unserem Leben und mit den Menschen verbindet, die darin wichtige Rollen spielten und noch immer spielen. Tatsächlich: Vom Pfosten eines Stacheldrahtzaunes leuchtet uns schon von weitem eine rot-gelbe Wegmarkierung entgegen, ein Zeichen der Erinnerung an einen Menschen, das ihn um Jahre überdauert hat und für einen kurzen Augenblick der Besinnung in unser Leben zurückbringt. „Wir wandern auf deinen Spuren, lieber Felix“, sagen wir uns im Stillen.
Später durchqueren wir den zu Saint-Lamain gehörenden Weiler Montchauvier, der – wie die meisten Ortschaften in dieser Gegend – durch ein Schloss geprägt ist.
Der massige Turm lässt gleichzeitig sowohl an Schutz als auch an frühere bäuerliche Ausbeutung denken. Heute sind die meisten Gemeinden froh, wenn die Schlossbesitzer ihre Anwesen zu unterhalten im Stande sind und so zur Attraktivität der Ortschaft beitragen.
Der Rückweg führt auf einem schmalen Strässchen durch den Wald. Kurz vor Saint-Lamain kreuzen wir wiederum die Bahn, diesmal in einer schmalen Unterführung. Ein im Laufe der Zeit als Folge der nicht zu bändigenden Vitalität der lebendigen Natur unleserlich gewordenes Strassenschild warnt vor einer Begrenzung, die nur noch zu erahnen ist. Irgendwo in den Registern einer staatlichen Behörde muss dieses Schild vergessen gegangen sein, vergessen wie einst die Bahnlinie, welche über die Brücke führt. Sie – die Bahnlinie – war, wie die meisten Bahnen im Jura, im Zuge der TGV-Euphorie der 1970er- und 1980er-Jahre bereits dem Untergang geweiht, wurde dann aber doch gerettet, ja aufgewertet und gar elektrifiziert.
Seither fahren hier allerdings nur noch Schnellzüge. Die kleinen Zwischenstationen werden nicht mehr bedient; sie sind verwaist, auch der Bahnhof von Passenans-St. Lamain, wo früher meine autolosen Schwiegereltern von Basel ankamen, wenn sie ihren Sohn und seine Familie besuchten. Am schwarzen Brett der Chambre d’Hôtes lesen wir, dass, wer heute ein Billett von oder nach Saint-Lamain löst, zwischen seinem Wohnort in Saint-Lamain und der nächsten bedienten Bahnstation auf Kosten der SNCF per Taxi transportiert wird. Französische Regionalpolitik!
Wir sind zurück bei der singenden Elster, packen unsere Sachen, verabschieden uns von Christiane, der Saint-Laminoise rapatriée, und mischen uns dann noch einmal für eine kurze Weile unter die Familie. Nach der Regennacht sitzt man wieder an grossen Tischen im Garten und lässt gemeinsam die Zeit vergehen. Vielleicht gibt es noch einmal etwas zum Essen und Trinken, doch danach fragt man nicht, es wird sich schon geben.
Auf der Heimfahrt überqueren wir, wie einst die Bourbaki-Armee, bei Les Verrières die Schweizer Grenze. Heute ist es hier menschenleer; auch auf dem Bahnhof der einstigen Franco-Suisse Linie. Immerhin gibt es sie noch. In Frankreich wäre sie längst stillgelegt worden. Zwei Zugspaare pro Tag führen die SBB sogar über Les Verrières hinaus bis nach Pontarlier und Frasne.
Einmal mehr haben wir es erlebt, wie sehr sich über kürzeste Distanzen die politischen und gesellschaftlichen Kulturen unterscheiden. Es ist ein unschätzbares europäisches Privileg, dass wir uns, ohne werten zu müssen, an der Vielfalt der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Welt freuen dürfen – auch beim Zelebrieren von Familienfesten. Unsere Nachkommen werden dereinst aus der zeitlichen Distanz beurteilen können, welche Lebensstile und welche Traditionen überlebensfähig gewesen sind.