Der renommierte Berliner Popkritiker Jens Balzer (*1969) arbeitet als Kolumnist für DIE ZEIT, für Rolling Stone und den Deutschlandfunk. 2016 hat er mit seinem Buch «Pop» den Versuch unternommen, auf dem Feld der Unterhaltungskultur ein Panorama der Gegenwart zu entwerfen, und in «Pop und Populismus» von 2018 spürt er den Einflüssen identitären Gedankenguts auf bestimmte Bereiche der Musikszene nach. In seiner neuesten Veröffentlichung gräbt er nun historisch tiefer, geht nämlich zurück in das Jahrzehnt, in dem sich die aktuelle Popkultur in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit zu formieren begann: in die Siebziger.
Zerplatzte Träume
Anfangen lässt er dieses «entfesselte Jahrzehnt» 1969, und zwar mit zwei Grossereignissen, die damals für die Realisierung weltumspannender Utopien gehalten wurden, wobei sie aber die Träume auch gleich platzen liessen: Da ist einmal die Mondlandung, von der man sich den Aufbruch in den Weltraum versprach, also den definitiven Triumph über die Erdgebundenheit des Menschen.
Auf der anderen Seite steht das Festival von Woodstock, wo ein Gemeinschaftsgefühl zelebriert wurde, das über die Enge bürgerlicher Normen und patriarchaler Strukturen hinausführen sollte. Im einen Fall war’s die Wissenschaft, im andern die Jugend, die gegen alte Beschränkungen angingen, nur um dann feststellen zu müssen, dass sich die Schranken nicht wirklich durchstossen liessen. So standen schliesslich am Ende der Sechziger zwei grosse Fortschrittserzählungen vor ihrem Aus.
Diffusion in den Alltag
Aber damit, so die Pointe bei Balzer, ist eben noch lange nicht Schluss. Die Raumfahrt gelangt zwar nicht über die Umlaufbahn des Trabanten hinaus, und auch eine allgemeine Glückseligkeit auf der Basis erweiterten Bewusstseins stellt sich nicht ein. Doch technische Errungenschaften des Mondprojekts, etwa der Mikrocomputer oder Konsequenzen der Satellitentechnologie, sickern in den Alltag ein – und nicht weniger die Werthaltungen der Gegenkultur, auch wenn die als grosse Alternative gescheitert ist.
Balzer legt den Fokus klar auf den Diffusionsprozess, über den sich gegenkulturelle Standards in die Mitte der Gesellschaft ausbreiten. Dabei sind zwei Umstände von Bedeutung: Zum einen übernimmt das progressive Paradigma nicht einfach das Ruder, sondern muss koexistieren mit Lebenswelten, die weitgehend dem Gewohnten verhaftet bleiben. Zum andern verliert die alternative Kultur jetzt auch den letzten Rest eines monolithischen Charakters und zersplittert in ein höchst unübersichtliches Feld von Subkulturen.
Flirt mit der Anarchie
Einen gemeinsamen Nenner haben diese jedoch: Es geht um eine auf Dauer gestellte Differenzierung, zunächst natürlich um die Absetzung gegenüber dem «Alten», dann aber auch gegenüber parallel laufenden Konzepten und letztlich sogar gegenüber der je eigenen Linie, die sich ja nicht wieder zu einer Art von verbindlicher Tradition verhärten soll. Vielheit und permanenter Wandel sind angesagt, out dagegen Herkunft, Erfahrung sowie jede Form institutioneller Verfestigung. Und ganz klar geht es gegen das Patriarchat.
So findet sich in der Fortsetzung der Hippie-Ideale ein neues Männerbild propagiert: ein Mann, der ohne maskuline Verpanzerung auskommt, ohne demonstrative Härte oder penetrantes Dominanzgebaren. Der «Neue Mann», wie ihn etwa Konstantin Wecker besungen hat, darf soft sein, das heisst sensibel einmal gegenüber den eigenen Gefühlen, aber auch gegenüber den von anderen. Jungen dürfen sich jetzt auch mal verwirrt zeigen und brauchen sich ihrer Tränen nicht länger zu schämen. Balzer bringt als Modelle den Bastian, den Helden einer erfolgreichen Fernsehserie aus den Siebzigern, dazu den ständig nervös quasselnden Frosch Kermit, wie er überhaupt im anarchistischen Gewurstel von Hensons «Muppet Show» ein originäres Zeichen der Zeit erkennt.
Das Ekel Alfred – der Spiesser als Kontrastfolie
Aber jeder Stamm braucht eine Aussengrenze, schon gar ein derart disparater, wie ihn die alternativen Milieus darstellten. Und auch da half wieder das Fernsehen, indem es Kontrastfolien bereitstellte, auf die sich all das projizieren liess, was man nicht mehr sein wollte. Für den deutschen Sprachraum bedeutsam wurde Alfred Tetzlaff, die Hauptfigur aus der Serie «Ein Herz und eine Seele», die ab 1973 in der ARD ausgestrahlt wurde.
Das Ekel Alfred bildet die Verkörperung des Spiessers, also eines Menschen, der sich weiter ans Gestrige klammert, das heisst an Ordnung und an Autorität. Alfred ist ein Choleriker mit äusserst kurzer Zündschnur; er verhält sich tyrannisch gegen seine Familie, hasst alles «Linke», will auch partout keine Pizza essen, weil er die zugewanderten «Ithaker» verabscheut. Kurz: Er erscheint als Prototyp der «autoritären Persönlichkeit» und erinnert bezeichnenderweise im Erscheinungsbild – nämlich was Haar- und Schnauzpracht betrifft – an Nazi-Grössen.
Doch Alfred ist kein genuin deutsches Phänomen, sondern die deutsche Adaption eines amerikanischen Vorbilds, von Archie Bunker nämlich, der seit 1971 über die US-Bildschirme flimmerte und sich dort über den Niedergang des Landes aufregte, den selbstverständlich die Progressiven zu verantworten hatten.
Archie und Alfred erinnern in sehr vielem an die Wutbürger von heute; in ihrer notorischen Verstocktheit bildeten sie damals jedoch Grenzmarken für die in sich extrem vielgestaltige alternative Kultur. Sie zeigten klar an, was eindeutig nicht mehr dazugehörte. Balzer bringt das exakt auf den Punkt: «So sehr sich die Alternativ- und Gegenkulturen im Verlauf der siebziger Jahre auch differenzieren und untereinander zerstreiten – so sind sich ihre Angehörigen doch darin einig, dass sie nicht so werden wollen wie die Spiesser und Kleinbürger, in deren Welt sie hineingeboren sind. Sie sind der personalisierte Ausdruck einer entfremdeten Welt, zu der man sich in absoluter Opposition befindet.»
Entfesselung der dunklen Seite
Um es in der Kulisse von «Star Wars» zu fassen, nach Balzer einer ganz und gar zeittypischen Mythologie: Die Alternativkulturen hielten es mit den Rebellen und sahen im Imperium das Böse; mussten sie ja, denn sie traten ein für maximale individuelle Freiheit und verabscheuten so zwangsläufig jede Form von Verfügungsmacht. Aber letztlich geht auch von Dart Vader eine befremdliche Faszination aus. Die Entfesselung in den Siebzigern erscheint in der Tat höchst ambivalent: Sie setzt nämlich nicht nur emanzipatorische Impulse frei, sondern ebenso Antriebe, die der dunklen Seite zuzurechnen sind.
Balzer weist das etwa nach auf dem Feld der sexuellen Befreiung: Die Macker vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) etwa nutzten sie für ungeniertes Potenzgehabe, der Kult-Zeichner Robert Crumb lebte in seinen deftigen Underground-Comics misogyne Fantasien aus und auch die deutschen Lederhosenfilmchen bedienten rustikal patriarchale Muster. An dieser Art von Freizügigkeit sollte sich die Frauenbewegung noch eine ganze Weile abzuarbeiten haben.
Aber es gibt noch Schlimmeres: Im Sommer 1969 mutierte in Kalifornien eine Hippie-Kommune, die freie Liebe und freies Essen aus Müllcontainern praktiziert hatte, zur Mördersekte – dies unter dem Einfluss eines Anführers, der als Singer/Songwriter gescheitert und darüber offenbar paranoid geworden war. Charles Manson, der über Nacht zur Fratze der Hippie-Bewegung wurde, vermochte bei weitem nicht nur seine naiven Anhängerinnen zu blenden. Auch Leute aus dem Umfeld der Berliner Kommunarden fanden Manson cool, weil da einer das Friede-Freude-Eierkuchen-Gebabbel hinter sich gelassen hatte und zur Tat geschritten war.
Im Übrigen rekrutierten sich aus diesen Kreisen die ersten Mitglieder der RAF, die in der sozialliberal regierten Bundesrepublik ein faschistisches Staatsgebilde sehen wollten, das es mit Terror zu überziehen galt. «High sein, frei sein, Terror muss dabei sein.» In diesem Motto kondensiert sich die ganze Entgleisung eines verabsolutierten Anspruchs auf Selbstverwirklichung. Und es verfielen in Deutschland durchaus nicht nur ein paar verwirrte Anarchisten der dunklen Seite der Macht; beträchtliche Teile der linksalternativen Szene brachten dem Terror der RAF einige Sympathie entgegen.
Punk und die offene Wende nach rechts
«All you need is love» – die Hippies hatten es mit Frieden und Liebe, hielten allgemein weiblich-passive Eigenschaften hoch und zielten letztlich auf die Einebnung der Geschlechtergegensätze. Von dieser Art der Rebellion musste sich die nächste Protestgeneration natürlich absetzen, und dazu blieb eigentlich nur der Weg zu neuer Härte offen. So inszenierten sich die Punks wieder betont maskulin, nämlich rotzig, aggressiv, tendenziell selbstzerstörerisch. Dabei blieb die Bewegung allerdings ihrem Wesen nach antiautoritär und stand somit im politischen Spektrum immer noch links.
Doch gleichzeitig mit dem Aufkommen des Punk gab es in Grossbritannien einen allgemeinen Rechtsrutsch, der Fremdenfeindlichkeit, ja sogar Rassismus wieder salonfähig machte. Unter diesen Einfluss geriet auch ein Teil der neuen Protestler, die sich später in der Bewegung der Skins sammeln sollten.
Dem Zauber faschistoider Fetische erlagen allerdings auch Leute, von denen man das nicht erwartet hätte: David Bowie, der zu Beginn des Jahrzehnts mit «Ziggy Stardust» eine der ersten androgynen Ikonen lanciert hatte, wirft sich jetzt in die Pose des «Thin White Duke», bezieht offen rechtsradikale Positionen, benennt sogar in einem Interview Hitler als Vorbild.
Wir können annehmen, dass das zu grossen Teilen Show war, Provokation frei von jeder politischen Substanz. Es ist eben das Kreuz von Kulturen, die unter einem Zwang zur permanenten Differenzierung stehen, dass ihnen irgendwann die Differenzen ausgehen – zumindest die politisch korrekten. Dann scheint nur der Griff in die Mottenkiste zu bleiben, die Rückkehr zu Positionen, die mit dem Unterschied nun gar nichts am Hut haben.
Umrisse aktueller Problemlagen
Jens Balzer zeichnet die Siebziger als grosses kulturelles Labor, in dem neue Lebensformen ausprobiert und eingeübt wurden. Und das entworfene Panorama besticht durch seine Breite ebenso wie durch den Reichtum an Details: Politische Bewegungen kommen darin genau so vor wie rein pop-kulturelle Phänomene, sogar den Prilblumen oder Käpt’n Iglo wird die Reverenz erwiesen. Dabei geht Balzer nicht systematisch, sondern impressionistisch vor, er beschreibt eher als zu analysieren. Der Verzicht auf den akademischen Hammer macht die Lektüre aber leicht zugänglich und durchwegs unterhaltsam, ohne dass die Darstellung je oberflächlich würde. Im Gegenteil: Balzer legt gewissermassen die historischen Wurzeln heutiger Verhältnisse frei. In seinem bunten Bild vom «entfesselten Jahrzehnt» kristallisieren sich nämlich die Umrisse von Problemlagen heraus, mit denen wir uns aktuell herumzuschlagen haben.
Da ist einmal die latente Tendenz der Entgrenzten, ihrerseits wieder Ausgrenzungen vorzunehmen; auf der anderen Seite die Spaltung der Gesellschaft in eine modernistisch-progressive sowie eine rückwärtsgewandte, ja reaktionäre Fraktion. Gewiss, all den aufgewirbelten Differenzen kam damals etwas Verspielt-Unschuldiges zu, was jedoch primär mit dem sozioökonomischen Hintergrund zu tun hat.
Die Archies und Alfreds jener Tage sahen sich zwar auch schon von den Progressiven verspottet, doch materiell waren sie noch fest in die Mittelschichtsgesellschaft eingebettet, brauchten sich also um ihr Fortkommen keine Sorgen zu machen. Genau das ist heute, vier Jahrzehnte nach der neoliberalen Wende, anders. Jetzt sind wieder reale Verteilkämpfe im Spiel und dieser Umstand lässt die differentiellen Gegensätze zurückkippen in substantielle. Damit aber erhalten die Aggressionen, die sie wecken, eine weit bedrohlichere Qualität.
Jens Balzer: Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er, Rowohlt Verlag, Berlin 2019.