Ich bin als Gast, als Mitprogrammierer, als Beobachter, als Berichterstatter und immer als Geniesser von Anfang an, also seit über dreissig Jahren hingefahren und hab es nie bereut.
Ich will jetzt nicht erzählen, wer dieses Jahr da und wer nicht eingeladen war, wer gut war und wer schlecht. Es gab wie immer die Höhenflüge und die Abstürze, das gut Gemachte und das gut Gemeinte, das Biedere und das Verrückte, das Brillante neben dem Unzulänglichen. Eines ist mir aufgefallen. Zuerst war es nur ein Erstaunen, dann eine kleine, schliesslich eine grosse Irritation. Davon zu schreiben, verlangt eine gewisse Überwindung. Als Journalist und gelegentlicher Moderator sitze ich im Glashaus. Die Steine, die ich gleich werfen werde, können zurückfliegen. Sollen sie halt.
Zu denken gibt der unaufhaltsame Aufstieg derjenigen, die der Autor Hansjörg Schneider in seinem kürzlich erschienenen Tagebuch mit dem Titel „Nilpferde unter dem Haus“ ein bisschen höhnisch die „Sekundären“ nennt. Er meint unsereiner, die Journalisten, die im literarischen Getriebe nach der Macht greifen (Schneider denkt, sie hätten sie längst erobert). Ich weiss schon: Die strenge Unterscheidung zwischen Autoren und mit Literatur befassten Journalisten ist obsolet geworden, sogar in der deutschen Schweiz. Aber um meine Steine werfen zu können, brauche ich sie.
Schwatzunkultur
Solothurn, so lässt sich konstatieren, zahlt seinen Tribut an die allgemeine Schwatzunkultur - die Talkshow ist im Landhaus angekommen. Haben wir im Saal Platz genommen, den Blick nach vorne gerichtet, sehen wir ein Pult mit zwei genau gleich ausgestatteten Sitzplätzen: Namensschilder, Mikrophone. Dann der Auftritt im Zweierpack – Autor oder Autorin mit Moderator oder Moderatorin. Manchmal ist Gleichberechtigung nicht angebracht.
Der oder die Sekundäre eröffnet und beschliesst die Lesung, stellt banale oder absonderliche, hin und wieder auch einleuchtende Fragen, auf die der höfliche Autor einzugehen versucht, gibt das Signal zur Lesung (jetzt darf sich der Autor kurz seiner Literatur widmen, also dem, für das man gekommen ist) unterbricht oder interpretiert oder beweihräuchert das eben Gelesene und auch das gar nicht zur Diskussion Stehende.
Die Lesung darf keine Lesung sein. So etwas traut man uns Zuhörern, die wir uns ja nicht mehr für mehr als sagen wir 15 Minuten zu konzentrieren vermögen und sowieso geistig minderbemittelt sind, nicht zu. Statt dessen: Gerede, Flügelschlagen und Aufplusterungen, Geständnisse, die niemanden interessieren. Statt allfällige Absichten der Autoren auf den Punkt zu bringen, wird wild spekuliert und zerredet. Die Autoren sitzen dabei oder daneben, machen gute Miene zum Spiel, was bleibt ihnen schon übrig? Die Schlauen sprechen sich vorher mit ihren Moderatoren ab oder bringen es fertig, die Sekundären auszutricksen (indem sie lauter, schneller, nachdrücklicher reden). Die Bösen unter den Primären, den Autoren (aber das sind nur ganz ganz wenige), bestehen in eigener Sache trotzig auf ihrer literarischen Kompetenz , was dann dazu führen kann, dass die Kompetenzfreiheit der Sekundären ein bisschen zu deutlich zutage tritt.
Musenküsse
„Wie küsst die Muse heute?“ lautete die Frage, die die Programmierer den Autoren gestellt hatten, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Literaturtage ziehen sollte. Von der Talk- und von der Show-Muse geküsst wähnten sich natürlich zuallererst die Sekundären und es müssen, gemessen an Ausstoss und Wirkung, wahrlich dicke, schmatzende Küsse gewesen sein. Die Autoren taten sich ein bisschen schwerer mit dem ihnen aufgegebenen oder aufgezwungenen Thema. Wo sitzt die Muse, wann und wie agiert sie, wie wird man kreativ? So viele Autoren so viele Antworten. Zweien hab ich zugehört, von zwölf Uhr mittags bis halb eins. Es war eine Sternhalbstunde, es war kleistisch – und es war geeignet, die eben verübten Steinwürfe nicht grad ungeschehen zu machen, aber doch in Massen zu bereuen.
Kleist hat in seinem Essay „Von der allmähligen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ dafür plädiert, den Dialog mit irgendeinem und sei es auch einem unbedarften Partner zu suchen, um so, während des Redens, den Musenkuss zu spüren, das kreative Moment, die Erkenntnis, die zu nennenswerten Gedanken, zu Sprachkonstrukten, vielleicht zu Literatur führen würden. Für so eine Übung könnte einem Autor sogar ein Moderator dienen, obwohl Kleist, an die hochkarätige Konversationskultur seiner Zeit gewohnt, aus dem Geschwafel einer heutigen Talkshow kaum etwas Vernünftiges, geschweige denn eine Inspiration hätte ziehen können.
Von der Muse küssen im Gemeinderatsaal des Solothurner Landhauses liessen sich, eine halbe Stunde lang, zwei Autoren, Martin R. Dean und Marcel Beyer. Wahrscheinlich, dass sie sich vorbereitet und abgesprochen hatten, eine empfehlenswerte Massnahme angesichts des Akrobatenakts, den sie vor Publikum auszuführen gedachten. Wie kommt man zu einer Inspiration? Wie fängt das an, was Monate oder Jahre später zwischen zwei Buchdeckel geklemmt in die Welt der Leser entlassen wird? Egal, ob dabei das Liegen auf einer Matratze (Dean) oder das notorische Vorbeifahren an einem Autobahn-Hotel (Beyer) eine wichtige Rolle spielt – die beiden Wortakrobaten verstanden es, Licht in einen Bereich zu bringen, der viel mit dem Unsagbaren oder Unbewussten zu tun hat, sich der Erklärung, dem Verständnis im Allgemeinen verweigert, allenfalls angenähert, vermutet, gefühlt werden kann. Und übrigens: die beiden Primären vollbrachten ihr Kunststück ganz ohne Hilfe einer Sekundären – was wohl mit der Grund fürs Gelingen war…