Als im Juni 1970 die Schweiz über die Schwarzenbach-Initiative1 abstimmte, verwarfen die Stimmenden im Kanton Tessin sie am stärksten. Am 9. Februar 2014 hingegen nahm der Kanton auf der Alpensüdseite die Initiative gegen die Masseneinwanderung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mit 68,2 Prozent Ja-Stimmen am wuchtigsten an. In der Zwischenzeit hatte sich vieles verändert: in der Schweiz und insbesondere im Tessin. Viele haben heute Mühe, das Tessin zu verstehen, in dessen fünfköpfiger Regierung die populistische Lega dei Ticinesi mit zwei von fünf Staatsräten die relative Mehrheit besitzt. Doch die Lega drückt sich darum, die ihr zustehende Führungsrolle zu übernehmen. Gegenwärtig ist im Tessin fast alles blockiert.
Ein Erdrutschsieg für die Initiative der SVP
Über zwei Drittel der Tessinerinnen und Tessiner haben der Volksinitiative der SVP gegen die Masseneinwanderung zugestimmt; nur gerade drei kleine Berggemeinden stimmten dagegen. Das ist eine demütigende Niederlage für die historischen Parteien, die Wirtschaft und die Gewerkschaften, die alle für ein Nein geworben hatten. Sie bekämpften die Volksinitiative jedoch nicht mit Entschiedenheit; entschlossen traten ihr einzig die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei (SP) entgegen. Flau war die Nein-Kampagne dennoch, weil im Tessin alle den Kampf von vornherein als verloren erachteten; viele wiegten sich in der (trügerischen) Sicherheit, in der übrigen Schweiz werde das Nein überwiegen.
Die im Tessin kleine SVP war nicht allein. Die Lega kann das deutliche Ja denn auch als ihren Erfolg betrachten. Die Hilfe der Grünen war für den Sieg nicht ausschlaggebend: Ihr Vordenker, Sergio Savoia, hatte die Stimmung im Kanton richtig eingeschätzt. Infolge seines Geltungsdrangs und dank seiner kommunikativen Fähigkeiten löste er in den Medien einen Wirbel aus, und es gelang ihm, die Mehrheit der kleinen grünen Kantonalpartei mitzureissen. Ein Grüner, der sich mit der Lega und der SVP verbündet, das war eine Sensation. Sergio Savoia, der frühere SP-Grossrat, kehrte den Genossen den Rücken, auch weil er seinerzeit nicht als Kandidat für die Regierung aufgestellt worden war. Er näherte sich den zerstrittenen Tessiner Grünen und hauchte der Partei neues Leben ein. Er benutzte seine von den Medien beachteten Auftritte auch dazu, die Tessiner Sozialdemokraten zu verspotten, was nicht nur schlecht aufgenommen worden ist. Die Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative wird von den Befürwortern als grosser Sieg gefeiert. Sie üben scharfe Kritik am Bundesrat, der stets nur nachgebe, sei es gegenüber den USA oder der EU, betont Eros Mellini, Sekretär der Tessiner SVP. Wir hätten unwürdige Politiker – dazu zählt er auch die Bundesräte – die «dazu neigen, das Land und seine kostbarsten Werte wie die Freiheit und die Souveränität zu verraten», schreibt Mellini in einem Beitrag im einflussreichen Corriere del Ticino. Diese Argumentationsweise zeigt auf, dass die Abstimmungssieger in ihrer Begeisterung Mühe haben, auf dem Boden der Realität zu bleiben. Sie betrachten die EU nicht als einen wichtigen, oft schwierigen Partner, sondern als eine Diktatur, welche die Schweiz ausbeuten und zerstören will.
Konkurrenz in traditionellen Berufen
Im Tessin bangen viele Männer und Frauen um ihre Stelle – manche haben sie bereits verloren. Infolge der schweren Krise in Italien sind eine Vielzahl gut qualifizierter Italiener und Italienerinnen bereit, für Löhne von 3000 oder 2000 Franken und darunter zu arbeiten. Die Angst vor dieser Konkurrenz, die Befürchtung, durch billige GrenzgängerInnen ersetzt zu werden, hat nach übereinstimmender Meinung den Ausschlag für das massive Ja zur SVP-Initiative gegeben.
In den letzten zehn Jahren sind im Tessin mit seinen 340 000 Einwohnern und den rund 200 000 Arbeitsplätzen über 14 000 neue dazu gekommen. Doch die Zahl der Arbeitslosen blieb mit über 6000 (4 Prozent) überdurchschnittlich hoch. «Es gibt viel mehr Arbeitslose im Tessin», betont SP-Präsident Saverio Lurati,2 denn die vielen Arbeitnehmer, welche keine Arbeitslosenentschädigung mehr erhalten, seien nicht mitgezählt. Gleichzeitig ist seit 2003 die Zahl der GrenzgängerInnen um 80 Prozent von 33 000 auf über 60 000 gestiegen und sie haben den Grossteil der zusätzlichen Arbeitsplätze erhalten. GrenzgängerInnen mit niedrigen Löhnen sind auch in zahlreichen italienischen Firmen beschäftigt, die sich in den letzten Jahren infolge der ausgebauten Infrastruktur, der guten Dienstleistungen und wegen der entgegenkommenden Behörden im Tessin niedergelassen haben. Schon vor über 20 Jahren empfahl Wirtschaftsprofessor Remigio Ratti, die Grenzgänger zu kontingentieren, was eine stärkere Konkurrenz um ArbeitnehmerInnen, höhere Löhne und das Ausscheiden der schwächsten Betriebe zur Folge gehabt hätte. Die Gewerkschaften begrüssten den Vorschlag, während die Arbeitgeberverbände ihn kategorisch ablehnten. Die strukturelle Schwäche der Tessiner Wirtschaft ist geblieben und die Löhne im Tessin liegen weiterhin um einen Sechstel tiefer als im schweizerischen Durchschnitt.
Zwar sind ein guter Teil der GrenzgängerInnen immer noch wenig qualifiziert.
Zu Tausenden sind in den letzten Jahren jedoch gut bis sehr gut ausgebildete Italiener und Italienerinnen in jenen Branchen angestellt worden, die zum traditionellen Tätigkeitsbereich im Tessin gehören: auf dem Finanzplatz in Banken, Versicherungen, Treuhandbüros, im Handel, bei Anwälten, in der Forschung, in Informationsberufen und sogar an Schulen. Darüber sind im Tessin viele erbittert. Dieser Trend hängt auch damit zusammen, dass sich Italien seit 2008 in einer tief greifenden Krise befindet. Zuvor, im Jahr 2004, war in der über neun Millionen zählenden Lombardei der Anteil der Arbeitslosen geringer als im Tessin, erinnert sich Rinaldo Gobbi, Vizedirektor der Tessiner Handelskammer. Von der Not der Italiener profitieren jetzt viele Arbeitgeber der verschiedensten Branchen schamlos; sie missachten die im Tessin üblichen oder vorgeschriebenen Saläre und zahlen Hungerlöhne. Auch auf dem Finanzplatz wird weniger verdient. In den Treuhandbüros z. B. beträgt der Mindestlohn 32 00 Franken, und das in einem Wirtschaftszweig, in dem fast ausschliesslich Einheimische beschäftigt sind.
Der Unmut über das Lohndumping ist verständlich, und es ist umso unerträglicher, als die vielen Missbräuche trotz verstärkter Kontrollen durch die Tripartite-Kommission schwer zu beweisen und zu beseitigen sind. Es gibt nämlich Lohnabrechnungen, welche die zulässige Mindestsumme ausweisen, doch muss der Arbeiter danach einen Teil seines Salärs zurückzahlen. Über solche skandalösen Praktiken empören sich nicht allein Gewerkschafter, auch der Vizedirektor der Handelskammer hat davon Kenntnis. «Die Arbeitgeber tragen für diesen Missstand eine grosse Verantwortung», betont Meinrado Robbiani, Sekretär der christlichsozialen Gewerkschaft im Tessin.
«Das Ergebnis von 20 Jahren Lega, Neoliberalismus und Deregulierung»
Trotz allem: Die GrenzgängerInnen sind für die Tessiner Wirtschaft auch nach dem 9. Februar unentbehrlich. Darin stimmen Arbeitgeber und Gewerkschafter überein, denn die Bauwirtschaft, die Industrie und das Gesundheitswesen würden ohne sie stillstehen. Umso ärgerlicher ist die Hetze der Lega und der SVP gegen die GrenzgängerInnen – sie haben sie auf Plakaten als Ratten dargestellt, die sich am (Tessiner) Käse gütlich tun. «Mit menschenverachtender Propaganda gewinnt vor allem die Lega Stimmen », empört sich Enrico Borelli, Gewerkschaftssekretär der Unia. Erstaunlich ist, dass jene Tessiner, die fürchten, ihre Stelle an einen Grenzgänger zu verlieren, nicht auf jene Arbeitgeber zornig sind, die Grenzgänger zu Hungerlöhnen anstellen. Auch Unternehmer, welche der Lega oder der SVP nahestehen, wettern gegen die GrenzgängerInnen, Lega-Gründer Giuliano Bignasca sogar besonders laut, obschon er wie andere Unternehmer selber welche beschäftigte. Dieser Widerspruch stört die Wähler offenbar nicht. «Das ist das Ergebnis von 20 Jahren Lega, Neoliberalismus und Deregulierung; die Solidarität ist Vergangenheit, jeder Arbeitnehmer ist des andern Konkurrent», stellt Gewerkschafter Borelli erbittert fest.
Dienstleistungserbringer – Missbräuche ohne Ende
Das Abkommen der Schweiz mit der EU über die Personenfreizügigkeit hat unter der harmlosen Bezeichnung «ausländische Dienstleistungserbringer » zwei neue Kategorien: einerseits die Selbständigen, meistens Bauhandwerker, im Tessin «padroncini» genannt; andererseits die entsandten Arbeitnehmenden, die von schweizerischen oder ausländischen Firmen angestellt werden. Alle dürfen pro Jahr während 90 Tagen in der Schweiz ohne Bewilligung arbeiten; sie müssen sich lediglich per Internet bei den Behörden im Voraus anmelden. Die selbständigen Padroncini zahlen keine Mehrwertsteuer, sofern ihr Umsatz in der Schweiz nicht mehr als 100 000 Franken beträgt. Die beiden erwähnten Kategorien fallen zahlenmässig weniger ins Gewicht als die Grenzgänger, doch häufen sich bei ihnen die Missbräuche. Viele Padroncini versteuern das in der Schweiz verdiente Einkommen in Italien nicht und haben deshalb viel geringere Kosten als regulär arbeitende Handwerker. Daher können sie zu unschlagbaren Tiefstpreisen arbeiten. Verärgert über diese illoyale Konkurrenz sind im Tessin auch die Arbeitgeberverbände.
Noch schwerere Missbräuche wurden in der Kategorie der entsandten Arbeitnehmenden aufgedeckt. Eine Reportage des Fernsehens der italienischen Schweiz in der wöchentlichen Sendung «Falo`» zeigte hanebüchene Zustände. Auf der Grossbaustelle des Kulturzentrums von Lugano erhielten ausländische Arbeiter eines Subunternehmens durch einen Vermittler ihre Stelle, dem sie einen beachtlichen Teil ihres Verdiensts abgeben mussten, eine Praxis, die gemäss Aussagen italienischer Arbeiter im krisengeschüttelten Italien üblich sei. Ein anderer Subunternehmer stellte Arbeiter aus Polen an, die auf der Baustelle ihr Essen einnahmen und auf dem Boden schlafen mussten; andere zahlten für eine miese Unterkunft einen Wucherzins.
Seco verharmlost die Missbräuche
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) verharmlost die Bedeutung dieser unglaublichen Missbräuche. Der Bericht über die Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und die Kontrollen der tripartiten Kommissionen im Jahr 2013 geht auf die besondere Situationen des Tessins nicht ein. Die Schlussfolgerung lautet: «Wie die Ergebnisse des Berichts zeigen, haben sich die flankierenden Massnahmen als Instrument gegen unerwünschte Auswirkungen des Personenfreizügigkeitsabkommens auf die schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingungen bewährt und die Kontrolldichte hat sich als ausreichend erwiesen.»3
Die flankierenden Massnahmen und die Kontrollen werden hingegen im Tessin als ungenügend und zu wenig wirksam erachtet. Laut dem Tessiner Baumeisterverband ist die Tätigkeit der ausländischen Dienstleister nicht zu unterschätzen. Im Jahr 2013 sind von ihnen über 190 000 Arbeitsstunden geleistet worden. Das entspricht der Tätigkeit von rund tausend vollbeschäftigten Arbeitnehmern und einem Umsatz von 180 Millionen Franken, immerhin 7 Prozent des Umsatzes der Baubranche. Das ausnahmsweise einige Tessin hat denn auch jüngst gefordert, die Padroncini und die entsandten Arbeitnehmenden ebenfalls der Kontingentierung zu unterstellen. Der Bundesrat lehnte das Begehren Ende Juni zur grossen Enttäuschung im Tessin ab. Verschweigen wir nicht, dass die Tessiner damit eine höchst zweispältige Haltung einnehmen. Die Padroncini werden nämlich laut einem im Tessin veröffentlichten Dokuments von Firmen und Privaten im Tessin – auch von prominenten Mitgliedern von Lega und SVP – gerufen, gerade weil sie dank Umgehung der Gesetze Tiefstpreise anbieten.
Forderungen aus dem Tessin
Im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit verlangt das Tessin weitere Korrekturen, um Missbräuche einzudämmen. Das Begehren der Tessiner Handelskammer, die Liste der Padroncini und der Unternehmen, die entsandte Arbeiter beschäftigen, zu veröffentlichen, lehnte die Tessiner Regierung aus rechtlichen Gründen ab. Hingegen ist die Liste jener ausländischen Firmen, die wegen Verletzung der Arbeitsbedingungen, insbesondere wegen zu tiefer Löhne, gesperrt sind oder waren, auf der Internetseite des Seco zu finden. Die Forderung, die Padroncini dürften nicht weiterhin privilegiert und von der Mehrwertsteuer befreit sein, will der Bundesrat endlich erfüllen, nach Auskunft der Handelskammer erst im Rahmen der gegenwärtigen Mehrwertsteuerrevision, sodass die illoyale Konkurrenz noch einige Zeit fortdauern wird.
Ein kurzer Blick zurück drängt sich auf: Infolge der Deregulierung und der Globalisierung gingen seit den 199 0er-Jahre im Tessin viele begehrte Arbeitsplätze bei Post, Telefon, SBB, Zoll und Militär verloren. Überdies verlagerten zahlreiche Schweizer Unternehmen ihre Produktionsstätten vom Tessin in die Tieflohnländer des Ostens. Fast einem Volksaufstand gleich kam der Protest gegen die 2008 von den SBB angedrohte Schliessung der Werkstätten in Bellinzona. Es war ein Aufbegehren gegen die «Landvögte », wie «Bundesbern» in Erinnerung an die Zeit, als das Tessin ein Untertanengebiet der Alten Eidgenossenschaft war, in letzter Zeit immer wieder genannt wird. Dazu formulierte der freisinnige Ständerat Fabio Abate einige Gedanken. Die weltweite Entwicklung der letzten Jahre habe, wie schon erwähnt, das Tessin viel Arbeitsplätze gekostet, doch der Bund habe keineswegs beabsichtigt, das Tessin zu schwächen. Abate stellt jedoch eine Gleichgültigkeit der Miteidgenossen gegenüber dem Tessin fest, während die Tessiner sich auf sich selbst zurückzögen und von neuen politischen Kräften angehalten würden, sich zu entrüsten und ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, als wären sie um ihre Entscheidungsfreiheit und ihre Vorrechte gebracht worden. «Das Tessin leidet heute unter einem Mangel an Weitsicht und einer Strategie, zukunftsgerichtete Entscheide zu fällen», erläutert der Ständerat, der anfügt: «Auf der Alpennordseite sagt man, dass jedes Problem auch eine Chance beinhaltet, im Tessin hingegen erwachsen aus jeder Chance – leider – viele Probleme.»
Abate sieht richtig, wenn er bedauert, dass sich Bern in letzter Zeit kaum ums Tessin kümmere. Erst das erdrückende Ja zur SVP-Initiative im Tessin hat den Bundesrat aufgeschreckt: Während des Abstimmungskampfes fand kein Regierungsmitglied den Weg ins Tessin, doch seit dem 9. Februar sind alle sieben im Tessin prominent in Erscheinung getreten. Ob das etwas bewirken wird, bleibt abzuwarten.
Bignasca löste einen politischen Flächenbrand aus
Versuchen wir die Ursachen zu ergründen, weshalb die am 17. Januar 199 1 gegründete Lega dei Ticinesi mit Giuliano Bignasca als Präsidenten auf Lebenszeit die politische Landschaft des Tessins umpflügen konnte. Bis Ende der 1980er-Jahre war die FDP unbestritten die tonangebende Partei, einen Platz an der Sonne genossen auch die Christendemokraten und, in bescheidenem Masse, die Sozialdemokraten. Fast alle Tessiner wurden in eine der drei politischen Familien geboren und blieben ihr verbunden; die lokalen Parteisekretäre konnten vor allem in kleineren Gemeinden die Wahlresultate sehr genau voraussagen. In den 197 0er-Jahren trat der linkssozialistische Partito Socialista Autonomo (PSA) auf den Plan, dem vor allem enttäuschte Sozialdemokraten und Christendemokraten Durchschlagskraft verliehen. Diese Partei kämpfte gegen Vetternwirtschaft und Korruption und deckte manchen Missstand auf. Der PSA unter Führung des Ingenieurs Pietro Martinelli gewann, dank seriöser Arbeit, den Respekt vieler Politiker. Als 1987 dem PSA der Sprung in die Regierung gelang, wurde seine Opposition leise.
Der Unmut über fehlende Transparenz und die Klüngelei wuchs: Den Funken zündete Bauunternehmer Giuliano Bignasca aus Lugano, ein enttäuschter Liberaler. Er entfachte einen politischen Flächenbrand. Nur drei Monate nach ihrer Gründung eroberte die Lega bei den kantonalen Wahlen im April 199 1 zwölf von neunzig Sitzen im Grossen Rat. Ein halbes Jahr später erreichte die Lega zwei der acht Nationalratsmandate des Kantons und mit einem ehemals liberalen Arzt einen der beiden Sitze im Ständerat. Alle diese Erfolge erzielte die Lega mit einem widersprüchlichen Miniprogramm, das mehr Leistungen zugunsten der Bevölkerung und niedrigere Steuern versprach. Ihr Kampfblatt, Il mattino della domenica, verbreitete in vulgärer Sprache ihre ätzende Kritik und ihre simplen Vorschläge, ihre Gegenspieler wurden systematisch verhöhnt und diffamiert. Die Bundesräte zum Beispiel wurden stets als Dummköpfe oder Esel bezeichnet. Offenbar war die Schadenfreude darüber, dass jemand «die da oben» – berechtigt oder nicht – an den Pranger stellte, so gross, dass die Lega 1995 mit dem Anwalt und Nationalrat Marco Borradori in die Tessiner Regierung einzog, und 2011 gewann sie sogar zwei Sitze im fünfköpfigen Staatsrat. Das war deshalb möglich, weil im Tessin, im Unterschied zu andern Kantonen, der Proporz auch für die Wahl der Regierung gilt.
Doppelter Sieg der Lega
«Die Lega hat zweimal gewonnen: Sie ist stärkste Partei in der Regierung, und die anderen Parteien imitieren ihren Stil und übernehmen ihre Themen », kommentiert der ernüchterte Gewerkschafter Borelli. Ermöglicht habe das auch die fast gleichzeitig einsetzende Globalisierung und Deregulierung, mit verheerenden Auswirkungen auf die Arbeitnehmer. Zu Beginn nahmen die Politiker das Phänomen Lega nicht ernst, sie dachten offenbar, es handle sich um ein Strohfeuer, kritisiert Gewerkschafter und alt CVP-Nationalrat Robbiani.
Die historischen Parteien (so werden im Tessin die Freisinnigen, die Christendemokraten und die Sozialdemokraten genannt) scheinen desorientiert. Der Politologe Oscar Mazzoleni erläutert: «Infolge der Globalisierung und weiteren Veränderungen in der Gesellschaft können sie nicht mehr wie früher ihren Anhängern einen Posten oder deren Kindern eine Lehrstelle verschaffen.» Die einst starke Bindung an eine Partei hat sich auch wegen der grösseren Mobilität und dem Wandel im Informationsangebot gelockert. Die Lega setzt ihrer Gratiszeitung Il mattino della domenica gezielt ein, um ihre einfachen Botschaften und ihre Forderungen zu verbreiten. «Polarisierende Aussagen werden von den Medien sofort übernommen und auch via Facebook und Twitter weiterverbreitet, sodass in der Gesellschaft eine Daueraufregung geschaffen wird», sagt Mazzoleni.
Die Lega wechselt ihre Meinung wie andere das Hemd. Im Grossen Rat (Legislative) unterstützte sie die von der Regierung und ihren Staatsräten beschlossene Kürzung der Beiträge an die Krankenkassenprämien, entschied sich jedoch wenig später, die Gesetzesvorlage in der Volksabstimmung zu bekämpfen. Stets verlangte die Lega, die Ladenöffnungszeiten seien zu verlängern, die Vorlage der Regierung wurde dann im Sommer im Grossen Rat mit den Stimmen der Lega auf Eis gelegt. Wird die Lega für die dauernden Meinungswechsel bestraft und ihren zweiten Regierungssitz im nächsten April verlieren? Mazzoleni meint dazu: «Im ständigen Getöse von Kritik und von neuen Vorschlägen rückt schnell in den Hintergrund, was zuvor versprochen wurde.»
Die absolute Autorität von Lega-Gründer Giuliano Bignasca, der im Frühjahr 2013 verstorben ist, fehlt heute. Die Lega ist nun oft in zwei Lager gespalten: einerseits die Regierungsfraktion unter Führung des populärsten Tessiner Politikers, Marco Borradori, dem Stadtpräsidenten von Lugano, andererseits die Protestbewegung, vertreten durch Nationalrat Lorenzo Quadri, gleichzeitig Mattino-Chefredaktor und Mitglied der Stadtregierung von Lugano. In seiner Sonntagszeitung zerpflückt Quadri Entscheide der Tessiner wie der Luganeser Regierung, der er selber angehört.
Die Lega ist nicht die einzige Partei, die gleichzeitig in der Regierung und in der Opposition ist. Bei der SP, die im Staatsrat oft unterliegt, besteht die Tradition, gegen unsoziale Vorlagen das Referendum zu ergreifen; auf diese Weise wird sie manchmal zur Gewinnerin. «Zuvor verfügten FDP und CVP im Grossen Rat über die Mehrheit und brachten die Vorlagen der Regierung mühelos durch, während zurzeit alle der Regierung und gleichzeitig der Opposition angehören», fasst Mazzoleni die konfuse Situation zusammen.
Das populistische Fieber erfasste auch die FDP, welche mit einer Petition mit 10 000 Unterschriften die Kündigung des Grenzgängerabkommens mit Italien aus dem Jahr 1974 verlangt. Das ist erstaunlich, denn die FDP, im Tessin die Partei des Finanzplatzes, befindet sich in dieser Frage in Opposition zur Tessiner Bankiervereinigung. Die Petition wurde Mitte Juni den Bundesbehörden übergeben, eine Geste gegenüber der Tessiner Bevölkerung, um zu zeigen, dass sich die Freisinnigen dem Grenzgängerproblem annehmen. Obwohl die Petition die Kündigung bis Ende Juni 2014 verlangt, weiss FDP-Präsident Rocco Cattaneo, dass sie bis Frühling 2015 in einer Schublade ruhen wird, denn bis zu diesem Zeitpunkt möchte Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf die Steuerverhandlungen mit Italien zu einem guten Ende führen. Mit der Kündigungsforderung der FDP ist die freisinnige Tessiner Finanzdirektorin Laura Sadis nicht einverstanden, was ihr öffentlich geäusserte Kritik ihres Parteipräsidenten eintrug. Da Cattaneo schon wiederholt gegen die allzu unabhängige Sadis gestichelt hatte, kündigte diese im Frühsommer an, sie werde bei den nächsten Wahlen nicht mehr kandidieren. Das bringt die Freisinnigen in eine heikle Lage, denn sie möchten unbedingt ihre Vormachtstellung zurückerobern und der Lega einen Regierungssitz entreissen. Es könnte sich aber als Wunschtraum erweisen, zwei Sitze ohne den Bisherigenbonus zu erobern.
Im Tessin sind sich viele einig, dass die von der Lega dominierte Regierung wenig erreicht hat, zumal sich die Lega aus der Verantwortung stahl und das ihr angebotene Finanz- und Wirtschaftsdepartement nicht übernehmen wollte. Aber auch die zwei bürgerlichen Parteien haben wenig bewirkt und nicht versucht, mit vereinten Kräften sich für bessere Arbeitsbedingungen und eine gesunde Wirtschaft einzusetzen. Gegenwärtig wagt kaum jemand eine Prognose und viele scheinen sich damit abzufinden, dass die Lega nochmals vier Jahre lang stärkste Partei bleiben wird.
Italien – ein schwieriger Nachbar
Bignasca und die Lega haben stets gegen Italien gewettert und ausgeblendet, dass Italien in der Nachkriegszeit viel zum Wohlstand im Tessin beigetragen hat. Mit dem Geld, das viele ItalienerInnen seinerzeit wegen der Inflation oder aus Furcht vor einer linken Regierung ins Tessin gebracht haben, ist der Finanzplatz zu einem wichtigen Wirtschaftszweig gewachsen. Mit Italien besteht ein Doppelbesteuerungsabkommen, doch im Tessin wird nicht verstanden, dass Italien im Jahr 199 8 die Schweiz auf die schwarze Liste der Steuerparadiese gesetzt hat. Die Tessiner sind überzeugt, der Bundesrat sei gegenüber solchen Unkorrektheiten der italienischen Behörden zu nachsichtig, zudem wendet Bern die bilateralen Verträge grosszügig an, sodass es für italienische Unternehmen einfach ist, in der Schweiz tätig zu sein, während für Tessiner Unternehmen in Italien die Hürden fast unüberwindlich sind.
Noch nachteiliger fürs Tessin sind die Auswirkungen der bereits erwähnten schweren Krise im Nachbarland. Die Lega spricht verächtlich von «fallitalia», «Konkurs-Italien», und sie will zudem verhindern, dass der Kanton Tessin Geld für die schweizerische Präsenz an der Expo 2015 in Mailand ausgibt. Das Referendum gegen den vom Grossen Rat beschlossenen Expo-Kredit wurde im Frühsommer mit 12 000 Unterschriften eingereicht, ein grosser Erfolg für die Lega. Kaum jemand glaubt, dass die Tessiner dem Kredit im Herbst zustimmen werden. Um der Blamage zu entgehen – das Tessin hat sich gemeinsam mit Graubünden, Uri und dem Wallis für ein Expo-Projekt verpflichtet –, fand der Kanton private Sponsoren und setzt auf einen Beitrag aus dem Lotteriefonds.
Im Tessin sehen viele die Expo im nahen Mailand – Chiasso ist näher bei Mailand als Aarau bei Zürich – als Chance, sich vor einem grossen Publikum zu präsentieren und fürs Tessin als Ferien- und Wirtschaftsstandort zu werben. Die Lega will davon nichts wissen und deren Verachtung für Italien trübt ihren Blick, denn nur wenn Italien wirtschaftlich wieder erstarkt, werden weniger Italiener bereit sein, zu Hungerlöhnen im Tessin zu arbeiten. Mit noch so strengen Kontrollen allein wird das Lohndumping nie beseitigt werden. Es liegt zudem im Interesse des Tessins, ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn aufzubauen und die Zusammenarbeit über die Grenze hinweg zu stärken.
Warten auf eine lösungsorientierte Politik
Allmählich ärgern sich immer mehr Politiker über die aggressive und widersprüchliche Lega. Der CVP-Grossrat und Fraktionschef Fiorenzo Dado` erklärt: «Viele haben das vulgäre Gehabe der Lega und ihr unseriöses Politisieren satt, aber sie üben nur leise Kritik, da sie nicht riskieren wollen, jeden Sonntag im Blatt der Lega an den Pranger gestellt zu werden.» Die erpresserische Politik der Lega lohnt sich also vorerst noch. Doch viele sind sich durchaus bewusst, dass eine offene Diskussion über die Lage im Tessin und das gemeinsame Suchen nach Wegen aus der Sackgasse dringend nötig wären. SP-Präsident Saverio Lurati ist für eine solche Wende, doch für seine kleine Partei sei das eine sehr schwierige Aufgabe. Ist der Leidensdruck noch zu gering? In dieser heiklen Situation sollte man erwarten dürfen, dass die historischen Parteien versuchen, die wichtigsten Probleme gemeinsam anzugehen, damit die Tessiner wieder Selbstvertrauen gewinnen können und ein Hauch Optimismus durch den Kanton weht.
Anmerkungen
1 Die sogenannte Schwarzenbach-Initiative verlangte die Begrenzung der ausländischen Bevölkerung auf 10 Prozent; es handelt sich um die erste Anti-Ausländer-Initiative, die in der Schweiz zur Abstimmung kam, sie wurde am 7. Juni 1970 mit 46 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt.
2 Bei allen Zitaten dieses Artikels handelt es sich um autorisierte Zitate aus Gespräche des Autors mit den genannten Personen.
www.seco.admin.ch/dokumentation/publikation/00008/00022 /04563 /index.html?lang=de, 10 (Abfrage 18.8.2014).
Erschienen in:
Widerspruch 65, Europa, EU, Schweiz – Krise und Perspektiven224 S., Fr. 25.-/€ 18.-, Oktober 2014, www.widerspruch.ch rotpunktverag, Zürich, ISBN 978-3-85869-592-5