Eine Schifffahrt auf der Aare von Solothurn nach Biel gibt Anlass, über die Schicksalsgemeinschaft des hiesigen Menschen mit den Kräften der Natur nachzudenken. Seit dem 18. Jahrhundert haben Wasserbauer mit mutigen Projekten dieses Land mitgestaltet.
Es ist einer der letzten heissen Sommertage. Pensionierte und andere zeitlich Ungebundene haben sich schon lange vor der Abfahrtszeit in hellen Scharen am Steg eingefunden, der versteckt in einem kleinen Park kaum hundert Meter südlich des Krummturms liegt, dem ältesten originalen Bauwerk der einstigen Solothurner Stadtbefestigung, der seinen Namen nicht etwa einem krummen Mauerwerk, sondern dem asymmetrischen Dach verdankt.
Als schliesslich alle an Bord sind und das Schiff abgelegt hat, taucht zwischen den Bäumen eine Frau auf und fordert den Kapitän gestikulierend zur Umkehr auf. Die Schiffsbesatzung ist offenbar anders ausgebildet worden als die Strassenbahnangestellten einer im Nordwesten gelegenen Schweizer Stadt, von denen man sagte, sie hätten sich beim Herannahen verspäteter Passagiere in den 1960er Jahren jeweils zugerufen: «Hau ab, s’kömme Lüüt!» Es braucht zwar etwas Zeit und Geschick, das Schiff zurück an den Steg zu manövrieren, aber als es soweit ist, haben sich dort drei weitere verspätete Passagiere eingefunden, welche wohl die erwähnte Frau als beste Sprinterin der Gruppe vorausgeschickt hatten.
Nun kann sich die «Stadt Solothurn» definitiv auf ihre Wasserreise zum Bielersee machen. Daniel und ich haben das offene Vorderdeck dem Innenrestaurant vorgezogen. Am Bug ist die wunderbare Flusslandschaft am besten zu geniessen und die Fahrkünste des Kapitäns lassen sich kompetent begutachten. Dieser kennt die richtige Fahrspur offensichtlich bestens, obschon auf der Aare – anders als auf den meisten schiffbaren Flüssen – die grünen und roten Bojen fehlen. Nur am Ufer, oft kaum sichtbar hinter Schilf und Büschen, weisen an gewissen Stellen rot umrandete Tafeln auf den minimal einzuhaltenden Abstand vom Ufer hin.
Im Oberwasser einer Staustufe – das nächste Kraftwerk (Flumenthal) liegt etwa fünf Kilometer unterhalb von Solothurn – ist das Navigieren auf einem Fluss meist unproblematisch, weil die Wassertiefe gross und der Wasserstand nahezu unabhängig von der Abflussmenge ist. Das sieht man auch dem Flussufer an: Häuser und Gärten liegen nur wenig höher als der Wasserspiegel. Auch das Freibad an der Aare am rechten Ufer, an dem wir nun vorbeifahren, scheint sich vor Hochwasser nicht fürchten zu müssen. Das war nicht immer so, doch darüber später.
Uns fällt die grosse Zahl von Schiffen auf, darunter viele teure Yachten, welche oberhalb von Solothurn in einem grossen Hafen liegen oder an beiden Ufern je zwischen zwei Pfählen festgemacht sind. Unvorstellbar, wenn an einem schönen Wochenende im Sommer ihre Besitzer alle hinauf zum Bielersee fahren wollen. Vielleicht bleibt das Chaos nur deswegen aus, meint Daniel, weil die meisten Hobby-Kapitäne ihre Schiffe kaum benützen, aber dennoch nicht daran denken, diese zu verkaufen, weil damit auch der Liegeplatz, auf den man so lange gewartet hat, verloren ginge. Wenn er sich vorstelle, dass im Winter all diese Schiffe aus dem Wasser müssen! – «Müssen sie aber nicht, die Aare gefriert nicht», höre ich den älteren Herrn sagen, der mit seiner Frau vor uns Platz genommen hat. – Wir realisieren, dass wir mitten unter einheimische Wasserspezialisten geraten sind und man sehr genau hinhört, was auswärtige Laien über «ihren» Fluss so daherplaudern.
Tatsächlich werden wir während der Fahrt noch mehrmals auf Sachverhalte aufmerksam gemacht, die wir falsch interpretieren oder allenfalls übersehen könnten – freundlich, aber bestimmt, um ja keine Zweifel aufkommen zu lassen, wer hier die Deutungshoheit über das einheimische Gewässer besitzt. Natürlich kann ich es mir nicht ganz verkneifen, die eigene Erfahrung mit Flussschifffahrt anzudeuten, erwähne beiläufig die Fahrt mit dem eigenen Schiff auf dem Rhein, den Bingener Mäuseturm, der auf einer Felsrippe mitten im Rhein liege, oder die Loreley, und merke zu spät, dass die durch zwei Flussarme gebildete Insel nordwestlich von Nennigkofen, an der wir nun vorbeifahren – sie ist gross genug für einen eigenen Bauernbetrieb – hier mehr interessiert als die singende Maid auf ihrem Felsen, welche den Männern den Kopf verdreht haben soll.
Also wandern meine Gedanken zurück vom deutschen Vater Rhein zur oft nicht weniger wilden Schweizer Tochter Aare! Wir nähern uns Altreu, dem ersten Zwischenhalt des Schiffes. Es liegt in einer engen Flusskurve, wo die Schiffe, wie ich mich von früher erinnere, auf der Fahrt flussabwärts zum Anlegen jeweils wenden müssen. Ich erwähne Daniel gegenüber – und damit wohl gegenüber dem gesamten Vorderdeck – den Storchenvater Max Bloesch (1908–1997), mit dessen Sohn Jürg ich während vieler Jahre am Wasserforschungsinstitut Eawag zusammengearbeitet hatte und der – mit Recht – immer sehr stolz auf seinen Vater gewesen war. Dieser hatte ab 1948 in Altreu eine Kolonie des damals in der Schweiz ausgestorbenen Storches aufgebaut und die Vögel während vieler Jahre durch den Winter gebracht, bis sich die Störche wieder aus eigener Kraft in der Schweiz ernähren und fortpflanzen konnten. Heute brüten in der Schweiz wieder fast tausend Paare; einige davon ziehen im Winter weiterhin südwärts, andere sind sesshaft geworden
Wir durchfahren jetzt mehrere grosse Flussschlaufen, unterqueren die Brücke der Autobahn A5, beobachten die Sportflugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flugplatz und erreichen bei Aarbrügg die Anlegestelle Grenchen. Der Ort liegt weit ab vom Fluss, am Südfuss des Jura, wo man seit jeher vor der Laune der Aare, welche das flache Tal regelmässig überflutet hatte, sicher war. Dass es heute anders ist und man zum Beispiel den Flugplatz Grenchen in die einstige Schwemmebene des Flusses bauen konnte, ist eine der Folgen der Juragewässerkorrektion, welche vor über 150 Jahren in Angriff genommen worden war.
Und schon schweifen meine Gedanken ab zu einer der grössten Ingenieurleistungen unserer Vorfahren, der Zähmung der unbändigen Kraft der grossen Alpenflüsse. Gleichzusetzen ist diese Leistung höchstens mit dem Aufbau des Schweizer Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert.
Wir Sicherheit gewohnten Mittellandschweizer vergessen nur allzu oft, dass wir in einem Land leben, welches seit dem Ende der (vorläufig) letzten Eiszeit vor rund zehntausend Jahren – und natürlich während Jahrmillionen zuvor – durch das von den Alpen abfliessende Wasser einem stetigen Wandel unterworfen war und bis heute ist, auch wenn vielerorts in stark gedämpfter Form. Es ist nicht nur das Wasser, sondern weit mehr noch das Geschiebe, das die Flüsse mit sich führen, deren Kräfte die Topografie und Bewohnbarkeit von Voralpen und Mittelland ständig verändert haben. Die sich zurückziehenden Gletscher liessen viele Seen zurück, welche zum Teil verlandeten und so neues Land schuf, welches seinerseits infolge der sich verändernden Flussbette später wieder versumpfte.
Grosse Gebiete der heutigen Schweiz waren für Siedlungen und Landwirtschaft unbenutzbar oder wurden es im Laufe der Zeit. Das wiederum hat den Erfindungsgeist und die Fantasie des Menschen beflügelt und diesem Wege eröffnet, sich gegen ungewünschte topografische und hydrologische Veränderungen zu wehren.
Aber wir wollen ihn nicht unkritisch hochjubeln, den Homo Faber: Er ist nicht nur Problemlöser, sondern vorher oft Mitverursacher. Zum Beispiel hatte die massive Abholzung in den Voralpen und im Mittelland ab dem 17. Jahrhundert zu einer Verstärkung der Erosion und damit des Geschiebetransports geführt, was die Flussrinnen verstopfte, die Pegel anhob und dadurch die Entwässerung des Umlandes verringerte, so dass dieses vielerorts versumpfte.
Die Wasserbauer schlugen vor allem zwei Gegenmittel vor, erstens die Begradigung der oft weit mäandrierenden Flussläufe, was deren Gefälle vergrössern und die Ablagerung von Geschiebe verringern sollte, und zweitens die Nutzung bestehender Seen als Rückhaltebecken für Wasser und Geschiebe und zur Verringerung der Hochwasserspitzen während Perioden starken Niederschlages. Bekannte Beispiele in der Schweiz dafür sind die Umleitung der Kander in den Thunersee (1712/13), die Umleitung der Linth in den Walensee (1811–1816) und schliesslich – das komplexeste und umfangreichste Werk dieser Art – die bereits erwähnte Juragewässerkorrektion, der wir – unter anderem – unsere heutige Fahrt auf der Aare verdanken.
Ein erstes Projekt, um die immer schlimmer werdenden Überschwemmungen unter Kontrolle zu bringen, welche jeweils bis vierzig Prozent des Kulturlandes zwischen dem Broyetal südwestlich des Murtensees und dem Aaretal bis hinunter nach Solothurn und das Seeland unter Wasser setzten und der Landwirtschaft enormen Schaden zufügten, wurde bereits 1704 ausgearbeitet. Aber es vergingen rund 150 Jahre, bis 1868 die Arbeiten an der sogenannten Ersten Juragewässerkorrektion aufgenommen wurden. Sie war 1891 vollendet.
Mit der Umleitung der Aare ab Aarberg durch den neu erstellen Hagneckkanal in den Bielersee, dem Bau eines neuen Bielerseeabflusses von Nidau in den alten Aarelauf bei Büren an der Aare und der Verbindung von Murten-, Neuenburger- und Bielersee durch Broye- und Zihlkanal, durch welche das Wasser bei Hochwasser auch rückwärts fliessen kann, entstand ein gigantisches Rückhaltebecken für die Aare. Die Grundidee dieses gewaltigen Projektes hat sich bis heute bewährt, auch wenn es im Rahmen der Zweiten Juragewässerkorrektion (1962–1973) durch Vertiefung der Kanäle nachgebessert werden musste.
Unterdessen haben wir Büren an der Aare erreicht, das einzige Städtchen zwischen Aarberg und Solothurn, das dank der Topografie des Umlandes direkt an die alte Aare gebaut werden konnte. Seit dem 13. Jahrhundert wird die Aare hier von einer Holzbrücke überquert, welche im Laufe der Geschichte mehrmals zerstört und wieder aufgebaut worden war. Als Fussnote sei erwähnt, dass die letzte Zerstörung der Brücke am 5. April 1989 durch einen Brand verursacht wurde. Ein Bekennerschreiben lässt vermuten, dass das Feuer durch die jurassischen Béliers gelegt worden war. Natürlich wurde die Brücke wieder in der alten Form aufgebaut.
Oberhalb der Brücke mündet der Altlauf der Aare ein, welcher einst in einem grossen Bogen an Meinisberg vorbeigeführt hat. Von hier bis zum Bielersee fahren wir auf dem Nidau-Büren-Kanal, der zum Teil der alten Zihl, dem ehemaligen Abfluss des Bielersees folgt. Etwas später queren wir – ohne es zu merken – den alten Aarelauf, der von Lyss über Meinisberg in einer grossen Rechtskurve nach Büren führte. Ursprünglich hatte man geplant, auch unterhalb von Büren einige Aareschlaufen zu begradigen, so bei Altreu und Nennigkofen, aber – für den heutigen Schiffsreisenden zum Glück – hat man darauf verzichtet.
Nun trennt uns vom Bielersee nur noch das Regulierwerk von Port, mit welchem der Wasserstand in den drei Seen und der Abfluss der Aare Richtung Solothurn gesteuert wird. Eine Schleuse hebt uns knappe drei Meter in die Höhe. Während das Schiff langsam nach oben steigt, denke ich darüber nach, wie die Schweiz heute aussehen würde, wenn unsere Vorfahren all die wasserbaulichen Projekte nicht in Angriff genommen hätten – sei es aus finanziellen Gründen oder aus Angst vor dem Technikteufel, der ja auch bei der Eisenbahn eine Rolle gespielt hatte.
Natürlich ist mir bewusst, was die massiven Eingriffe in die Flusslandschaft für die Natur, für Pflanzen und Tiere, bedeutet hatten und dass manchenorts die Ingenieure übers Ziel hinausgeschossen und Flüsse in schnurgerade Kanäle verwandelt hatten, wo man hätte anders vorgehen können. Nachträglich ist es leicht klug zu sein. Ich denke beispielsweise an die Verbauung der Thur, wo man unterdessen durch bauliche Massnahmen das, was aus mangelndem Naturverständnis falsch gemacht worden war, korrigierte und dem Flusslauf wieder mehr Raum gibt.
Aber die Schweiz ohne Wasserbauer? Ihre Entwicklung, insbesondere die ökonomische, wäre bestimmt sehr anders verlaufen. Doch unsere Vorfahren haben entschieden – mussten entscheiden. Ihrem Mut und ihren Visionen gilt meine grosse Bewunderung, auch wenn es bekanntlich keine Rosen ohne Dornen, will heissen, ohne negative Auswirkungen und Verlierer gibt. Der Wasserspiegel des Bielersees zum Beispiel wurde im Rahmen der zwei Korrektionen um insgesamt fünf Meter abgesenkt, was die Petersinsel zu einer Halbinsel machte und die Uferzonen in allen Seen stark veränderte. Ob so etwas heute juristisch überhaupt noch zu bewältigen wäre?
Unterdessen sitzen wir beim Mittagessen in einem Restaurant am Hafen. Daniel, der in der Nähe von Estavayer ein kleines Haus am See besitzt, erzählt vom Juli 2021, als der Pegel im Neuenburgersee wegen des Hochwassers auf der Aare und des Rückflusses durch den Zihlkanal mit 430,57 Metern den seit der Juragewässerkorrektion höchsten je gemessenen Stand erreicht hatte. Der Schaden sei gross gewesen, vor allem als Folge des Treibholzes, das durch die Wellen auf dem See die Wände seines Hauses richtiggehend zertrümmert habe. Aber er wisse sehr wohl, dass ohne Juragewässerkorrektion an jener Stelle keine Häuser stehen würden.
Übrigens rufen seit ein paar Jahren die Gemüsebauern im Grossen Moos nach der dritten Juragewässerkorrektion, weil sich ihr Land aufgrund der sauerstoffbedingten Zersetzung des Bodens in den vergangenen sechzig Jahren um vier Meter gesenkt hat. Das erinnert uns daran, dass alles, was der Mensch vollbringt, immer nur ein temporärer Erfolg sein kann. Die Zeit aber gehört der Natur und ihren eigenen Gesetzen.
Fotos (wenn nicht anders bezeichnet): Dieter Imboden