Gleichzeitig will das eben publizierte Buch "Die Schweiz im Welthandelsdorf" das allgemeine Verständnis für die internationalen Zusammenhänge fördern. "Die „Mega regionals“ werden auch uns betreffen", sagt der Autor Max Schweizer.
„Globalisierung ist weder gut noch schlecht“. Diese Aussage des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Joseph E. Stiglitz steht als Leitspruch am Anfang des Buches.
Max Schweizer, von 2007 bis 2012 Stellvertretender Chef der Schweizerischen Wirtschaftsmission in Genf, hat über 70 einschlägige aktuelle und historische Texte zum Thema Weltwirtschafts- und Welthandelsordnung zusammengetragen. Sie stammen von schweizerischen und ausländischen Journalisten, Professoren, Experten, Diplomaten und Politikern.
Mit diesem Mosaik gelingt es dem Autor, eine Art „Geschichte der Welthandelsverhandlungen“ zu schreiben und uns damit geistig der Zukunft zu stellen. Aus Erfahrung soll man bekanntlich klug werden.
Das Lesebuch, wie Max Schweizer sein Werk nennt, soll einen Beitrag leisten, „frühere Meinungsbildungen und zum Teil schmerzhafte Anpassungsprozesse zu kennen und von ihnen zu lernen“.
Globalisierung, Handelsverträge, Zollkonferenzen, geschützte Märkte, Havanna-Charta, Diplomatie als Palaver, Sonderfall Schweiz, WTO, Doha-Runde, Singapore Issues, Landwirtschaft, TTIP, TPP, Protektionismus, Initiativen überall, immer wieder der Versuch, neue weitreichende Ordnungssysteme zu schaffen – wer hat da noch den Durchblick? Wer sieht da noch die Zusammenhänge? Da will das Buch „Die Schweiz im Welthandelsdorf“ einen Beitrag leisten.
Journal21.ch: Max Schweizer, was verstehen Sie unter Welthandelsdorf?
Max Schweizer: Mit dieser Wortschöpfung will ich im Wesentlichen die zu einem Dorf geschrumpfte Welt sprachlich zum Ausdruck bringen. Im Welthandelsbereich benützen zudem fast alle die gleiche Sprache, sie arbeiten mit dem Vokabular und den Definitionen der Welthandelsorganisation (WTO), also wie in einem Dorf!
An wen richtet sich dieses Buch?
Gewissermassen an ein breites Publikum: an Studenten (Wirtschaft, Geschichte, Internationale Beziehungen), an junge Diplomaten oder etwa an Angestellte des SECO, an Medienschaffende, Verbandsfunktionäre und natürlich an Politiker.
Ist das Buch auch als „Nachhilfeunterricht“ für Diplomaten und Verhandlungsteilnehmer zu verstehen?
Die Textsammlung hilft all jenen, die zum Tagesgeschäft eine zeitgeschichtliche Perspektive haben möchten. Da das „institutionelle Gedächnis“ jeder Organisation heute immer kleiner wird, ist es wichtig, dass Neueinsteiger eine Chance bekommen, sich in nützlicher Zeit über die Vergangenheit zu orientieren.
Wollen Sie mit der Textsammlung einen Beitrag dazu leisten, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit lernt?
Das war zwar meine edle Absicht nicht, ich wollte vor allem dokumentieren, wie sich die Abläufe ergaben. Falls das auch zur Vermeidung von Fehlern beiträgt ist das ein zusätzlicher Gewinn.
Was kann man aus der Vergangenheit lernen?
Jede Generation muss die Bewältigung der Gegenwart und der Zukunft selber neu leisten. Dabei sind die Akteure in den Zeitgeist eingebunden, ihre Optionen sind gar nicht so gross, wie man gerne annimmt. In unserer Demokratie zählt natürlich auch das Volk zu den Akteuren, man muss es korrekt informiert halten.
Die Welt und die Handels- und Wirtschaftsverhandlungen sind derart komplex und kompliziert worden. Braucht man wirklich etwas über die – Beispiel – Havanna-Charta zu wissen, um die heutigen neuen Probleme anzugehen?
Die Havanna-Konferenz eignet sich ausgezeichnet, um eine ganze Reihe von Gegebenheiten und Mechanismen aufzuzeigen. Dazu gehören etwa die Dominanz der Vereinigten Staaten, die Illusionen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Nicht-Ratifizierung der Havanna-Charta durch die USA, aber die pragmatische Übernahme des GATT47. Das modifizierte GATT bildet heute noch immer eine tragende Säule der Welthandelsorganisation, mit ihm wird sozusagen der Warenverkehr geregelt.
Sie waren über 30 Jahre im Diplomatischen Dienst des EDA. Als Stellvertretender Chef der schweizerischen Wirtschaftsmission in Genf waren sie Mitglied der EFTA-Delegationen für die Aushandlung von Freihandelsabkommen im In- und Ausland. Wie beurteilen Sie den historischen Wissenstand der internationalen Wirtschaftsdiplomaten?
Das Wissen um die Vergangenheit hängt vom jeweiligen Studienrucksack und dem Alter des Individuums ab. Bei Jüngeren ist es nicht gerade überwältigend.
Interessieren sich diese Diplomaten überhaupt für die Vergangenheit, oder kämpfen sie einzig dafür, dass ihr Land Vorteile herauswirtschaften kann?
Wenn wir von multilateralen Verhandlungen, etwa im Rahmen der WTO sprechen, dann gibt es im Prinzip zwei Prioritäten: Erstens, selbstverständlich die nationalen Interessen zu vertreten (was immer das heissen mag), zweitens das Ganze im Auge zu behalten. Für die meisten Nationen gilt es dabei ein vernünftiges, lösungsorientiertes Gleichgewicht zu finden. Ein rein „nationaler Egoismus“ ermöglicht keine Kompromissfindung. „Multilaterale Lösungen“ sind für Kleinstaaten aber meist besser als bilaterale Abkommen zwischen ungleichen Partnern.
Sie waren auch Dozent an der ZHAW, genauer an der School of Management and Law in Winterthur. Besteht bei Wirtschaftsstudenten überhaupt ein Bedürfnis, die Vergangenheit kennenzulernen, oder betrachtet man das als Zeitverschwendung?
Dieser Tage hatte ich zwei Bachelor-Arbeiten zu beurteilen, beide Autoren haben die „historische Dimension“ mit ausgeschöpft. Zu meiner Überraschung haben mir beide unabhängig voneinander dafür gedankt, dass ich ihnen die historische Perspektive ermöglicht habe.
Wirtschafts- und Handelsverhandlungen sind heute derart anspruchsvoll geworden. Kann man die eigentlich noch einem breiten Publikum vermitteln?
Sehr einverstanden, das lässt sich schwerlich vermitteln. Nur schon die Grösse einer Verhandlungsdelegation zu erklären, mit den hochqualifizierten Spezialisten, gehört dazu - da fallen ja auch Lohn- und Reisekosten an. Die Leitungs-Übersicht zu haben, also den Verhandlungsbeginn und -prozess in den einzelnen Teil-Bereichen zu verstehen, um die jeweilige Delegation überhaupt führen zu können, kommt hinzu. Dass die „Zentrale“ informiert bleiben muss, mit der ja die „Verhandlungs-Instruktionen“ erarbeitet wurden, ist selbstverständlich. Gerade bei dieser frühen Etappe sind immer noch viele Illusionen vorhanden, die dann phasenweise, über die „Wirklichkeit an der Front“, abgebaut werden müssen. Darauf erfolgen „realistischere Vorgaben“... etc.
Einer der publizierten Artikel trägt den Titel „Die Schweiz braucht Öffnung“. Besteht nicht gerade heute die Gefahr, dass man sich wieder vermehrt einigelt, nicht nur politisch?
In jedem Land gibt es immer gegenläufige Tendenzen, einmal ist der Trend in die eine Richtung stärker, dann wieder in die andere, das gilt für alle OECD-Staaten... Wenn man den Fall Schweiz betrachtet, so fällt auf, dass der Waren- und Dienstleistungsverkehr konstant wächst. Der politische Diskurs beschäftigt sich in erster Linie mit der Freizügigkeit im Personenverkehr mit den EU-Staaten, dann mit den Migranten, seien es Asylanten oder Wirtschaftsflüchtlinge.
Ein anderer Text ist mit „U.S. Protection never dies“ überschrieben. Manche Experten werfen den USA vor, sie diktierten andern Ländern eine Welthandelsordnung, doch selbst würden sie sich nicht daran halten.
Das ist eben das Privileg des jeweiligen Hegemons, ob er jetzt USA oder etwa EU heisst...
Die Welt driftet ja eher wieder auseinander. Da und dort werden wieder neue Handelsbarrieren aufgebaut. Für jemanden wie Sie, der dreissig Jahre lang die Liberalisierung des Welthandels beobachtet hat, sind das wohl traurige Zeiten. Wie lange werden die dauern?
Seit dem Zweiten Weltkrieg erfordert der Kampf um die Handelsliberalisierung bis heute konstante Aufmerksamkeit. Die „Übertritte“ oder „Verstösse“ sind zahlreich, die Mitglieder der WTO haben dafür eine ausgeklügelte Streitbeilegungsmechanik entwickelt. Daneben gibt es Prozeduren zur periodischen Ausleuchtung der Handelspolitik jedes einzelnen Mitglieds.
Man muss verstehen, dass jede Regierung unter innenpolitischen Druck gerät, wenn Arbeitsplätze verloren gehen – und diese nicht durch neue ersetzt werden. Innovationen mit ihren Strukturwandeln, der internationale Wettbewerb, fordern ununterbrochen ihren Tribut, ob wir das wollen oder nicht. Die Hochzollpolitik der USA in den Dreissiger Jahren ist im Buch auch abgebildet, im heutigen „Welthandelsdorf“ ist sie keine Option mehr.
In vielen Ländern geht es der Wirtschaft nicht gut. Da nützen im Moment alle internationalen Verhandlungen nichts. Wie sehen Sie das?
Man muss klar unterscheiden, was ein Land im Bereich seiner Eigenverantwortung tut oder eben nicht tut und was die internationale Dimension betrifft. Man studiere den „Fall Frankreich“ oder den „Fall Spanien“, von Griechenland ganz zu schweigen! Bezüglich „internationale Verhandlungen“ muss man zudem fairerweise auch sagen, dass genau diese Anstrengungen zu umfangreichen internationalen Finanz-Hilfspaketen für Griechenland geführt haben, wie auch immer man diese qualitativ im Einzelnen beurteilen mag.
Sie haben Hunderte Artikel durchgekämmt. Wie beurteilen Sie die Berichterstattung in den Schweizer Medien über internationale Wirtschaftsverhandlungen.
Ehrlich gesagt bin ich grundsätzlich immer wieder begeistert von der Qualität der Berichterstattung. Dabei muss man sich die schwierige Aufgabe der Berichterstatter vergegenwärtigen. Im vorliegenden Buch habe ich mich stark auf die Neue Zürcher Zeitung abgestützt, in früheren Publikationen versuchte ich den Fächer breiter zu halten.
Mit der jetzt vorliegenden Textsammlung schliesst Max Schweizer eine Trilogie ab. Ein erster Teil galt der schweizerischen Diplomatie, ein zweiter der europäisch-schweizerischen Integration und der jetzt publizierte dritte Teil der Welthandelsordnung.
Die Schweiz im Welthandelsdorf
Initiativen, Konferenzen, Konflikte
Ein Lesebuch
Chronos Zürich, Juni 2016
CHF 48.--
(Die Fragen stellte Heiner Hug)