Die Finanzmärkte haben ihre eigene Logik entwickelt und agieren ausserhalb der Regeln von Wirtschaft und Politik. Grossbanken müssen immer grösser werden. Sie halten die Staaten in Geiselhaft. – Hier der erste von zwei Teilen einer ausführlichen Analyse.
Wir alle, und dazu gehören auch die Expertinnen und Experten, verstehen die internationalen Finanzmärkte und ihre Wirkungen und gegenseitigen Abhängigkeiten nicht genügend. Finanzwissenschaften mögen noch so viele, noch so komplizierte mathematische Formeln erfinden und Nobelpreise dafür vergeben, zum Verständnis und zur Voraussage der Wirkungszusammenhänge zwischen Finanzmärkten und gesellschaftlicher Entwicklung sowie zwischen den Finanzmärkten untereinander, trägt das wenig bei. Im Gegenteil, wir erkennen zu spät, welche unerwarteten und unkontrollierten Wirkungen Finanzmärkte entfalten.
Genährt von einer neoliberalen Wirtschaftsdogmatik haben sich Finanzmärkte zu einem Monster entwickelt. Wir erfahren in Echtzeit, was Frankenstein in Mary Shelleys Roman bereits 1818 erlebte: Frankenstein, der Forscher, hat ein Monster geschaffen und muss feststellen, dass «nun, da sein Werk vollbracht war, der schöne Traum verblasste, und Abscheu und atemloses Grauen sein Herz erfüllten». Deshalb fleht er das Monster an, sich zu mässigen – vergebens. Er erhält vom Monster die niederschmetternde Antwort: «Du bist mein Schöpfer. Aber ich bin dein Herr – gehorche!» (1)
Ja, es sind nicht wir, die den Takt angeben, sondern wir müssen den Finanzmärkten gehorchen. Sie sind zu einem unkontrollierbaren System geworden, das sich von der Realität abgekoppelt hat.
Mit Fragen der Entkoppelung von System und Lebenswelt hat sich Jürgen Habermas ausführlich auseinandergesetzt (2). Er stellt fest, «dass sich in modernen Gesellschaften systemische Zusammenhänge zu normfreien Strukturen verdichten und versachlichen und dass sich die Angehörigen (Akteure) gegenüber diesen Handlungssystemen wie zu einem Stück naturwüchsiger Realität verhalten. Submärkte entwickeln Mechanismen (Instrumente und Verfahren), die Gefahr laufen, sich zu verselbständigen und immer weiter von den sozialen Strukturen abzulösen, über die sich die soziale Integration vollzieht.»
(1) Mary Shelley (1797–1851), 1818 geschrieben, im Original «Frankenstein or The Modern Prometheus».
(2) Jürgen Habermas: «Theorie des kommunikativen Handelns», Band 2: «Zur Kritik der funktionalen Vernunft»; Frankfurt a. M., 1981.
Die Finanzmärkte sind nichts
Die Finanzmärkte sind nichts! Zunächst einmal nichts, ausser einem wesenlosen Wort. Gleichwohl dominiert dieses «Nichts» alles, selbst die in unserer Verfassung festgeschriebenen Gesetzmässigkeiten der demokratischen Staatsform. Die Finanzmärkte sind zur Leitschnur der neoliberalen Wirtschaft geworden, die der Globalisierung nach westlichem Muster verfallen ist. Das haben viele so gewollt, Mahner wurden verlacht.
Natürlich braucht jede Gesellschaft Instrumente, Verfahren und Strukturen, um finanzielle Bedürfnisse abdecken zu können. Finanzmärkte haben sich einst aus den Bedürfnissen der Menschen herauskristallisiert, sie wurden geschaffen, damit diese Bedürfnisse sinnvoll befriedigt werden können, mit Instrumenten wie Sparen, Investieren, Kredite bereitstellen, Finanzvermögen verwalten, Währungen tauschen, Kapital an den richtigen Ort bringen (es müsste «Kapitalmärkte» statt «Finanzmärkte» heissen), Risiken allozieren und vieles mehr. Dabei ging und geht es immer um gezielte Geschäfte von Akteuren, die präzise adressiert werden können.
Finanzmärkte werden erst fassbar, wenn sie auf ihre Submärkte mit ihren jeweiligen Aufgaben und Akteuren aufgeteilt sind. Dann kann man über Nutzen, Kosten und Verantwortung für die spezifischen Tätigkeiten diskutieren, und dann kann man auch über notwendige Massnahmen und Regulierungen sprechen.
In der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte genügt jedoch schon die Warnung, die Finanzmärkte, dieses «wesenlose Nichts», würden eine Intervention, die von einer demokratisch gewählten Regierung geplant ist, nicht goutieren, um der Diskussion über die Rettung oder den Konkurs (im aktuellen Fall: der Credit Suisse) ein abruptes Ende zu bereiten. So wird dem Finanzmarkt weiter unreflektiert gehuldigt, und dies geht zu Lasten der Demokratie. Im Fall der Rettung der CS hiess das Mantra: «Wenn wir nicht machen, was die Finanzmärkte wollen, wird die Schweiz eine internationale Finanzkrise auslösen. Darunter werden wir noch mehr leiden als unter den Lasten einer Rettung.»
In Tat und Wahrheit hätten nicht «wir» gelitten (gemeint waren damit offenkundig die Durchschnittsbürger und -bürgerinnen), sondern die internationalen Spekulanten und Spekulantinnen. Sie hatten in verschachtelten Strukturen Hunderte von Milliarden auf unterschiedlichen Banken deponiert. Würde ein Hedgefonds sein Geld, das er der CS anvertraut hat, verlieren, würde dies Kettenreaktionen in der Szene auslösen. Das gesamte Dominosystem der Spekulanten und Spekulantinnen würde zusammenfallen. So what? Es gibt für mich keinen ersichtlichen Grund, warum man diesen Spekulanten und Spekulantinnen, die keinen Beitrag zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft leisten, zu Hilfe eilen sollte, und schon gar nicht zu Lasten des Risikos, das die Schweizer Steuerzahlenden in Form von Garantien tragen müssen.
Einmal mehr kamen die Spekulanten und Spekulantinnen davon. Bei der Rettung der CS war genau dies die Wurzel der Erwartungshaltung der internationalen Finanzmärkte, die eine Rettung der gesamten CS – und nicht nur von Teilen – wollten. Dabei wurden alle Risikologiken, welche die Wirtschaftswissenschaften und die Marktwirtschaft lehren, über Bord geworfen. Ein Grundprinzip lautet, dass jeder, der Risiken eingeht, belohnt wird; dass er aber auch alles verlieren soll, wenn es schief geht. Solange aber hohe und extrem hohe Risiken salonfähig bleiben, weil der Staat immer dafür sorgen wird, dass sich niemand die Finger verbrennt, wird sich nichts ändern. Und solange bleibt es auch zynisch, wenn Bankmanager und Bankmanagerinnen, unterstützt von «wirtschaftsliberalen» Parteien, der Schweiz eine «freie» Marktwirtschaft mit möglichst wenig Regulierungen, aber viel Eigenverantwortung schmackhaft machen wollen.
Die Schweiz hat die Erwartungen der Finanzmärkte erfüllt, ohne Wenn und Aber – internationalen Finanzmärkten und ihren Organisationen widersetzt man sich nicht. Sie hat vom IWF, dem Internationalen Währungsfonds, hohes Lob für ihre Pirouette bekommen. Dabei vertritt der IWF die Interessen der international aktiven Finanzmärkte, indem er privaten Investoren und Investorinnen, oft Spekulanten und Spekulantinnen, den Weg zu immer grösseren Gewinnen ebnet.
Bundesrätin Keller-Sutter dankte der UBS, dass sie die Übernahme der CS mit Staatshilfe akzeptiert habe. Damit stand sie weitgehend allein da, die breite Zivilgesellschaft, aber auch erstaunlich viele Experten und Expertinnen waren anderer Meinung und äusserten Entsetzen.
Vom Räuspern des Herrn Greenspan zum Räuspern des Herrn Ermotti
«Wenn Mister Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank, sich räuspert, bebt die ganze Welt, und dieses Räuspern ist kein Vollzug eines demokratischen Entscheides.» Mit dieser Aussage und seiner Analyse brachte der Politologe und Philosoph Professor Arnold Künzli auf den Punkt, weshalb «das kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsystem mit einer demokratisch nicht legitimierten und nicht kontrollierten Geldmacht in Konflikt steht». (3)
Finanzmärkte existieren nicht isoliert in einem luftleeren Raum. Sie interagieren mit anderen Systemen, wie zum Beispiel der Demokratie. Doch die Ziele und Anliegen dieser Systeme basieren nicht auf denselben demokratischen Grundwerten. Im Fall der Fusion UBS/CS geht es um den Kampf unterschiedlicher Systeme (4). Der Begriff «systemrelevant» verdeutlicht diesen Kampf: Ein Ereignis (in diesem Fall der Zusammenbruch der CS und die Fusion mit der UBS), das in einem der Systeme stattfindet, kann in anderen gefährliche Schockwellen auslösen – in diesem Fall in der Zivilgesellschaft der Schweiz, die auf demokratische Regeln und Verhaltensweisen vertraut.
Dieser Konflikt zwischen dem Finanzmarkt und den demokratischen Grundprinzipien nimmt täglich zu. Demokratie ist konsensorientiert, zeichnet sich durch bewusst langsames Handeln, durch den Schutz von und den Respekt gegenüber Minderheiten aus. Entscheidend sind das richtige Mass und die Verhältnismässigkeit. Und vor allem heisst Demokratie die Bereitschaft, Macht zu teilen, auch mittels Partizipation. Dies alles lässt sich auf den Nenner bringen: Optimiere und handle langsam (oder zumindest nicht zu schnell) und beziehe relevante Anspruchsgruppen in dein Handeln mit ein.
Die Finanzmärkte hingegen huldigen dem Maximierungsprinzip. Wegen des Zinseszinses sind sie auf grenzenloses Wachstum ausgerichtet und bedingt durch die Digitalisierung müssen Entscheidungen oft in Sekundenbruchteilen gefällt werden. Hier gilt, anders als in demokratischen Systemen: Erwirb Macht, handle schnell, «the winner takes it all». Und im Gegensatz zu einer Demokratie, die im kritischen Dialog mit anderen Demokratien steht und stehen muss, kennen Finanzmärkte keine nationalen Grenzen.
Damit steht die Grundfrage im Raum, ob und wenn ja, wie lange Finanzmärkte respektive internationale Grossbanken überhaupt mit der Demokratie und den in demokratischen Prozessen geschaffenen Gesetzen und Regulierungen koexistieren können. (4)
(3) Arnold Künzli; Vortrag im Jahre 2000 in der Elisabethenkirche in Basel unter dem Titel «Das Räuspern des Herrn Greenspan»
(4) Siehe auch: Kaspar Müller: «Demokratie bewahren, 12. Oktober 2016, Teil 4: Demokratie in Wechselwirkung mit anderen Systemen», S. 31 ff.
https://kaspar-mueller.ch/uploads/1/4/0/5/140503697/demokratiebewahren-…
Anschauungsunterricht
Zu dieser Frage haben wir bereits mehrfach Anschauungsunterricht erhalten. Schon 2017 warnte Sergio Ermotti, CEO der UBS (Arnold Künzli würde wohl sagen: «räusperte sich der CEO»), dass ein Verbleiben des Hauptsitzes der UBS wegen der Überregulierung, die in der Schweiz praktiziert werde, nicht sicher sei. Wie nicht anders zu erwarten, wurde dieses «Problem» von der Bankenlobby im Parlament mit einer Interpellation (5) aufgenommen: «Wie beurteilt der Bundesrat die vom CEO der UBS erwähnte Überregulierung auf dem Schweizer Finanzplatz? Hält er die Gefahr für den Wegzug von Schweizer Finanzinstituten für real? Wenn ja, beabsichtigt er, die gesetzlichen Grundlagen zu ändern und Gesetze aufzuheben, um das Problem zu lösen oder wenigstens zu mildern?»
2019, zwei Jahre später, führte Herr Ermotti mit grossem Nachdruck eine Kampagne an, die weniger Regulierung und geringere Ausgaben für Sozialleistungen zum Ziel hatte.
Es ist kaum davon auszugehen, dass die Grundhaltung des CEO der UBS heute eine andere ist als in den vergangenen Jahren. Er dürfte wenig Verständnis dafür aufbringen, dass die Zivilgesellschaft und die Politik wegen der schieren Grösse und Macht der UBS besorgt sind. Prof. Aymo Brunetti, Departementsleiter des Volkswirtschaftlichen Instituts der Universität Bern, hält in der SonntagsZeitung vom 28. Mai 2023 fest: «Die UBS ist nach der Übernahme der Credit Suisse gemessen an der Wirtschaftsleistung viel zu gross für die Schweiz.» Gemäss Marc Chesney, Professor für Quantitative Finance an der Universität Zürich, wird die Bilanzsumme der fusionierten Banken das Zweieinhalbfache des schweizerischen BIP ausmachen, und der Nennwert ihrer Derivate das 30- bis 40-fache dieser Summe. (6)
Es ist damit zu rechnen, dass bald weitere Forderungen vonseiten der UBS in Bern eintreffen werden. Sie dürften begleitet sein mit dem Hinweis, es könne doch in niemandes Interesse liegen, wenn die UBS wegen unbequemen Regulierungen Schaden nehme.
Die «geäusserten Ambitionen der Bank sind eindeutig», stellt Aymo Brunetti in der SonntagsZeitung vom 28. Mai 2023 fest. Die UBS will auch und vor allem im internationalen Wettbewerb weiter wachsen. «Too Small to Succeed» (TSTS), der Gegenentwurf zu «Too big to Fail» (TBTF), wird immer häufiger diskutiert. Die UBS wird grösser werden wollen, denn gemessen an der Bilanzsumme ist sie im internationalen Vergleich noch nicht in die Spitzengruppe der zehn grössten Finanzinstitute weltweit vorgedrungen.
Am Swiss Media Forum 2023 verteidigte der CEO der UBS denn auch die Grösse der Bank: Wichtig seien das Geschäftsmodell und die Risiken, die eine Bank eingehe, nicht ihre Grösse. (7) Gleichwohl sei zur Stärkung des Finanzplatzes Schweiz im Wettbewerb mit anderen Finanzplätzen natürlich auch die Grösse einer Bank wichtig. «Damit hatten wir ein klassisches Paradoxon: Eigentlich ist es nicht wichtig, wie gross eine Bank ist, zumal es wichtig ist, wie gross sie ist.»
Wahrscheinlich müssen wir damit rechnen, dass auch in Zukunft ein «Räuspern von Herrn Ermotti» die Schweiz auf Kurs bringen will und wird.
(5) «Überregulierung auf dem Finanzplatz Schweiz. Wegzug der UBS?», Interpellation vom 7.12.2017, eingereicht von Quadri Lorenzo (SVP/Lega di Ticinesi)
(6) Marc Chesney in: INFOsperber vom 7. April 2023, «Die Party ist vorbei»
(7) https://www.persoenlich.com/medien/sergio-ermotti-will-360-grad-untersu…
Die Schweiz braucht Regulierung, die UBS will Deregulierung
Mit der Übernahme der CS und der daraus resultierenden Grösse und politischen Macht rutscht die Schweiz zusehends in eine «systembedingte Geiselhaft» der UBS, und diese ihrerseits in die «systembedingte Geiselhaft» der Erwartungshaltung der internationalen Aktionäre und Aktionärinnen respektive der internationalen Finanzmärkte.
Es versteht sich von selbst, dass ausländische Grossaktionäre und Grossaktionärinnen kein Verständnis für die Empfindlichkeiten der Schweiz aufbringen werden. Ein Blick auf das Aktionariat der grossen schweizerischen Unternehmen zeigt, dass die Schweiz schon lange nicht mehr sich selbst gehört. Das hat politische Konsequenzen für die Schweiz und erklärt unter anderem, warum die Diskussionen über sinnvolle und notwendige Massnahmen nicht vorwärts kommen. Die Schweiz debattiert über Massnahmen auf der Ebene «Schweiz-UBS», also über Massnahmen, die das TBTF-Problem für die Schweiz mildern können – die UBS-Führung jedoch debattiert über Massnahmen auf der Ebene «UBS-internationale Finanzmärkte», die das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der UBS international fördern können. Offensichtlich haben wir hier zwei völlig unterschiedliche Diskussionsgrundlagen mit unterschiedlichen, ja sogar einander widersprechenden Massnahmenpaketen vor uns. Die Schweiz braucht Regulierung – die UBS will das Gegenteil, nämlich Deregulierung. Der Vorteil liegt bei der UBS, weil die Erwartungshaltung der internationalen Finanzmärkte ihren Zielen und Werthaltungen entspricht. Der Nachteil der Schweiz und der Zivilgesellschaft ist, dass sie die schwächsten Glieder in der Kette sind. Hans Gersbach, Professor am Department of Management, Technology and Economics der ETH Zürich, hält fest, dass die Schweiz alleine nichts ausrichten kann. Zuerst müsste die internationale Kooperation so weit sein, dass der Standard des Financial Stability Board (FSB) von allen übernommen wird: «Es führt einfach nicht zum Ziel, wenn die FINMA nun versucht, mit ein paar Änderungen an der TBTF-Regulierung die Sache zu lösen.» (8)
Die Politik hat also schlechte Karten. Arnold Künzli stellt klar, «dass sich im globalisierten Wirtschafts- und Finanzsystem eine solche Fülle autonomer Macht konzentriert, dass selbst ein Welt-Parlament und eine Welt-Exekutive sich dieser gegenüber nur schwer durchsetzen könnte». (3)
Ein ausgewogenes Verhandlungsergebnis ist ausgeschlossen. Es wird sich nichts ändern, bis der nächste Finanzschock die Schweiz erreicht, mit latentem Risiko für die Steuerzahlenden. Dann werden die Diskussionen von vorne beginnen, aber selbst dann wird sich nichts ändern, weil alle nur «gehorchen» müssen. Für Finanzmärkte gelten, auf allen Ebenen, die Worte von Mary Shelleys Monster: «Du bist mein Schöpfer, aber ich bin Dein Herr. Gehorche!»
(3) Arnold Künzli; Vortrag im Jahre 2000 in der Elisabethenkirche in Basel unter dem Titel «Das Räuspern des Herrn Greenspan»
(8) Prof. Dr. Hans Gersbach, ETH Zürich, zitiert von Urs Schnell in: INFOspeber vom 30. Mai 2023.
Das verborgene Motiv der Globalisierung
Über Regulierungen kann man kontrovers diskutieren. Es gibt viele Regulierungen, deren Sinn schwer zu erkennen ist und deren Wirkungen sogar kontraproduktiv sind. Das heisst aber noch lange nicht, dass mit dem Begriff «Deregulierung» quasi automatisch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen einhergehe. Deregulierung kann zur Sucht werden, die ungeniert einer verborgenen Zielsetzung frönt. Im Zentrum der Deregulierungsbemühungen steht oft nicht die Deregulierung selbst, sondern das Ziel neoliberaler Kreise, ihre Macht zu mehren. Insofern sind beim Argument der Grossbanken, die Regulierung behindere ihren Erfolg, ja sei sogar Ursache der Probleme, grosse Vorbehalte angebracht.
Im Schatten der Globalisierung holen sich Grossbanken Macht vom Staat zurück. Staaten wiederum verlieren ihre legitime, demokratisch abgesegnete Steuerhoheit sowie die Währungs-, Zins- und Lohnpolitik. Das globale Finanzmarktsystem ist weit wichtiger und einflussreicher als alles, was demokratische Regierungen in den Grenzen der Nationalstaaten und ihrer Verfassungen geschaffen haben. Internationale Grossunternehmen können sich den mühsamen Gesetzgebungsprozess, den sie in den einzelnen Nationalstaaten durchlaufen müssen, vom Hals halten. Auch müssen sie nicht mehr auf Minderheiten und Kompromisse Rücksicht nehmen. Die demokratischen Nationalstaaten wiederum stehen am Ende der Machtkette, ihnen bleibt oft nicht mehr, als zu «gehorchen».
Zugegeben, Globalisierung ist grundsätzlich erstrebenswert, allein schon deshalb, weil wir alle auf dem gleichen Globus leben und einen gemeinsamen Weg für die wichtigen Probleme finden müssen. Wir leben in demselben Haus, wenn auch in unterschiedlichen Wohnungen (Nationen). Wenn aber Globalisierung zum Instrument der Grossunternehmen verkommt, sind Fragezeichen angebracht. Neoliberale Kreise verteidigen ihre Ziele gerne mit Begriffen wie Freiheit, Eigentum und Demokratie. Sobald sich aber breite Bevölkerungsschichten Freiheit, Eigentum und Demokratie zu eigen machen, begreifen die Mächtigen dies als Kollateralschaden des Neoliberalismus. Sie verstehen unter Liberalismus nie Freiheit für alle, sondern Vorteile und Freiheit für wenige.
«Laisser-faire» mit dem unabdingbaren Vertrauen auf Selbstregulierung hat sich nicht bewährt. Dies ist besonders im Fall der Finanzmärkte unübersehbar. Hier fehlen selbstregulierende Prozesse und Elemente, oder mit anderen Worten: Hier fehlen kybernetische Rückkoppelungsmechanismen, die die Steuerung der Systeme unterstützen. Es gibt aber auch andere Wege. Der neoliberale, sprich hemmungs- und grenzenlos wirtschaftsgläubige Ansatz grenzt sich scharf vom Ordoliberalismus ab, der auf eine soziale Marktwirtschaft setzt, die auch soziale Aspekte sowie Gesetze als wichtigen Rahmen und Voraussetzung für eine funktionierende Volkswirtschaft berücksichtigt (Freiburger Schule, Walter Euken) (9) und (10).
(9) Siehe auch die Publikation «Gedankensplitter» von Jean-Pierre Lenzin, Basel 2021 (Privatdruck)
(10) Vgl. Rüstow, Röpke und andere