Wer hat nicht bereits von ruhmgekrönten Opern- und Theateraufführungen in Aix, in Orange, in Avignon, in Saint-Rémy de Provence gehört? Erlebenswertes gibt es im Sommer ebenfalls in Nîmes oder in Montpellier. Man hat den Eindruck, die gesamte Pariser Kulturszene verziehe sich für einige Wochen in den Süden und verteile sich zwischen Nizza und Narbonne. Die in Musik getauchten Sommerabende des französischen Südens haben es in sich!
Man wäre allerdings auf dem Holzweg, würde man davon ausgehen, die provenzalische Kultur basiere ausschliesslich auf sonnenüberfluteten Landschaften, schönen Meeresküsten, auf den Naturparks der Camargue, den Lavendelfeldern, den Mandelbäumen und den Weinbergen des Hinterlandes. Viele Liebesgeschichten aus dem Süden enden keineswegs in Lust und Wonne, sondern in Verzweiflung und Tod. Historisch betrachtet waren grosse Teile der Provence ein fürs Leben ihrer Bewohner armes, karges und hartes Land. Man braucht nur die von der Provence in ihrer Jugend geprägten Schriftsteller zu lesen, um romantisierende Klischees über das glückliche Leben im Süden loszuwerden.
L’Arlésienne
Zu diesen von der Provence tief geprägten Figuren gehört mit Sicherheit der Schriftsteller Alphonse Daudet (1840–1897). Sein Glück als Autor machte zwar auch er erst in Paris, doch sein schriftstellerischer Ruhm basiert auf Geschichten und Erinnerungen, die seine Jugend in der Provence prägten. Zu seinen heute noch gelesenen und bei Jung und Alt beliebten Büchern gehören die «Lettres de mon moulin» (1869) sowie der Roman über die wundersamen Abenteuer des «Tartarin de Tarascon» (1872).
Die «Briefe aus meiner Mühle» sind weniger Briefe als vielmehr kurze Erzählungen über Ereignisse und Erfahrungen in Daudets provenzalischen Erinnerungen. Wohl am bekanntesten unter ihnen wurde die Novelle «L’arlésienne», geschrieben und publiziert bereits 1866 und sechs Jahre später von Daudet zu einem Theaterstück erweitert, das heute dadurch Berühmtheit geniesst, weil Georges Bizet zu diesem Drama 27 kurze Musikstücke für ein kleines Theaterorchester komponierte. Heute sind diese weit populärer als das Theaterstück selbst. Wir kennen diese Musik vor allem als seine «Zwei Arlésienne-Suiten» und sie gehören – neben Bizets drei Jahre später zusammengestellter «Carmen-Suite» – zu den schönsten Kompositionen für Orchester überhaupt, die den Süden verherrlichen.
Die Geschichte dieser «schönen Frau aus Arles», die einem Bauernsohn aus der Umgebung den Kopf so verdreht, dass er nur noch an sie denken kann, ist bald erzählt. Als er erfährt, dass die kokette junge Frau einem Pferdehüter versprochen war, der auf seine Rechte pocht und sie auch noch zu entführen plant, verliert unser junger Bauer derart den Boden unter den Füssen, dass er sich vom Heuboden des Bauernhofs in die Tiefe und in den Tod stürzt. Das Schicksal dieses vor Liebe verlorenen Sohnes ist in einem schockierend harten Realismus erzählt.
Am Ende des kurzen Textes heisst es: «An diesem Morgen fragten sich die Leute im Dorf, wer denn dort drüben, vom Hause des Estève her, so schreien könnte ... – Es war im Hof, vor dem mit Tau und Blut feuchten Steintisch, die Mutter, die völlig nackt ihr totes Kind in den Armen beklagte.» – Eine Szene, die wie eine vom Wahnsinn gepackte «Pietà des Südens» wirkt. Sie erspart uns keine Grausamkeit des Hinhörens und Hinschauens.
L’Arlesiana
Es ist verständlich, dass diese Geschichte, die um einige Figuren erweitert bereits auf den Theaterbühnen von sich reden machte, einem Komponisten auch als geeignetes Operndrama erscheinen musste. Hier war es der Kalabrese Francesco Cilea (1866–1950), der nach einem Libretto von Leopoldo Marenco sich zwischen 1892 und 1897 an die italienischsprachige Komposition des Stoffes machte. Die Uraufführung dieser Geschichte über die Schöne von Arles, die übrigens in der Oper nie selbst und nur in den Berichten von anderen in Erscheinung tritt, fand im November 1897 in Mailand statt. Operngeschichtlich war diese Produktion deshalb von Bedeutung, weil dabei der Tenor Enrico Caruso in der Rolle des unglücklich verliebten Bauernsohns – hier Federico genannt – sein Debut gab. Er sollte zur weltweit dominierenden Tenorstimme werden bis zu seinem Tod am 2. August 1921, vor nun genau 100 Jahren!
Cilea war ein bewundernswert feinfühlender Komponist, wenn auch so etwas wie ein ewiger Tüftler, der seine Werke über Jahrzehnte hinweg verbessern wollte, durch Straffungen, Ergänzungen, Verfeinerungen. An seiner «L’Arlesiana» hat er über 40 Jahre lang herumgetüftelt. Die Fassung, die man als endgültig dem Willen des Komponisten entsprechend betrachten darf, entstand erst 1935 für eine Produktion im Teatro San Carlo von Neapel. Sein kompositorischer Stil, in welchem sowohl die regionalen, die pastoralen, die dramatischen und die lyrischen Aspekte der erzählten Geschichte wahre Klangwunder an stimmlicher, chorischer und an orchestraler Behandlung erfahren, macht Cilea zu einem Meister in der Familie der grossen italienischen Veristen.
Natürlich gibt es auch in dieser Oper einige «Nummern», die es besonders leicht hatten, ins feste Repertoire grosser Sängerinnen und Sänger zu gelangen, obwohl dieses Werk von Cilea – im Gegensatz zu seiner Oper «Adriana Lecouvreur» – nicht zu den wirklich beliebten und etablierten auf den Bühnen der Welt gehört. Ich wähle hier zwei Szenen aus, in denen Mutterliebe und Sohnesverzweiflung in unerwarteter Weise zur Darstellung kommen.
Die Mutterklage
Es ist die Anklage der Hofbesitzerin Rosa Mamai aus dem 3. Akt der Oper mit dem so unitalienisch wie inhuman klingenden Einleitungssatz «Esser madre è un inferno – Mutter zu sein ist eine Hölle!» Wo wir doch wissen, wie in der mediterranen Kultur Mutter zu sein für eine Frau als das grösste Gottesgeschenk gilt! Die Klage ist denn auch eine Art von negativem Gebet: Schmerzen habe sie seit der Geburt ihres Sohnes gelitten, alles habe sie gegeben, um aus ihrem Sohn «un uom che fosse onesto e forte» zu machen: einen Mann, der stark und anständig wäre und ihre ganze Liebe und ihr Stolz würde. Doch Gott habe sie nicht erhört und lasse sie nun verzweifelt sterben. Wie er seine eigene Mutter, am Fusse des Kreuzes habe leiden lassen. Dabei sei es doch ganz und gar seine Sache, das Leben der zu ihm Flehenden zu beschützen und zu retten.
Diesen Hilferuf einer beinahe den Verstand verlierenden Mutter über die Unrettbarkeit ihres geliebten Sohnes und ebenso sehr über empfundene Gottesferne haben grosse Sängerinnen immer wieder gestalten wollen. Hier ist eine Version mit Renata Tebaldi aus dem Jahr 1965 ausgewählt, die dieser Figur sowohl die notwendige stimmliche Glaubwürdigkeit wie die dazu gebrauchte Intensität verleiht. Das New Philharmonia Orchestra spielt unter der Leitung von Oliviero de Fabritiis.
https://www.youtube.com/watch?v=TNqNee4uHUo
Der verzweifelt liebende Sohn
Noch bekannter freilich ist aus dem 2. Akt dieser Oper die sogenannte «Storia del pastore» – eine Arie des unglücklich verliebten Federico. Es ist seine Erinnerung an einen Hirten, der ihm, wenn immer er am Abend seine Lebensgeschichte erzählen wollte, aus Müdigkeit einschlief. Nun ist er derjenige, der aus Liebesleid und Lebensmüdigkeit nur noch einschlafen möchte. Im Schlaf allein liege die Möglichkeit des Vergessens. Alles Erlebte möchte Federico hinter sich lassen können, doch ebendies gelingt ihm nicht, denn immer hat er das Bild der Geliebten vor Augen.
Der arme junge Mann glaubt, nun für immer das Glück seines Lebens und den Frieden mit sich und der Welt verloren zu haben. Warum sollte er sonst so viel zu leiden haben? Denn sie, nur sie, die anscheinend verlorene Schöne aus Arles, spreche immerdar zu seinem Herzen. Sie sei eine «fatale vision», eine für ihn lebensbedrohliche Erscheinung, Sie möge ihn doch loslassen, denn sie immer sehen zu müssen, würde ihm unbeschreibliche Schmerzen bereiten. Die Arie endet mit einem tief empfundenen «Ahimè!», was man wohl nur mit einem verzweifelten «Weh mir!» übersetzen kann.
Unter den grossen Tenören des vergangenen Jahrhunderts hat kaum einer diese Arie nicht gelegentlich als Geschichte über den nur im Schlaf erlösten Hirten als Zugabe am Ende eines Konzertes angestimmt. Auch die Tenöre unserer Zeit wissen noch, dass man damit Menschen zu Tränen rühren kann. Wir hören die «Storia del pastore» hier mit dem amerikanischen Tenor Michael Spyres, der sie mit der passenden Naivität und mit dem ebenso notwendigen sich steigernden Leidenspathos interpretiert. Begleitet wird er vom Moscow Chamber Orchestra unter der Leitung von Constantine Orbelian, eine Aufnahme aus dem Jahr 2010.