Ja, es war der Sündenfall des Westens: jener Putsch, mit dem die amerikanische CIA und der britische Geheimdienst MI6 im Jahre 1953 den iranischen Premier Mohammed Mossadegh stürzten. Dieser hatte es gewagt, das iranische Erdöl, das seit 1909 hauptsächlich von den Briten ausgebeutet wurde, zu verstaatlichen. Mit Hilfe dieses Öls hatten die Briten ihre Kriegsflotte von Kohle auf Öl umgestellt – eine Massnahme, die ihnen gegenüber der vom deutschen Kaiser Wilhelm II. hochgerüsteten deutschen Flotte erhebliche Vorteile einbrachte.
Westlicher Imperialismus
Noch heute prägt der Sturz Mossadeghs durch «den Westen» das kollektive Gedächtnis von Persern und auch Arabern ebenso wie das Abkommen zwischen Mark Sykes und Francois-Georges Picot, mit dem Gross-Britannien und Frankreich schon 1916 das Erbe des vor dem Untergang stehenden Osmanischen Reiches unter sich aufteilten – ohne Rücksicht auf bestehende Stammes- und Kulturgrenzen. Den Sturz Mossadeghs, den der amerikanische Offizier H. Norman Schwartzkopf, Vater des späteren «Befreiers» von Kuwait unter George Bush senior 1991, mit organisiert hatte, und die anschliessende Festigung der autokratischen Herrschaft von Schah Reza Pahlevi hat Nelson Mandela einst als prägenden Grund für die Machtübernahme Ayatollah Chomeinis im Jahre 1979 bezeichnet.
«Wer den Wind sät» heisst das neue Buch von Michael Lüders, der bereits mit einem Buch «Iran – der falsche Krieg» (besprochen im Journal 21 am 11.7.2012) hervorgetreten ist. Wer in Nahost den Wind sät, wer in Iran, im Irak militärisch interveniert, wer mit dem totalitären saudischen Regime ein Bündnis schliesst, darf sich über den Sturm, der dann erst mit Al-Kaida und dann mit dem «Islamischen Staat» über sie hereinbricht, nicht wundern. All diese Länder sind muslimisch, und in diesen Ländern liegen die grössten Erdölreserven der Welt.
Kontrolle des Erdöls
Der Schweizer Historiker Daniele Ganser hat vor ein paar Jahren ausgerechnet, dass die Welt einen Erdölverbrauch hat, für den es einer täglichen Transportkapazität von 44 Supertankern mit jeweils zwei Millionen Fass Öl bedarf. (Inzwischen sind die USA durch ihre Schieferölvorräte etwas unabhängiger vom nahöstlichen Öl geworden).
Doch der Kampf um die Kontrolle der Erdölquellen bzw. jener muslimischen Länder, die in deren Besitz sind, geht unvermindert weiter. Die Vertreibung Saddam Husseins aus Kuwait durch George Bush senior und Norman Schwartzkopf junior diente ebenso der Kontrolle des – kuwaitisch-irakischen – Öls wie der Sturz Saddam Husseins 2003 durch George Bush junior. Dass besonders durch diesen letzten Krieg der Irak praktisch zerschlagen und der Weg für den sich selbst so nennenden «Islamischen Staat» frei wurde, belegt Michael Lüders eindrucksvoll.
Kalter Krieg
Ein weiterer Grund für die Intervention der USA in ein muslimisches Land, nämlich in Afghanistan, war der kalte Krieg mit der Sowjetunion. Nach gängiger Lesart haben die USA die afghanischen Mudschaheddin, die muslimischen Freiheitskämpfer, nach dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 unterstützt. In einem Interview mit der französischen Zeitschrift Nouvel Observateur vom Januar 1998 gab Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter Präsident Carter, aber zu, dass die CIA die Mudschaheddin schon vor dem Einmarsch Moskaus gefördert habe in der heimlichen Hoffnung, die Sowjetunion zu einem verlustreichen Krieg in Afghanistan zu verführen. Auf die Frage des Nouvel Observateur, die Sowjetunion habe ja nicht ganz zu Unrecht erklärt, ihre Intervention in Afghanistan sei gegen die CIA-Unterstützung der Mudschaheddin gerichtet, sagte Brzezinski:
«Die geheime Operation (der CIA, Anm. des Autors) war eine ausgezeichnete Idee. Das Ergebnis war, dass die Russen in die afghanische Falle gelaufen sind. Und Sie verlangen von mir, dass ich das bereue? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten hatten, schrieb ich an Präsident Carter: Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu verpassen. Und tatsächlich, fast fünfzehn Jahre lang war Moskau gezwungen, einen Krieg zu führen, der die Möglichkeiten der Regierung bei Weitem überstieg. Das wiederum bewirkte eine allgemeine Demoralisierung und schliesslich den Zusammenbruch des Sowjetreiches.»
Desavouierung westlicher Werte
Mit vollem Recht kritisiert Michael Lüders auch das einseitige Engagement des Westens für Israel, das, so schreibt der Autor, «Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte» im Orient entwerte. Denn dort stünden diese westlichen Werte für «Heuchelei und Doppelmoral». Diese Doppelmoral «schwächt die Gemässigten unter den Arabern, sie stärkt islamistische Bewegungen, und sie trägt bei zur Radikalisierung der Strasse, nicht zuletzt unter den muslimischen Einwanderern. Vielen Europäern fällt es schwer sich vorzustellen, welche Emotionen das israelische Vorgehen gegenüber den Palästinensern auslöst.»
Tatsächlich haben die vielgepriesenen westlichen Werte für die Völker, die von diesen westlichen Ländern kolonisiert wurden, kaum jemals Gültigkeit gehabt. Daher ist es leicht verständlich, dass man diese Werte, etwa im muslimischen Nahen Osten, oft mit westlicher Heuchelei verbindet.
Wurzeln des Dschihadismus
Von einer strenger wissenschaftlichen Warte beschreibt Guido Steinberg die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten. «Kalifat des Schreckens» heisst das Buch, in welchem der promovierte Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik die Entstehung von Al-Kaida im Irak unter dem Jordanier Abu Musab al-Zarkawi bis hin zum neuen «Kalifen» Abu Bakr al-Bagdadi verfolgt. Steinbergs Analyse ist überaus detailliert. Hätten westliche Geheimdienste, besonders jene amerikanische NSA, die weltweit alle Daten abgreift, derer sie habhaft werden kann, nur einen Bruchteil der von Steinberg präzise verfolgten Entwicklungen gekannt, wäre das Erstaunen in den USA und Europa wohl nicht so gross gewesen.
Zu recht erwähnt Steinberg – um nur ein Detail von vielen exzellent recherchierten weiteren Punkten herauszunehmen – die Bedeutung jenes Ereignisses, bei dem der IS mehr als symbolhaft die von den Diplomaten Marks Sykes und Francois-Georges Picot 1916 in einem Geheimabkommen gezogenen Grenzen aufhob. Es sind kolonialistisch erdachte Nationalstaaten, deren Grenzen mitten durch Stammesgebiete und Lebensräume der Menschen hindurch gingen. «Viele Araber ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung,» schreibt Guido Steinberg, «sehen die nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen insgesamt als künstlich an, so dass die vom IS verkündete Abschaffung der irakisch-syrischen Trennlinie nicht nur unter den Sunniten der Region auf viel Zustimmung stiess.»
Guido Steinberg fährt fort, dass nach Ansicht des IS die Errichtung der Sykes-Picot-Grenzen später, 1924, zur Abschaffung des Kalifats geführt habe. Folgerichtig also, in der Logik des IS war es, dass Abu Bakr al-Bagdadi nun das Kalifat wieder errichtet habe.
Gewaltausbruch in Syrien
Eine weitere kluge Bemerkung im Buch von Guido Steinberg lautet, dass, sich – im Westen gerne unterschlagen – weder das sunnitische Handels-Establishment Syriens, noch die Minderheiten Syriens, etwa die Christen, am Aufstand gegen Baschar al-Assad beteiligt haben.
Wer verstehen will, warum der ursprüngliche Aufstand gegen Baschar al-Assad, der 2011 in der südlich gelegenen Stadt Daraa ausbrach, ziemlich schnell in einen von verschiedensten islamistischen Gruppen geführten religiös motivierten Krieg mutierte, sollte unbedingt das Buch von Benham T. Said konsultieren. Der Autor ist Islamwissenschaftler und Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Hamburg, hat also durch diese beiden Qualifikationen tiefere Einblicke in die Gedanken- und Tatenwelt von Islamisten und Dschihadisten als manch andere Autoren.
Der erste Dschihad, so analysiert Benham T. Said zu recht, begann in der Stadt Hama in den 1960er und1970er Jahren. Schon zuvor, zur französischen Mandatszeit, war Hama ein Zentrum des Widerstandes gegen die Franzosen. «Bereits dieser Kampf,» schreibt der Autor, «wurde zum Teil als ein Kampf der Muslime gegen die christlichen Eindringlinge interpretiert, was zeigt, wie sehr die Zeit der Kreuzfahrer vom späten 11. bis zum 13. Jahrhundert im kollektiven Gedächtnis der Levantebewohner noch immer präsent ist.»
Unterdrückerisches Baath-Regime
Früh, schon 1964, begann in Hama der Aufstand der Muslimbrüder gegen das von ihnen verhasste Regime der Baath-Partei, das zudem von Alawiten, einem entfernten Zweig der Schiiten, getragen wurde. Abdel Halim Khaddam, Provinzgouverneur und später unter Hafis al-Assad Vizepräsident, nahm Hama unter Beschuss, eine Vorgehensweise, wie der Autor schreibt, die keine Eigenheit Baschar al-Assads im gegenwärtigen Bürgerkrieg sei, sondern eine «Konstante seit Bestehens des Baath-Regimes» darstelle.
Der Dschihad, berichtet Benham T. Said weiter, wurde bereits in den 1970er Jahren in lyrisch-islamistischen Volksliedern gepriesen, so in dem Lied bi-dschihadina des Dichters Abu Mazin. Darin heisst es:
«Durch unseren Dschihad lassen wir Felsen zerbröckeln und reissen den Tyrannen und den Unglauben in Stücke. Durch eine mächtige und grosse Entschlossenheit und einen Willen, der Beugung nicht kennt. Wir mobilisieren die Seelenkräfte und den Intellekt. Mit unserem Blut werden wir die Morgendämmerung färben.»
Nachdem im Jahre 1982 dieser so besungene Dschihad in Hama ausgebrochen war, gab Hafis al-Assad seinem Bruder Rifaat al-Assad den Befehl, mit aller Brutalität gegen die Muslimbrüder vorzugehen. Die Angaben der Opferzahlen schwanken. Von mindestens 20’000 Toten gehen aber alle seriösen Studien aus. Gleichzeitig schickte Rifaat al-Assad seine Schergen in das Gefängnis von Tadmor (Palmyra) und liess dort viele Gefangene, die er zu den Muslimbrüdern zählte, abschlachten.
Wellen des Dschihad
Benham T. Said bezeichnet den Kampf um Hama als den ersten syrischen Dschihad. Der zweite begann, seiner durchaus stichhaltigen Interpretation nach, mit der Intervention der USA im Irak (2003) und der damit verbundenen Zerstörung weiter Teile des Landes, seiner Verwaltung und seiner Armee. Als im Januar 2012 das erste Video der Jaabat al-Nusra, der A-Qaida nahestehenden «Unterstützerfront» im Internet erschien, war schnell klar, dass die «Freie Syrische Armee», die, meistens aus Deserteuren des Assad-Militärs zusammengesetzt, Konkurrenz bekommen hatte: islamistische, dschihadistische Konkurrenz. Als kurz darauf auch noch der IS – wie von Michel Lüders und Guido Steinberg beschrieben und von Benham T. Said ebenfalls dargestellt – in Syrien erschien, konnte Assad zwar behaupten, er kämpfe, auch im Interesse des Westens, gegen islamistischen Terror. Gleichzeitig bedeutete das Auftreten von Nusra-Front und IS das Ende des bisherigen syrischen Staatsverbandes.
In einem eigenen Kapitel beschäftigt sich Benham T. Said mit den ausländischen Kämpfern im Irak und zieht dabei, interessant genug, eine Parallele zu den ausländischen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg.
Deutlich machen alle drei Autoren, dass es ohne den Sturz Saddam Husseins durch die USA im Jahre 2003 weder eine Nusra-Front noch einen IS gegeben hätte. Niemand allerdings kann sagen, was geschehen wäre und in welches Chaos der Irak womöglich gestürzt wäre, hätte der Arabische Frühling auf einen noch von Saddam Hussein beherrschten Irak übergegriffen.
Verpasste Chancen und neue Bedrohungen
Hat der Westen versagt? Die Eingriffe seit dem Beginn des 20. Jahunderts – anfangs das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, dann die Ausbeutung des iranischen Erdöls durch Grossbritannien seit etwa 1909, schliesslich der Sturz Mohammed Mossadeghs 1953 – sind im kollektiven Gedächtnis der Menschen präsent. Andererseits wäre ein einheitliches arabisches Reich von Dschiddah bis Damaskus, wie es einst den Arabern von den Briten versprochen war, keineswegs konfliktfrei geblieben.
Benham T. Said erinnert am Schluss seiner präzisen Ausführungen an den sogenannten Barcelona-Prozess. In Barcelona beschlossen die Aussenminister der EU im Jahre 1995, eine Euro-Mediterrane Partnerschaft zu entwickeln. In dieser sollte Syrien eine entscheidende Rolle spielen. Jahrelang wurde mit dem Land über ein Assoziierungsabkommen mit der EU verhandelt. Es kam nicht zustande. Syrien ist, wie auch inzwischen Libyen, einer Kooperation mit der EU weit entrückt. Praktisch existieren diese Länder nicht mehr.
Zum Schluss zitiert Benham T. Said den Generaldirektor des britischen Büros für Sicherheit und Terrorismusabwehr, Charles Farr. Über europäische Dschihadisten, die in Syrien kämpfen, schreibt Charles Farr:
«Sie sind uns viel näher, ihre Zahl ist weitaus grösser, und sie kämpfen mit einer Intensität, die wir zuvor nicht kannten. Gruppen in Syrien streben Angriffe auf Europa an und haben beides: sowohl die Fähigkeit als auch die Mittel, dies zu tun – nach Europa zurückkehrende ausländische Kämpfer eingeschlossen.»
«Wer den Wind sät» nennt Michael Lüders sein Buch. Den Sturm, der jetzt zurückbraust, haben europäische Kolonialmächte und ihre Nachfolger in Nahost, die USA, auch selbst mit zu verantworten.
Erwähnte Literatur:
Michael Lüders: Wer den Wind Sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. C.H. Beck Verlag München, 174 S., 14.95 Euro
Guido Steinberg: Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror. Knaur-Verlag, München 2015, 207 S. , 12.90 Euro
Benham T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden. C.H. Beck Verlag München, 223 S., 14.95 Euro