Der Krieg in der Ukraine treibt nicht nur die Rüstungsausgaben in die Höhe und verändert die Sprache der Politik. Er greift auch in das Fühlen und Denken der mehr oder weniger weit entfernten Zeitzeugen ein.
In Deutschland ist mit Erstaunen, Respekt, aber von manchen Beobachtern auch mit einer gewissen Häme bemerkt worden, wie schnell und entschieden sich führende Politiker der Grünen für die militärische Unterstützung der Ukraine stark gemacht haben. Bedeutet ihre zeitweilige Suspendierung des Pazifismus nicht den endgültigen Abschied von dem Ideal einer friedfertigen Politik? Aber es geht nicht nur um die Grünen. Denn der Krieg verändert auch innere Einstellungen vieler anderer, die ihn nur über die Medien wahrnehmen.
Schleichende Militarisierung
Diese Veränderungen beginnen mit einem Gewöhnungseffekt. Explosionen, Feuer, zerstörte Häuser, verstörte oder getötete Menschen werden zum Alltag in den Meldungen und Nachrichten. Dazu kommt etwas Zweites: Diejenigen, die innerlich auf der Seite der Ukraine stehen, sehen deren militärische Erfolge wie den Anschlag auf die Krim-Brücke mit einer gewissen Genugtuung. Sie erschrecken nicht über die mutwillige Beschädigung eines erst vor wenigen Jahren fertig gestellten Bauwerks, sondern deuten dieses Ereignis als einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu der gewünschten Niederlage Putins.
Ohne dass es recht bemerkt würde, militarisiert sich das Denken der meisten Zuschauer und Zeitgenossen. Das ist ein ebenso grosser Rückschritt wie der Krieg selbst. Denn das Denken in friedlichen Kategorien war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der deutsch-französischen Aussöhnung und der zunehmenden Einigung Westeuropas ein grosser Fortschritt. Der Glaube, dass zumindest ein Teil der Menschheit aus Fehlern gelernt und zu neuen Formen des Zusammenlebens einschliesslich friedlicher Konfliktlösungen gefunden hat, überzeugte auch durch die damit verbundenen Vorteile: offene Grenzen, weltweiter Handel und eine immer besser vernetzte Welt.
Der friedfertige Mensch
In dieser Zeit galt das Denken in den Kategorien der Macht und dem prinzipiellen Misstrauen als Kennzeichen ewig gestriger Politiker, Geheimdienstler und der Militärs. Damit war eine Art neuer Goldener Regel verbunden: Vertrauen schafft Vertrauen, Misstrauen steigert Misstrauen. Im Westen fürchteten pazifistisch orientierte Bewegungen noch in den 1980er Jahren, dass die Installation neuer Waffensysteme, die manche Strategen als dringend notwendig erachteten, letztlich doch nur die Gegenseite zu ebensolchen Anstrengungen provozieren und damit die Rüstungsspirale weiter drehen würde. Weitaus realistischer erschien es, den Weg der Verhandlungen und Abkommen zu beschreiten. Die Erfolge der damit verbundenen Verträge zur Rüstungsbegrenzung sprachen für sich.
Der friedfertige Mensch wurde zum Leitbild. «I ain’t go study war no more», hiess es in dem Welthit «Down by the Riverside». Aber jetzt ertappen sich viele dabei, wie sie sich mehr und mehr in militärische Fragen vertiefen. Für diese Remilitarisierung der Politik und des Denkens benutzt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort «Zeitenwende». Dieses Wort klingt einerseits dramatisch, aber zugleich wolkig. Klarer wäre es, vom «Rückfall» oder «Rückschritt» zu sprechen. Denn wir befinden uns wieder in einer kriegerischen Vorstellungswelt, von der wir meinten, dass sie endgültig der Vergangenheit angehöre und ihren einzig legitimen Platz in den Geschichtsbüchern und auf Gedenktafeln habe.
Die Wunder der Friedensschlüsse
Wie gross dieses Verhängnis ist, erfährt jeder, der versucht, über den gegenwärtigen Rückfall hinaus zu denken. Was müsste geschehen, um auf friedliche Wege zurückzufinden? Es gibt vereinzelte Vorschläge, die auf ein «Einfrieren» des Krieges hinauslaufen, auf «Kompromissangebote» und überhaupt auf «Verhandlungen». Aber schon oberflächliche Diskussionen zeigen, dass die Zeit zur Beendigung des Krieges noch nicht reif ist. Und so bleibt auch der Einzelne in seinem militärischen Käfig gefangen.
Ein alter diplomatischer Grundsatz lautet, dass es leicht ist, einen Krieg zu beginnen, aber schwierig, wieder aus ihm herauszukommen. Und je mehr Akteure an einem Krieg beteiligt sind, desto unwahrscheinlicher wird sein Ende. Denn die zahlreichen Konfliktparteien, die Gewaltunternehmer mit ihren Söldnerheeren und andere, die viel verloren oder gewonnen haben, müssen sich nach den hasserfüllten Schlachten und Feldzügen zusammenfinden, um eine Basis für gegenseitiges Vertrauen, Ausgleich und Abkommen zu schaffen. Herfried Münkler hat in seiner umfassenden Studie zum Dreissigjährigen Krieg dargelegt, dass der Westfälische Frieden nach dem Scheitern ähnlicher Bemühungen in den Jahren vorher geradezu ein Wunder war.
Die doppelte Scham
Mindestens ebenso schwierig war es, eine Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu errichten. Der britische Historiker Ian Kershaw beschreibt, wie Europa mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs über nahezu vier Jahrzehnte aufgrund des hohen Masses an politischer Radikalität in zahlreichen Ländern keinen Ausweg aus den Gewaltexzessen fand. Dass dies 1945 gelang und in der Folge zu einer stabilen Friedensordnung führte, entsprach keiner Zwangsläufigkeit. Ein neues Denken, ein neuer politischer Geist wendete das Geschehen.
Vor diesem Hintergrund ist der gegenwärtige Rückfall in das militärische Denken früherer Zeiten mit einer doppelten Scham verbunden: Man weiss, dass man schon einmal freier dachte, aber man kommt aus dem Käfig der alten Kategorien nicht heraus. Und man weiss, dass auch diese Zeit einmal überwunden sein wird, aber man weiss nicht, welchen Beitrag man dazu leisten kann und wann sich der Silberstreif am Horizont zeigen wird. Die alten Gespenster des Krieges werden noch lange ihr Unwesen treiben.