Die arabischen Monarchien wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar gehören zu den geopolitischen Aufsteigern. In der Energiepolitik, der Diplomatie und bei Sportveranstaltungen sind die Staaten am Persischen Golf Schwergewichte auf der internationalen Bühne.
In Erwartung eines Endes des Ölzeitalters und aus Angst vor Bürgerrevolten haben die Herrscher am Persischen Golf vor einigen Jahren begonnen, die öl- und gasdominierten Wirtschaften in rasantem Tempo zu diversifizieren. Vor allem aber haben die Monarchen die konservativen gesellschaftlichen Vorschriften gelockert.
Mittlerweile dürfen Frauen auch im ehemals sehr konservativen Saudi-Arabien Sport treiben, Auto fahren, sich ohne Verschleierung in der Öffentlichkeit bewegen und ohne männliche Begleitung ausgehen. Konsum- und Vergnügungsmöglichkeiten sind in den Städten am Golf greifbar.
Doch die neuen Freiheiten werden penibel gemanagt. Die Herrscher am Golf lassen nicht zu, dass der Wandel ihre Macht gefährden könnte. Deshalb werden die Bürger und Bürgerinnen überwacht und Meinungsfreiheit und demokratische Mitsprache ist inexistent.
Laut Menschenrechtsorganisation sind die Repressionen am Golf gegenwärtig so harsch wie noch nie. Geringste Kritik an den Herrschern kann zu langjährigen Haftstrafen führen und die Zahl der Hinrichtungen in Saudi-Arabien erreichen Höchststände.
Trotzdem sind die Monarchen am Golf bei der eigenen Bevölkerung populär und vor allem junge Menschen sind begeistert vom angestossenen Wandel.
Der Islam- und Politikwissenschaftler Sebastian Sons* äussert sich im Gespräch mit David Nietlispach über den rasanten Wandel der arabischen Golfmonarchien und ordnet die jüngsten Entwicklungen in der Region ein.
Journal 21: In Dubai ist eben die UN-Klimakonferenz zu Ende gegangen, Katar hat ein Abkommen zum Geisel-Austausch zwischen Israel und den Hamas vermittelt und letzten August fand in der saudischen Stadt Jeddah eine Ukraine-Friedenskonferenz statt. Dubai hat sich längst als globaler Finanzplatz etabliert, Gaslieferungen aus den Golfstaaten sind für Europa unverzichtbar geworden und die Saudis diversifizieren ihre Wirtschaft mit gigantischen Investitionen. Wie bedeutend sind die Golfstaaten mittlerweile auf der internationalen Bühne?
Sebastian Sons: Vor allem Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar wollen nicht mehr nur als dominierende Regionalmächte wahrgenommen werden. Sie möchten sich international als einflussreiche Mittelmächte etablieren, die ausserhalb der grossen Blöcke USA, Europa, Russland, China oder Indien stehen.
Dieses Selbstverständnis betrifft nicht nur die Wirtschaft, sondern immer mehr auch die Politik. Das sieht man auch an der Einflussnahme dieser Staaten auf der internationalen Politbühne. Die Golfstaaten wollen dort nicht länger «unter ferner liefen» oder als Erfüllungsgehilfen des Westens wahrgenommen werden, sondern viel stärker als eigenständige Akteure handeln.
Saudi-Arabien ist traditionell eng mit den USA verbündet. Haben sich die Saudis von den Vereinigten Staaten abgewendet?
Nein, es ist keine Abkehr von Amerika. Ich glaube, es ist eine Emanzipation, die schon länger läuft. Der Vertrauensverlust, den man in der Golfregion gegenüber dem Westen generell, aber vor allem den USA, sieht, ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Der hat mit Sicherheit schon begonnen, als die Amerikaner 2003 Saddam Hussein im Irak gestürzt haben.
Das heisst aber nicht, dass es ein Entweder-oder ist, dass die Saudis jetzt ausschliesslich mit China, Indien oder Russland zusammenarbeiten. Die USA bleiben wirtschaftlich wichtig, sie bleiben sicherheitspolitisch wichtig, und sie sind nach wie vor der bedeutendste militärische Partner für Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten. Das wird sich so schnell auch nicht ändern.
Trotzdem haben die Saudis letztes Jahr die USA brüskiert, als sie Präsident Joe Bidens Bitte ausschlugen, die Ölproduktion zu erhöhen. Biden wollte mit Hilfe der Saudis den Ölpreis senken, um die globale Inflation zu bekämpfen und Russlands Wirtschaft unter Druck zu setzen. Hat sie das deutliche Nein der Saudis überrascht?
Angesichts der Politik, die man in Saudi-Arabien in den letzten Jahren gesehen hat, war diese Ablehnung nur konsequent. Hätte man die Forderung der Amerikaner erfüllt, dann wäre die saudische Partnerschaft mit Russland im Ölmarkt gefährdet gewesen, und das wollte man nicht riskieren.
Sicherlich war das ein starkes Signal an Biden, indem man sagt: Saudi-Arabien agiert nicht auf Wunsch der USA, sondern man verfolgt vor allem erstmal nationale wirtschaftliche Interessen. Ich glaube, die Zeit, in der man den Amerikanern einfach einen Gefallen tut, ist vorbei.
Können die Golfstaaten dem Westen zumindest bei der Entschärfung des Konfliktes zwischen Israel, den Hamas und den Palästinensern helfen?
Ich würde mir wünschen, dass aus der Golf-Region eine stärkere Initiative zu einer langfristigen Lösung des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern käme. Eine, die nicht nur darauf drängt, humanitäre Hilfe und zuzulassen und einen Waffenstillstand durchzusetzen. Doch das ist bisher in der Form nicht zu sehen.
Die Golfstaaten, der Westen und andere regionalen Akteure haben den Palästina-Israel-Konflikt in den letzten Jahren vernachlässigt. Auch bei den jüngsten Friedensabkommen, zum Beispiel zwischen den Emiraten und Israel, stand nicht die palästinensische Sache im Fokus, sondern vor allen Dingen wirtschaftliche und sicherheitspolitische Erwägungen. Das wird jetzt zu einem Problem.
Sie haben in ihrem kürzlich erschienen Buch «Die neuen Herrscher am Golf» geschrieben, dass die massiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen der Golfmonarchien in erster Linie dem Machterhalt der dortigen Herrscher dienen.
Das ist richtig, die Reformen dienen dem Machterhalt der Herrscher. Doch die Notwendigkeit, die eigene Macht zu sichern ist in den Golfländern seit Generationen dieselbe. Was sich gegenüber früheren Jahrzehnten verändert hat, sind die Instrumente, mit denen die Autokraten versuchen, ihre Macht zu bewahren.
Man hat immer noch das Öl und das Gas, aber man weiss, dass diese Rohstoffe irgendwann verbraucht sein werden. Deshalb braucht es andere Anreize, um die Legitimität der Herrscher herzustellen: wirtschaftliche Diversifizierung, gesellschaftliche Öffnung und eine sehr nationalistische Kulturpolitik.
Sie schreiben auch, dass neben dem absehbaren Ende des Ölzeitalter die Revolten des sogenannten Arabischen Frühlings die Reformen in den Golfstaaten beschleunigt hätten.
Der Arabische Frühling 2010 und 2011 war tatsächlich ein Scheidepunkt in der arabischen Welt. Das hat den Herrschern am Golf gezeigt, dass auch sie Opfer einer Volksbewegung werden könnten, wenn sie ihre Länder nicht rasch reformieren. Parallel zu den dann eingeleiteten Reformen wurden die Herrscher aber auch zunehmend repressiv.
Amnesty International schreibt, die Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien sei so schlimm wie noch nie. Im Juli 2023 sei beispielsweise der Lehrer Mohammad bin Nasser al-Ghamdi wegen ein paar harmlosen regierungskritischen Beiträgen in den sozialen Medien zum Tode verurteilt worden. Dabei habe er lediglich 10 Follower gehabt.
Wenn man sich die Berichte von Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten anschaut, dann hat sich die Situation nach dem Arabischen Frühling tatsächlich verschlechtert, in allen Golfstaaten. Es werden drakonische Exempel statuiert, um zu sagen: es gibt rote Linien, und wer diese roten Linien überschreitet, bekommt Probleme.
Trotzdem berichten Journalisten, dass viele Menschen überzeugt hinter ihren Herrschern wie dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman stehen. Stimmt das?
Es gibt natürlich keine Umfragen. Ich habe aber sehr viele Gespräche mit saudischen Kolleginnen und Kollegen geführt, und die grosse Mehrheit steht hinter den Herrschern und den von ihnen angestossenen Veränderungen. Mein Eindruck ist, dass gerade die jungen Menschen froh sind, endlich aus den alten verkrusteten Strukturen ausbrechen zu können. Dass man nicht mehr unter dem strengen religiösen Dogma zu leben hat.
Und die Herrscher wie Mohammed bin Salman sind die Garanten für diese Öffnung.
Es gibt eine grosse Gruppe von Menschen, die sehr stark von den Veränderungen in den Golfmonarchien profitiert. Für diese Menschen ist vor allen Dingen wichtig, dass die Sicherheit, die wirtschaftliche Stabilität und die gesellschaftliche Öffnung bewahrt werden. Beides hat aber nichts mit politischer Mitsprache oder Demokratisierung zu tun.
Die Umstürze, das Chaos und der Anstieg des Terrorismus in Ländern, die durch den Arabischen Frühling destabilisiert wurden, schrecken viele Menschen ab. Das nutzen die Golf-Monarchen sehr geschickt aus, indem sie sich dem Volk als Sicherheitsgaranten präsentieren. Sie sagen: Wir sind das Bollwerk gegen das Chaos. Damit werden auch die digitale Überwachung der Menschen, die Repressionen und die autoritäre Führung gerechtfertigt. Demokratische Experimente werden deshalb von vielen Menschen in der Region gar nicht als erstrebenswert erachtet.
Dieses Denken ist aber nicht auf die Golfregion beschränkt.
Nein, ich glaube im sogenannten globalen Süden hat die Demokratie als Modell schlichtweg an Strahlkraft verloren. Viele Menschen in diesen Ländern wollen keine demokratischen Strukturen, weil sie in Europa oder den USA auch die chaotischen und dysfunktionalen Teile der Demokratie sehen. Als Gegenmodell sehen sie den aufgeklärten Herrscher, der als Modernisierungs-Manager fungiert und ihnen Chancen auf einen wirtschaftlichen Aufstieg gibt – wie in den Golfmonarchien.
*Sebastian Sons ist promovierter Islam- und Politikwissenschaftler und forscht zu den arabischen Golfmonarchien. Er arbeitet als Senior Researcher beim Forschungsinstitut CARPO in Bonn. Im Oktober 2023 erschien sein Buch «Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss».