Bleibt Ostdeutschland von den gemeinsamen Erfahrungen mittel-osteuropäischer Gesellschaften geprägt? Tim Guldimann diskutiert mit der Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta und dem polnischen Politologen Piotr Buras.
Der polnische Politologe Piotr Buras sieht «gewisse Dinge im Alltag, im Verhalten von Polen und Ostdeutschen, meinen ostdeutschen Nachbarn in Brandenburg, die uns verbinden, wo wir uns näher zuhause fühlen als in Westeuropa. Das hängt zusammen mit gemeinsamen Erfahrungen aus der Zeit vor der Wende. Es gibt aber sehr viel, was anders gelaufen ist in den letzten 30 Jahren, so die Transformationsgeschichte. Der grösste Unterschied besteht natürlich darin, dass wir kein Westdeutschland hatten. Das hatte grosse Nachteile, aber auch wieder Vorteile. Dieses Gefühl der Ohnmacht in Ostdeutschland, das war in Polen nicht der Fall, jeder muss selbst verantworten, was damals in den 90er Jahren passiert ist».
Buras sieht aber ein gemeinsames Missverständnis: «Dass man sich sehr stark darauf fokussierte, wie stark die Wirtschaft gewachsen ist in Polen und in Ostdeutschland. Als in Polen die PIS-Partei an die Macht kam, haben sich alle gewundert: Jetzt plötzlich wählen wir eine Partei, die sozial-konservativ, rückwärtsgewandt und populistisch ist. Und das ist genauso in Ostdeutschland. Diese wirtschaftliche Lage liefert überhaupt keine Erklärung für das Verhalten der Menschen. Es geht vielmehr um Respekt, auch um Selbstwertgefühl, darum, ob sich Leute als Bürger erster oder zweiter Klasse fühlen. In Polen war das nicht anders.»
Für die Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta ist dieses verletzte Selbstwertgefühl in Ostdeutschland besonders relevant: «Die friedliche Revolution und dann der Beitritt von Ostdeutschland zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hat aus der Region Ostdeutschland eine Minderheitengesellschaft im gesamtdeutschen Kontext gemacht. Das ist einer der Gründe für das sehr starke Sich-als-Bürger-zweiter-Klasse-Fühlen. Die Abwertung des Ossis war ja auch schon ein sehr starkes Motiv vor 1989. Das hat sich ja ab 1945 im zunehmend geteilten Deutschland immer mehr entwickelt, dass auch in Westdeutschland ein sehr spezifisches, sehr abwertendes Bild über Ostdeutschland entstand. Und umgekehrt hat natürlich auch schon die Propaganda des SED-Staates ein unglaublich negatives Bild von Westdeutschland und einen sehr grossen Antiamerikanismus sehr tief reingetrieben in die Bevölkerung.»
Buras sieht im osteuropäischen Rechtspopulismus auch eine Spätfolge des Umbruchs von 1989: Die Frage «warum in Mittel- und Osteuropa, nicht nur in Polen und Ostdeutschland diese populistische Welle mit viel grösserer Wucht einschlägt, hängt damit zusammen, dass wir heute die zweite Phase, die zweite Welle einer grossen Veränderung erleben, eine Veränderung zwar genauso wie in Westdeutschland oder Frankreich, aber alles, was heute die grosse gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Veränderung ausmacht, kommt in Mittel- und Osteuropa inklusive Ostdeutschland zum zweiten Mal. Und es trifft hier auf junge Demokratien, woanders trifft es auf gefestigtere Demokratien.»
Piechotta stellt im Rückblick aber fest, dass «die Bürgerrechtsbewegung im damaligen Ostdeutschland stark davon gelernt hat, was Solidarnosc, was Charta 77 Jahre vorher entwickelt hatten, wie man die Ostblockstaaten in die Knie zwingt. Und jetzt ist es auch wieder so, dass wir auf der Suche nach Antworten wieder auf Polen schauen, das wieder ein paar Jahre vor uns ist, das Jahre der PIS-Regierung hinter sich hat und jetzt zum ersten Mal wieder Wahlen dagegen gewonnen hat.»
Das bestätigt auch Buras: «Die polnische Lektion zeigt, dass es möglich ist, den Rechtspopulismus und den Iliberalismus zu überwinden.» Piechota ist etwas vorsichtiger: «Ja, aber nur wenn jetzt nicht die nächste grosse Abwanderungswelle kommt. Jetzt gibt es sehr starke Tendenzen, dass nicht mehr Leute neu nach Ostdeutschland ziehen oder zusätzliche Abwanderungsbewegungen stattfinden, und das ist die grosse Gefahr.»
Journal21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.