Dieses Reformvorhaben war aus der denkbar edelsten Absicht heraus geboren worden: An die Stelle des bisherigen Wildwuchses der Sprache sollten endlich rational geordnete Strukturen und Regeln treten. Die würden leichter zu erlernen und anzuwenden sein. Das Gegenteil kam heraus. Ein Drama mit immer neuen Wendungen.
Es begann mit einem Arbeitskreis. Der wurde im Jahr 1980 aus genau 80 Germanisten aus verschiedenen deutschsprachigen Ländern – auch der DDR – gebildet. Die stiessen auf zahlreiche Ungereimtheiten in den bisherigen Rechtschreibregeln und machten Vorschläge, wie diese zu beseitigen seien. Es folgten Konferenzen von Kultuspolitikern, Verlagen wie dem Duden und anderer Experten. Das Ganze kulminierte am 1. Juli 1996 in der «Wiener Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung». Darin verpflichteten sich die beteiligten Länder, die neuen Regeln bis spätestens zum 1. August 1998 einzuführen. Auf den Chefetagen der Schulbuchverlage aber auch im Duden-Verlag knallten die Sektkorken.
Unangenehm wie Zahnschmerz
Denn nun mussten zahllose Schulbücher und natürlich Wörterbücher wie der Duden neu gedruckt werden. Die Druckmaschinen waren aber noch längst nicht angelaufen, als sich schon ein gewaltiger Sturm zusammenbraute. Bereits auf der Frankfurter Buchmesse von 1996 unterzeichneten mehrere Hundert Schriftsteller die «Frankfurter Erklärung», in der sie den sofortigen Stopp der Rechtschreibreform forderten. Das war nur der Auftakt zu zahlreichen weiteren Resolutionen, gerichtlichen Auseinandersetzungen und immer wieder empörten Stellungnahmen von Politikern und Intellektuellen, die für den Erhalt der bisherigen Rechtschreibung eintraten. Aber es gab auch vehemente Verfechter der Reform wie die «taz», die in den Gegnern der Rechtschreibreform die Fratzen der «Ewiggestrigen» zu erblicken meinte.
Woran entzündete sich die empörte Kritik? Im Vordergrund standen falsche Herleitungen von Wörtern, also falsche Etymologien, und Bedeutungsverschiebungen, die zum Beispiel durch die neuen Regeln für Getrennt- beziehungsweise Zusammenschreibung von Wörtern entstanden. Der tiefste Grund für die Empörung dürfte aber gewesen sein, dass sich nach den neuen Regeln das Schriftbild veränderte, indem zum Beispiel aus ph ein f wurde, etwa bei Orthografie. – Nach den leidvollen Erfahrungen mit den Eingriffen der Gender-Progagandisten wissen wir, dass die Verhunzung des Schriftbildes ebenso unangenehm wirkt wie ein hartnäckiger Zahnschmerz.
Die Bratkartoffeln
Entsprechend zeigten auch Umfragen noch lange nach der Einführung der Rechtschreibreform – und wiederum nach deren punktueller Reform –, dass die Mehrheit der Befragten sie ablehnte. Das erwies zum Beispiel noch eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom April 2008. Dabei lehnten 55 Prozent der Befragten die Rechtschreibreform ab, 31 Prozent war sie egal, und 9 Prozent waren dafür.
Bis heute fallen geänderte Schreibweisen, die auf falschen oder zumindest wackeligen Etymologien beruhen, besonders störend ins Auge. Da der Stengel angeblich von Stange kommt, wird er nun «Stängel» geschrieben. Greuel sollen aus dem Grauen kommen, und werden jetzt «Gräuel» geschrieben, was bis heute bei Sprachliebhabern Grauen auslöst.
Die Getrennt- und Zusammenschreibung liesse sich gut als Test für Sprachempfinden verwenden. Die eifrigen Reformer wollten grundsätzlich Adverben und Verben zusammenschreiben. Schon lange vor der Rechtschreibreform machte Erich Kästner darauf aufmerksam, dass ein himmelweiter Unterschied zwischen «heissersehnt» und «heiss ersehnt» besteht. Dafür dienten ihm Bratkartoffeln als Beispiel, die heissersehnt sein können, aber wenn sie noch dampfend serviert werden sollen, sind sie "heiss ersehnt".
«Rau» oder «rauh»
Ein unendliches Feld ist die Gross- und Kleinschreibung, weil die Reformer meinten, dass Wörter, die aus Substantiven hergeleitet werden können, grundsätzlich grossgeschrieben werden müssen. Bei Wörtern wie «Recht» oder «Schuld» zum Beispiel ist das aber nicht durchzuhalten. So kann man zwar im Recht sein, muss deswegen aber nicht unbedingt recht bekommen. Und ob jemand an einem Unfall wirklich schuld ist, kann zum Beispiel ein Prozess erweisen, an dessen Ende ein Richter ihm Schuld gibt.
Diese und viele andere Ungereimtheiten führten dazu, dass einzelne Zeitungen und Verlagshäuser «Hausorthographien» – mit ph geschrieben – einführten. Wie aber verfahren Verlage mit Klassikern? Wenn Ausgaben für den Schulgebrauch gedruckt werden, werden sie auf die neue Rechtschreibung umgestellt, sonst nicht.
Was war noch ursprünglich das Ziel der Rechtschreibreform? Ach ja, Vereinfachung. Auch der sprachlich Versierte wird sich heutzutage immer wieder veranlasst sehen, einzelne Wörter nachzuschlagen, zum Beispiel bei Korrekturen.de. Und dort werden ihm ganze Sträusse von möglichen Schreibweisen angeboten, wobei die Redaktion wenigstens Empfehlungen ausspricht. So kann man sich entscheiden, ob man «rau» oder «rauh» schreiben will. Nach den neuen Regeln empfiehlt sich «rau», aber die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht in ihrer Hausorthographie «rauh» vor. Wer das Vereinfachung nennen will, mag das tun.
Ganz sicher hat die Rechtschreibreform den Pädagogen einen Bärendienst erwiesen. Nicht nur, dass sie selbst neue Regeln verinnerlichen mussten, die ihnen nicht unbedingt einleuchteten und in vielen Fällen auch wieder geändert wurden. Vielmehr standen und stehen sie vor der Aufgabe, Schülern beizubringen, dass zur Sprache Regeln gehören, die zu erlernen und zu befolgen sind. Aber mit den Regeln ist das seit der Reform so eine Sache. Sie können sich ebenso plötzlich und unbegreiflich ändern, wie sie eingeführt worden sind. Man hätte das Fach Deutsch noch mit dem Fach Dialektik ergänzen sollen.
Nun darf man auf die Neufassung des amtlichen Regelwerks gespannt sein, die der 2004 eingerichtete «Rechtschreibrat» abgeschlossen hat und Ende Dezember den zuständigen politischen Instanzen zur verbindlichen Bestätigung vorlegen will. In der Frage aber, die die Öffentlichkeit derzeit am meisten umtreibt, dem Gendern, gibt er keine Empfehlung. Warum? Die Genderzeichen seien «sprachfremd» und gehörten nicht zum Deutschen. Also könne sich der Rechtschreibrat dazu nicht äussern – und natürlich niemandem auf die Füsse treten. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen.