Wer würde die mit 50.000 Franken höchst dotierte literarische Auszeichnung der Schweiz für sich in Anspruch nehmen können? Die Newcomerin Dorothee Elmiger mit ihrem literarisch ambitionierten Roman über zwei Schwestern im apokalyptischen Nirgendwo oder Kurt Marti, der Altmeister der politisch pointierten Prosa, mit seinen Notaten aus den letzten 40 Jahren?
Der aus der Spoken Word-Szene stammende Pedro Lenz mit seiner wunderbar musikalischen Berner Mundarterzählung eines verliebten Knastbruders oder Urs Faes mit seiner sprachlich makellosen, aber inhaltlich ein wenig konstruierten Liebesgeschichte aus dem Krankenhaus-Milieu? Oder eben doch Melinda Nadj Abonij mit ihrem federleichten und doch so brennend aktuellen Bericht aus dem schweizerisch-serbischen Grenzgebiet, der bereits die Jury des Deutschen Buchpreises für sich eingenommen hatte?
Viele sind würdig, wenige auserwählt
Der Preis ging an Melinda Nadj Abonij, die gebürtige Serbin ungarischer Muttersprache, die in Zürich Deutsche Literatur und Geschichte studiert hatte und bereits vor sechs Jahren mit einem ersten Roman in Erscheinung getreten war. Die Jury, bestehend aus der Literaturjournalistin Sandra Leis sowie den Kritikern Martin Ebel, Manfred Papst, Hans-Ulrich Propst und Martin Zingg, hatte offensichtlich beschlossen, sich über das deutsche Urteil hinwegzusetzen und dasjenige Buch auszuzeichnen, das sie für das beste hielt.
Man kann sich darüber streiten, ob es richtig ist, Ehrungen zu kumulieren. Man kann sich auch darüber streiten, ob solche hochdotierten Preise überhaupt sinnvoll sind. Über beides ist an der BuchBasel und dem Internationalen Buch- und Literaturfestivals ausführlich und kontrovers diskutiert worden – mit guten Argumenten von beiden Seiten.
Sicher wäre ein anderer Entscheid denkbar gewesen. Tauben fliegen auf“ ist nicht das einzige Buch auf der Short-List, das einen Preis verdient hätte. Und sicher gäbe es auch andere Möglichkeiten, in Literatur zu investieren, als die jährlich wiederkehrende Vergabe von Preisen.
Klug, witzig, traurig
Tatsache aber ist, dass sich hier die Qualität gegen alle anderen Kriterien durchgesetzt hat. „Tauben fliegen auf“ ist ein ausgezeichnetes Buch: klug, witzig, traurig, unterhaltsam, informativ – alles in einem. Es ist die ebenso kritisch wie liebevoll geführte Auseinandersetzung mit einem Leben in zwei Welten und einer jener doppelten Identitäten, wie sie in nächster Zeit immer häufiger anzutreffen sein werden. Es ist das richtige Buch zur richtigen Zeit, was sicher auch darin zum Ausdruck kam, dass der Jury-Entscheid und die Publikumsumfrage sich in diesem Fall deckten.
Und Tatsache ist auch, dass Preise Wirkung zeigen. Sie richten die Aufmerksamkeit der Leserschaft wie mit einem Brennglas auf lesenwerte Bücher. Sie sind Leuchttürme in der längst unüberschaubar gewordenen Flut von Neuerscheinungen. Sie sind Wegmarken sich abzeichnender Entwicklungen. Und sie sind notwendige Lebensgrundlage für Autorinnen und Autoren, die hierzulande nur in den seltensten Fällen von dem leben können, was sie mit Schreiben einnehmen.
Dass Preise, zumal wenn sie gehäuft auftreten, auch eine Belastung für die Zukunft darstellen können, das allerdings weiss jeder Autor, jede Autorin, die schon einmal mit einem Erstling gross herausgekommen sind. Es gibt nichts Schwierigeres, als an einen Erfolg anzuknüpfen und einem hoch gelobten Werk ein ebenbürtiges nächstes folgen zu lassen. Doch das ist dann halt der Preis, der für den Preis zu bezahlen ist: eine Hypothek, mit der es leben zu lernen gilt.