Eine Kolonne von 280 russischen Lastwagen mit Hilfsgütern für die Bevölkerung von der eigenen Regierung bombardierten Grossstädten im Osten der Ukraine eiert an der Landesgrenze rum. Eine fünfte Kolonne, ein Danaergeschenk, ein Vorwand für Russland, direkt militärisch in der Ukraine einzugreifen? Auch die Medien eiern rum. Aber es gebe noch eine zweite Kolonne.
Phantom-Invasion
Die ukrainische Regierung behauptet, eine Militärkolonne von russischen Panzerfahrzeugen sei unter Ausnützung einer Lücke in den Grenzbefestigungen in ukrainisches Territorium eingedrungen. Eine «bedeutender Teil» dieser Fahrzeuge sei bereits «vernichtet» worden. Der brandgefährliche NATO-Generalsekretär Rasmussen bestätigte sofort den «Einfall» der russischen Armee.
Auch die US-Regierung gibt eine offizielle Verlautbarung heraus: «Russland hat kein Recht, Fahrzeuge, Personen oder Güter jeder Art unter irgendeinem Vorwand ohne Erlaubnis der Regierung in die Ukraine zu schicken.» Der Sprecher des US-Sicherheitsrats fügt hinzu, dass die USA derzeit nicht bestätigen könnten, dass die Ukraine einen russischen Militärkonvoi angegriffen und teilweise zerstört habe. Die USA seien aber sehr besorgt über das wiederholte russische oder von Russland unterstütze Vordringen in die Ukraine.
Obwohl sich der Vorfall schon vor einigen Tagen ereignet haben soll, ist es also weder Spionagesatelliten, die notfalls die Bewegung eines einzelnen Menschen irgendwo auf der Welt aufzeichnen können, noch der NSA und allen weiteren US-Geheimdiensten, noch der ukrainischen Regierung gelungen, wenigstens ein verwackeltes Foto, ein abgehörtes Gespräch als Beweis vorzulegen. Die russische Regierung streitet offiziell alles ab, auch sie könnte ihre Behauptung beweisen. Aber das will man gar nicht, darum geht es nicht.
Nicht nur die Wahrheit stirbt zuerst
Wenden wir, da wir ja auch nicht mehr wissen, die gute alte Logik an. Russland solle also mal schnell einen kleinen Militärkonvoi in die Ukraine entsandt haben. Niemand vermochte bislang einen Grund anzugeben, wieso das Sinn machen könnte, was wohl der Zweck einer solchen Aktion wäre und ob wirklich jemand in Russland so bescheuert sein könnte anzunehmen, dass angesichts der heutigen Überwachsungsmöglichkeiten so etwas unentdeckt bliebe.
Nun ist nichts unmöglich. Ein subalterner russischer Militär will ein Zeichen setzen. Russland will die möglichen Reaktionen austesten. Die ukrainische Regierung will einen Vorwand erfinden, nach Mulitimilliardenhilfe endlich auch direkte militärische Unterstützung massiver Art vom Westen zu erhalten. Die USA wollen die EU und Russland in einen bewaffneten Stellvertreterkrieg in der Ukraine treiben, der beide schwächt und sie als lachenden Dritten profitieren lässt.
Zurzeit ist nur eines sicher: Wir werden wohl nie oder nicht so schnell herausfinden, was hier Erfindung oder Intrige ist, was wirklich geschah. Weder die USA noch Russland werden die Ergebnisse der Auswertung ihrer Spionagesatelliten auf den Tisch legen. Einfach deshalb, weil man damit ja dem möglichen Feind Informationen über die eigene Fähigkeit zur Aufklärung geben würde. Also bliebe doch eigentlich nur die berühmte vierte Macht in freien Staaten, die Presse.
Jämmerlich
Man muss nicht Parteigänger einer der am Konflikt beteiligten Mächte sein, um ein Mal mehr festzustellen: Das, was in den russischen Medien erscheint und das, was wir als Informationsquellen haben, steht sich in nichts nach. Es dürfte nun allerdings nur wenige Russen geben, die der festen Überzeugung sind, dass sie mehr oder minder objektiv, unabhängig und umfassend über die Situation in der Ukraine von ihren Massenmedien informiert werden.
Es gibt aber in Europa, auch in der Schweiz, immer noch einen bedeutenden Prozentsatz der Bevölkerung, die überzeugt davon ist, dass man dank der freien westlichen Presse, vor allem, wenn man zudem noch etwas googelt, schon einen der Realität entsprechenden Informationsstand erlangen könnte. In Wirklichkeit, und nicht nur bei diesem Einzelfall, bieten unsere Medien im Allgemeinen ein jämmerliches Bild. Zum Teil, vom «Spiegel» abwärts, betreiben sie Kriegshetze («Stoppt Putin jetzt!»). Zum anderen Teil, nicht zuletzt durch die weltweiten Sparmassnahmen in Redaktionen, berichten auch sie weitgehend das, was ein überarbeiteter Redaktor am Schreibtisch googeln kann.
Im besten aller Fälle steht einer der wenigen noch existierenden Korrespondenten mit dem Mikrophon in der Hand weitab vom Schuss und gibt wieder, was er vorher selbst aus der Presse entnahm. Das könnte er genauso und kostengünstiger im Studio des jeweiligen Nachrichtensenders tun, aber dann würde ja die Authentizität des Satzes fehlen: «Wir schalten jetzt live zu unserem Sonderkorrespondenten in Kannitverstan und stellen ihm die Frage: Was gibt es Neues vor Ort?»
Tun und nicht tun
Jeder von uns, ich natürlich auch, ist restlos überfordert, wenn er sich darüber informieren möchte, was denn nun wirklich in der Ukraine passiert. Daraus könnte man verständlicherweise den Schluss ziehen, dass der verregnete Sommer doch ein bedeutenderes Problem ist, dem man seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen sollte.
Soweit nicht ganz falsch. Aber: Was uns in der Schweiz wie der verregnete Sommer angeht, ist die Frage, ob sich die Eidgenossenschaft in irgendeiner Form an Strafaktionen der USA und des Machtgebildes EU gegen Russland beteiligen sollte. Und da braucht man keine vertieften Kenntnisse über Ereignisse in der Ukraine zu haben, um zu einem klaren und eindeutigen Schluss zu kommen: selbstverständlich nicht, unter keinen Umständen.