Der spanische Philosoph José Antonio Marina folgt mit seiner „Passion der Macht“ den verschlungenen Pfaden dieser gesellschaftlichen Urgewalt. Sie ist der Motor der Entwicklung und der „glänzendsten geistigen Kreativität“, wie Marina schreibt, und zeigt sich zugleich als „äusserste Brutalität“. Shakespeare merkte an: „Die Macht eines Riesen zu haben, ist schön, aber schrecklich, sie wie ein Riese zu gebrauchen.“
Ambivalenz ist das Wort, das die Macht am besten kennzeichnet. Sie pendelt zwischen Aufbau und Zerstörung, zwischen Gut und Böse. Gleichzeitig maskiert sie sich und tritt in vielerlei Gestalt auf. Und nicht zuletzt springt die Macht in Lücken, die jene offen lassen, die sich unter ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Schutz stellen.
Drei Phasen der Macht
In diesem Spiel der ständigen Verwandlungen beobachtet Marina als wiederkehrende Struktur drei Phasen. In der ersten Phase entfaltet sich der Machttrieb, der keine Grenzen kennt. Die Macht will immer mehr unterwerfen und immer lückenloser kontrollieren. Diese Phase ist durch Gewaltausübung gekennzeichnet. Es kommt nicht auf die Zustimmung der Unterworfenen an. Im Gegenteil: Ist es doch ein gebrochener Wille die beste Bestätigung der Wirksamkeit der Macht.
Der Übergang von bloss physischer Gewalt zur Verwendung subtilerer symbolischer Mittel kennzeichnet die zweite Phase. Bildlich gesprochen genügt es nun schon, die Waffen oder die Zwangsmittel zu zeigen, um die Macht auszuüben.
In einer dritten Phase geht es darum, die Macht als rechtmässig zu etablieren, sie also zu legitimieren. Macht braucht also Zustimmung, und die erhält der, der die besten Gründe für sich reklamiert. Damit geht ein weiterer Effekt einher, die Moral. Die als legitim anerkannte Macht setzt eine Moral frei, nach der sich alle mit ihrem Gewissen, ihrem Gehorsam und Pflichtgefühl richten.
Moral als Herrschaftsinstrument
Dieses Schema kann in verschiedenen Gesellschaften aber unterschiedliche Ausprägungen annehmen. So macht Marina die schöne Beobachtung, dass die Macht im sich demokratisierenden England mit der Magna Charta begrenzt wurde und die Schutzrechte der Aristokratie auf das Volk ausgedehnt wurden. In Frankreich dagegen sollte die Macht, die beim Adel lag, auf das Volk übertragen werden. „Auf der einen Seite sollte die Demokratie die Ausweitung einer individuellen mit ewigen Garantien versehenen Freiheit auf alle sein, auf der anderen Seite die Verteilung einer mit ewiger Allmacht gerüsteten Souveränität, die die Individuen nur als Untertanen kennt, an alle.“
Breiten Raum nimmt bei Marina die Analyse der Methoden ein, mit denen Macht gewonnen und erhalten wird: vom Staat bis hinein in die Intimität von Liebesbeziehungen. Neben der „Ansiedlung moralischer Gefühle“ wie zum Beispiel das Pflichtgefühl in einer Person dient ganz besonders die Aussicht auf Erfüllung von Wünschen der Macht. Schönheit ist deswegen eine Macht, weil sie die Erfüllung sexueller Wünsche verspricht. Wünsche zu wecken und ihre Befriedigung in Aussicht zu stellen ist das Schema, nach dem die Wirtschaft ihre Macht entfaltet.
In der Politik funktioniert dieses Schema mit dem Versprechen von „Veränderung“. Marina notiert: „In diesem Augenblick ist die Welt wieder einmal aufgewühlt durch das Versprechen von Veränderung, das die zentrale Botschaft von Barack Obama darstellt. Wer wie wir so viele Wahlkampagnen mit dem gleichen Köder erlebt hat, versteht nur mühsam, dass seine Effizienz noch immer nicht durch Übersättigung erloschen ist.“
Der Intellekt als Feind
Die Macht entspricht immer wieder dem Bedürfnis derjenigen, die sich nur unter ihrem Schirm sicher fühlen können, weil ihre tiefste Angst die Angst vor der Freiheit ist. Dass das Christentum immer noch das Bild vom Hirten und den Schafen verwendet, befremdet Marina, denn das Schaf „kann seine Handlungen nicht kontrollieren, weiss nicht, wo die Weiden sind und würde vom Wolf gefressen.“ Dieses Bild vom Schaf versinnbildlicht die höchste Form des Gehorsams, die Aufgabe der eigenen Vernunft. Marina zitiert einen Ordensgeistlichen: „Mit keinem anderen Laster sucht der Teufel so häufig den Mönch in sein Verderben zu stürzen als mit der Einflüsterung, dass er unter Verachtung der Ratschläge der Älteren sich auf sein Urteil, Entscheidung und Wissen verlassen soll.“
Das Problem besteht aber grundsätzlich darin, dass auch die Vernunft nicht vor der Barbarei der Macht gefeit ist. In diesem Zusammenhang wirft Marina einen Blick auf die postmoderne Philosophie Frankreichs, die sich als links und emanzipativ verstand. Im Jahre 1971 sagte Michel Foucault in einer Fernsehdiskussion zu Noam Chomsky: „Wenn das Proletariat an die Macht kommt, wird es vielleicht eine gewaltsame, diktatorische und blutige Macht ausüben gegenüber den Klassen, über die es endlich gesiegt hat. Ich sehe nicht, was man dagegen einwenden kann.“ - Chomsky war entsetzt. Die „Passion der Macht“, die Macht um ihrer selbst willen, ihre Ausübung zur blossen Befriedigung eigener Machtgelüste hat sogar bei den sich als avantgardistisch gebärdenden Philosophen und Soziologen einen fruchtbaren Nährboden gefunden.
Die notwendige Fiktion
Wie aber ist die Macht zu zähmen? Hilft Ethik weiter? Am Anfang schreibt Marina: „Die Ethik erscheint als die grosse Anstrengung, eine verschiedene Macht zu erfinden.“ Im letzten Teil seines Buches führt er breit aus, wie er sich das denkt. Zunächst stellt er fest, dass es keine unbezweifelbar feste Grundlage für die Ansprüche an das menschliche Zusammenleben gibt. Selbst mit dem Naturrecht lasse sich Sklaverei ebenso gut begründen wie deren Ablehnung. Das Christentum hat sich in seiner Gewalt-Geschichte nicht besser verhalten als andere, und die reine Vernunft lässt sich auch vor diverse Karren spannen.
Aber, so Marina, es gebe eine „notwendige Fiktion“, die dazu diene, die Willkür einzudämmen. Diese Fiktion konstituiert die Regeln, die den Idealen der Menschenwürde und des Rechts entsprechen. Diese „notwendige Fiktion“ lässt sich nicht beweisen, aber sie gewinnt in dem Masse an Realität, wie man sich für sie einsetzt. „Eine konstituierende Fiktion kann als solche nur funktionieren, wenn alle sich verhalten, «als ob» sie wahrhaftig wäre. Und warum müssen wir das? Weil die Alternative das Grauen ist.“
Am Ende schreibt Marina: „Es ist schwierig, die Güte zu rechtfertigen, aber äusserst einfach, Gewalt zu gebrauchen.“ Man wünscht sich, dass dieses scharfsinnige und vielschichtige Buch aus Spanien auch die deutschsprachige Diskussion bereichert.
José Antonio Marina, Die Passion der Macht. Theorie und Praxis der Herrschaft, Schwabe reflexe 12, Schwabe AG, Verlag, Basel 2011