Lediglich 47 Prozent aller Amerikaner befürworten laut einer Gallup-Umfrage die militärische Intervention in Libyen. Indes vermeidet es das Weisse Haus um jeden Preis, den Einsatz gegen Muammar al-Ghadhafi einen „Krieg“ zu nennen. Von „militärischen Bemühungen“ ist euphemistisch die Rede, von einer „beschränkten humanitären Intervention“ oder von „kinetischer militärischer Aktion“, Washingtons neustes Modewort.
Warum also setzen die USA in Libyen neuerdings auch Kampflugzeuge des Typs AC-130 und A-10 ein, deren bevorzugtes Ziel Bodentruppen und Versorgungskonvois sind? Dem Pentagon zufolge sollen die schwer bewaffneten Maschinen nicht den Vormarsch der libyschen Rebellen erleichtern, sondern den Druck auf die Truppen Ghadhafis erhöhen. Wozu die Einsätze der AC-130 und A-10 auch immer dienen, über die Durchsetzung der ursprünglich beschlossenen Flugverbotszone gehen sie ohne Zweifel hinaus.
Abgrenzung vom Vorgänger
Entsprechend wuchs in der Hauptstadt der Erklärungsbedarf – einer skeptischen Bevölkerung wie auch der republikanischen Opposition im Kongress gegenüber. Zu wenig zu spät, kritisierten die einen den Einsatz in Libyen. Zu ziellos zu viel, monierten andere. Erste Antworten hat jetzt Präsident Barack Obama Anfang Woche bei einem 28-minütigen Auftritt von der National Defense University (NDU) in Fort McNair im Südwesten Washingtons gegeben. Schon George W. Bush war gern in Fort McNair aufgetreten, etwa dann, wenn es bezüglich des Kriegs gegen den Terrorismus galt, markige, zitierfähige Worte abzusondern.
Indes grenzte sich Barack Obama in seinen Ausführungen vor der NDU deutlich von seinem Vorgänger ab und hielt fest, ein Wechsel des Regimes in Tripolis sei nicht Ziel der Aktion in Libyen: „Um ganz offen zu sein, wir haben das im Irak versucht. Der Regimewechsel dort hat acht Jahr gedauert, Tausende von amerikanischen und irakischen Leben sowie nahezu eine Billion Dollar gekostet. Das in Libyen zu wiederholen, können wir uns nicht leisten.“
Dafür argumentierte der amerikanische Präsident, die USA hätten ein strategisches Interesse daran, in Libyen den Tod von Tausenden unschuldiger Zivilisten zu vermeiden: „Ich weigere mich, mit einem Einsatz zuzuwarten, bis erste Bilder von Massakern und Massengräbern auftauchen.“ Zwar sei Amerika, so Obama, nach wie vor bereit, unilateral zu handeln, falls es darum gehe, die nationale Sicherheit und die Interessen der Nation zu verteidigen. In andern Fällen aber, zum Beispiel bei Völkermord, sollten die USA nicht alleine, sondern im Einklang mit der internationalen Gemeinschaft vorgehen – eine Politik, die das „Wall Street Journal“ als „Krieg mittels globaler Kommission“ belächelt.
Die Obama-Doktrin
Hingegen lobte der sonst den Republikanern nahe stehende Politologe Robert Kagan Barack Obamas Rede in der „Los Angeles Times“ als „Kennedy-esk“. Der Demokrat habe sich in die ehrwürdige Tradition amerikanischer Präsidenten eingereiht, die Amerikas Ausnahmestellung in der Welt verstanden hätten: „Er hat den so genannt realistischen Zugang entschieden abgelehnt, Amerikas Sonderolle hochgehalten, von universellen Werten gesprochen und darauf bestanden, Amerikas Macht, wo angezeigt, einzusetzen, um diese Werte zu schützen.“
Aaron David Miller, ein Vertreter des US-Aussenministeriums unter Bill Clinton, beschrieb in „New York Times“ die Stossrichtung von Barack Obamas Ausführungen zu Libyen wie folgt: „Wenn wir in der Lage sind, wenn es eine moralische Rechtfertigung gibt, wenn wir Alliierte haben und wenn wir eine Ausgangsstrategie haben und nicht feststecken, dann werden wir helfen. Die Obama-Doktrin ist eine Doktrin, die vorsichtig nach allen Seiten abwägt und sicherstellt, dass es immer einen Ausweg gibt. Er (Obama) hat aus Afghanistan und dem Irak gelernt.“
Unbeantwortet liess der amerikanische Präsident jedoch vor der National Defense University die Frage, wie lange die Aktion in Libyen dauern solle. Zwar schloss Barack Obama den Einsatz amerikanischer Bodentruppen in Libyen nach wie vor aus, bekräftigte aber auch, er wolle zuwarten, bis Muammar al-Ghadhafi gestürzt sei: „Das wird unter Umständen noch etwas dauern. Aber die Zeit läuft gegen ihn.“
Einzigartige Möglichkeit
Weiter blieb offen, wie der US-Präsident seine Doktrin in jenen Ländern des Nahen Ostens anwenden will, in denen ebenfalls Volksaufstände gegen Diktatoren gären. „Die USA werden weder das Tempo noch den Umfang dieses Wechsels diktieren können“, sagte Barack Obama: „Ich glaube aber, dass sich diese Bewegung nicht aufhalten lässt, und wir jenen beistehen müssen, die an die selben Prinzipien glauben, die uns (Amerikaner) durch so viele Stürme geleitet haben: unser Widerstand gegen Gewalt, die sich gegen eigene Bürger richtet; unsere Unterstützung einer Reihe universeller Rechte, unter ihnen das Recht auf freie Meinungsäusserung und freie Wahlen; unsere Hilfe für Regierungen, welche die Aspirationen ihrer Bürger ernst nehmen.“
Warum also in Libyen intervenieren und nicht in Bahrain, in Syrien oder gar im Iran? Libyen, argumentierte der US-Präsident, sei ein besonderer Fall: „Wir mussten zu diesem Zeitpunkt den Ausbruch von Gewalt in einem schrecklichen Ausmass befürchten. Wir hatten eine einzigartige Möglichkeit, diese Gewalt zu stoppen.“ Die USA, sagte Barack Obama, könnten in der Tat nicht überall eingreifen, wo Unterdrückung herrscht: „Das darf aber nie ein Argument dafür sein, nicht das zu tun, was recht ist.“
Fragt sich, wo in einem Land wie Syrien die normale Repression aufhört und das Massaker oder der Völkermord beginnt. Jedenfalls ist in Syrien nach wie vor die Erinnerung an 1982 wach, als Hafis al-Assad, der Vater des jetzigen Herrschers, in der Stadt Hama Schätzungen zufolge bis zu 20 000 Menschen töten liess, nachdem sich Islamisten gegen ihn erhoben hatten – ein Verbrechen in einer Grössenordnung, wie sie sich Muammar al-Ghadhafi, seiner Brutalität und Willkür zum Trotz, nie hat zu Schulden kommen lassen.
Grauzone so gross wie Libyen
Gelten Barack Obamas hehre Worte auch für Bahrain, wo die USA eine wichtige Marinebasis unterhalten und der lokale Herrscher einen Volksaufstand der Schiiten mit Hilfe der Saudis, Washingtons engen Verbündeten am Golf, brutal unterdrückt? Oder für den Jemen, dessen Präsident Ali Abdullah Saleh seit 9/11 Amerikas Angst vor al-Qaida stets geschickt für den eigenen Machterhalt zu instrumentalisieren wusste und der für den Fall seinen Rücktritts die Gefahr eines blutigen Bürgerkriegs beschwört, dessen Grundlager er allerdings in seiner 33-jährigen Regierungszeit selbst gelegt hat?
Oder inwiefern gilt die Obama-Dotrin für ein den USA loyal ergebenes Königreich wie Jordanien, wo die Repression zwar sanfter und verdeckter funktioniert als anderswo in der Region, am Ende aber nicht viel weniger wirksam ist? Was also soll am Ende den Ausschlag für Abstinenz oder Intervention geben? Eine bestimmte Zahl von Toten? Regionalpolitische Erwägungen? Die Existenz von Öl?
Die Obama-Doktrin, schliesst „Washington Post“-Kolumnist Dana Milbank, sei „wahnsinnig subtil“. Vorsichtiges Abwägen könne, so Milbank in einem Kommentar unter dem Titel „Eine Grauzone so gross wie Libyen“, nie mit Sprüchen à la George W. Bush wie „Räuchert sie aus!“ oder „Tot oder lebendig!“ konkurrieren: „Das heisst aber nicht, dass die Doktrin falsch ist.“