Wenn längst vergessene Journalisten sich von Geschehnissen in ihrem einstigen Berufsfeld sosehr aufwühlen lassen, dass sie sich zu Wort melden „müssen“, entbehrt dies selten der Komik - zumal sie mit dem Bescheid rechnen müssen, dass sie ihre Zeit und ihr Wort gehabt hätten, basta.
Jornods wirre Verlautbarungen
In solcher Lage könnte der alte Pensionist in die Versuchung kommen, sich für die Wortmeldung ausschweifend zu rechtfertigen. Das will er vermeiden und beschränkt sich auf den Hinweis, dass er in seinen 36 Berufsjahren etliche Schriften zur journalistischen Rollenauffassung verfasst hat, auch in Form von Anleitungen für Redaktionen und Journalistenschulen.
Man mochte in der letztjährigen Adventszeit voller Erwartung gewesen sein - doch auf d i e s e s Ereignis war niemand gefasst: Konflikt auf der obersten Führungsebene der „Neuen Zürcher Zeitung“, dort also, wo nach alter Haussitte nichts über das konsensuale Verfahren geht. In der Frage einer Neuordnung der Zuständigkeiten konnte sich der Chefredaktor, Markus Spillmann, mit dem Verwaltungsrat nicht einigen und trat daher von seinem Posten zurück, konsequenterweise oder notgedrungen.
Wer auf die Verlautbarungen des Verwaltungsratspräsidenten Etienne Jornod abstellte, konnte nur verwirrt sein. Über den Dissens im Organisatorischen erfährt er nichts; er erfährt dafür höchstes Lob auf die Kompetenz des Zurücktretenden. Und selbstverständlich wird in Aussicht gestellt, dass sich an der qualitativ hochstehenden „Publizistik“ nichts ändern werde.
Wer will eine politische Kurskorrektur?
Die Recherche Dritter förderte kurz darauf zutage, dass sich ein einstimmiger Verwaltungsrat in der Sorge um die Nachfolge Spillmanns an den Chef der „Basler Zeitung“, Markus Somm, wandte, an jenen Somm, der dem nationalkonservativen Christoph Blocher zugetan ist und diesem auch seinen Basler Chefposten verdankt. Womöglich erkannte der Umworbene als Erster, dass ein Wechsel nach Zürich so glatt nicht vonstatten gehen würde. Was sich einige Tage später auch bewahrheiten sollte. Die Ausland-Korrespondenten und hinter ihnen her auch die inländischen Redaktoren und Redaktorinnen meldeten ihre Konsternation und ihre schweren Bedenken an.
Sie kamen ja nicht umhin, ihrem Verwaltungsrat die Absicht einer politischen Kurskorrektur zu unterstellen. Ums Handwerkliche war es ihm, der die „Qualitäts-Publizistik“ in jedem Aktionärsbrief über den grünen Klee rühmt, gewiss nicht zu tun. Von wo sollte diesem Gremium denn plötzlich eine fachliche Skepsis zugeflogen sein? Es ist auch kaum zufällig, dass das operative und strategische Führungspersonal mit Blick auf die journalistische Praxis seiner NZZ stets mit dem abgehobenen Begriff der (natürlich: hochwertigen) „Publizistik“ aufwartet. Publizistik stand einst für die Staatswissenschaft und könnte in modisch modifizierter Anwendung allenfalls die Lehre von der öffentlichen Kommunikation mit meinen, nicht aber die (noch so imposante) Komposition einer einzelnen Zeitung.
Gesinnung und Qualität
Nun sind VR-Präsident Jornod und CEO Dengler publizistisch noch nie aufgefallen, so dass wir deren Einlassungen nicht gar so streng beurteilen wollen. Wohl aber dürften wir von ihnen betriebsökonomische Zuständigkeit erwarten - eine Erwartung, welche durch die nackten Zahlen fortgesetzt enttäuscht wird.
Die Fairness gebietet freilich, den NZZ-Verwaltungsrat in seiner unverschuldeten, quasi institutionellen Zwickmühle zu sehen. Traditionell ist er gehalten, zur journalistischen Arbeit keine Meinung zu vertreten, auch wenn er denn eine hätte. Wer fachlich und sachlich nichts zu sagen hat, weicht gern auf die weichen Gesinnungsfragen aus.
Ist solche Deroutierung eine allgemeine Versuchung, so ist sie im Falle der NZZ durch eine Verhaltensnorm programmiert. Die im vorigen Jahr erneut bekräftigte Aktien-Vinkulierung und mit ihr die weltanschaulich-politische Standortfixierung tut ihr Übriges (der Aktionär soll sich entweder über eine FDP-Mitgliedschaft ausweisen können oder zu einem liberalen Grundsatzbekenntnis bereit sein). Als ob sich mit einer Gesinnungseingrenzung über die wichtigsten Qualitätsfragen entscheiden liesse!
Gesinnung ist immer gratis
Und als ob im Zeitungswesen die Tradition nicht schon ihre stille und zwingende Normativität hätte!
Gesinnung sei immer gratis, schrieb Heinrich Böll. Auf sie allein oder zuerst kann sich in der Tat weder ein Schriftsteller noch ein Journalist viel einbilden.
Innerhalb des Spielraums, den die politische Liberalität lässt, den exakten Ort des Redaktionsleiters zu bestimmen, ist mithin die Prärogative des NZZ-Verwaltungsrates….
Angeblich nach links gerutscht
In einem Interview, das dessen Präsident Jornod der „Sonntagszeitung“ gewährte, kam die Rede auf eine Klage von Mitgliedern eines „linken FDP-Lagers“, wonach die NZZ „nach links gerutscht“ sei. Der Präsident könnte darauf geantwortet haben, dass für ihn dieses „Lager“ nicht die mindeste Kenntlichkeit, jedenfalls keine Signifikanz habe - und ausserdem sei ihm die rapportierte Rutschpartie entgangen. Doch er sagte nichts dergleichen; er bestätigte nur, davon gehört zu haben. Umso wahrscheinlicher also die Intention einer Kurskorrektur mit der Installation eines unzweifelhaft Rechtsfreisinnigen.
Ob man nun allen Freisinnigen, in welchem Lager sie auch nisten mögen, die aufmerksame Lektüre einer so anspruchsvollen Zeitung wie der NZZ zutrauen kann, muss hier offen bleiben. Von den Verwaltungsräten dagegen sollte man’s erwarten dürfen. Oder finden die Geplagten unter der Last der vielen Mandate die Zeit nicht dazu?
Krypto-linksfreisinnige Ressortleiter?
Indes ist ihnen gewiss nach kurzer Mandatsausübung schon aufgegangen, dass im Stammblatt die Ressorts und ihre Chefs von erheblichem Einfluss sind, um wenig zu sagen - die Ressortleiter sind die Fürsten. S i e muss besichtigen, wer nach dem politischen Profil der Zeitung forscht. Eric Gujer vom „Ausland“ neuerdings mit Linkstendenz? René Zeller vom Inlandressort plötzlich nach links gerutscht? Peter A. Fischer von der „Wirtschaft“ ein Krypto-Linksfreisinniger? Beim politisch nicht so ohne weiteres festlegbaren „Feuilleton“ kann man sich natürlich fragen, zumal dessen Leiter, der Chefraisoneur Martin Meyer, sich als Autor einer grossen Camus-Biographie hervorgetan hat, Camus, nicht Blocher!
Bliebe noch das Lokale von Thomas Ribi nach Tendenzen abzusuchen: Wenn es denn eine Linkstendenz sein sollte, von Fall zu Fall SVP-kritisch zu sein, ja dann… Der „Sport“ schliesslich bewegt sich im unpolitischen Raum, wozu er auch bestimmt ist. In Ergänzung zu den elektronischen Vorleistungen übt er sich im Feuilletonismus, das heisst: er geht lange Wege ins Zentrum des Geschehens.
Liberal ist mehr als Wirtschaftsfreiheit
Was ist denn nun nach links gerutscht? Da registrieren irgendwelche Phobiker mit funktionsuntüchtigen Seismographen subtile Verschiebungen, die sie im Einzelnen nicht benennen können.
Und wenn es sie gäbe? Eine Zeitung, die der Freiheit gewidmet ist, der Freiheit und dem bürgerlichen Bildungsideal und der Toleranz und der Weltläufigkeit, begnügt sich nicht damit, einzig die Wirtschaftsfreiheit im Auge zu behalten.
Sie bleibt auch ansprechbar durch das elementar politische Anliegen des Ausgleichs. Unbeschadet durch das ewige Missverständnis von ein paar Freisinnigen, sie hätten mit der NZZ ein Parteiblatt an der Hand. Die seltsam zählebige Aktien-Vinkulierung dient halt diesem Irrtum zu.
Kurz und gut, die „Neue Zürcher Zeitung“ ist ein ideell geleitetes, im Ganzen ideologieresistentes Blatt, dessen Einzigartigkeit im dichten Netz eigenständiger Korrespondenten liegt und das seinen Lesern etwelche Neugier auf entlegene, versteckte, verstellte, latent aktuelle Themen zutraut und ihm auch ein gewisses Wohlwollen gegenüber versteckten (impliziten) Werturteilen zumutet.
Wer braucht das?
Die legendäre Frage des Doktors Simta, des legendären Chefs des nicht weniger legendären Prager Tagblatts, wird in dieser Redaktion nicht gestellt, zumindest nicht als rhetorische. Simtas Frage lautete: Meine Herren, „wer braucht das?“ Keine Textwahl und keine Textlänge provozieren hier diesen Einspruch. Lakonik gilt an der Falkenstrasse vermutlich als wahrheitsfeindlich. Einlässlichkeit hat ihren Preis, um den nicht gefeilscht wird.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ hat ansonsten auch manche Qualität und Originalität, welche dem einstigen Prager Blatt nachgerühmt wird, nur nicht ganz die spielerische Leichtigkeit aus dem Geist redaktionell eingeübter Lebensbehaglichkeit, sondern geglättet und gestreckt durch die zwinglianische Strenge.
An dieser Qualität hat sich unter Markus Spillmann nichts geändert. Seine Leitartikel zeigten einen unirritierbaren Sinn für das Juste Milieu, und es ist uns auch nicht bekannt, dass er allfällig sich vorwagende linke Regungen ermutigt hätte. Trotzdem wird dieser Mann in die Lage gebracht, sich von seinem Posten zurückziehen zu müssen. Und trotzdem wird ein SVP-geneigter Rechtsfreisinniger, als Chefredaktor noch nicht übermässig diensterfahren, in die Nachfolge gerufen. „Wer braucht das?“
Der verblüfften Kundschaft, dem lesenden Publikum, wird nichts erläutert, zumindest nichts von Plausibilität. Ein weiteres Mal erweisen sich die Führungsorgane eines Medienbetriebs als unfähig, in eigener Sache Transparenz herzustellen. Ausweichende und verwedelnde Auskünfte züchten Gerüchte heran oder bieten, im besten Fall, einen enthüllungsjournalistischen Anreiz.
Der Feuilletonchef und die VR-„Inspiration“
Die „Schweiz am Sonntag“ setzte zu einer solchen Investigation an, leuchtete in einen Zunftsaal und in den traulichen Kreis von rotarisch vereinten Geistern - sechs an der Zahl, vier von ihnen im Range eines NZZ-Verwaltungsrates. Da soll die „Idee“ von der Absetzung Spillmanns und einer Inthronisierung Somms mit einem, wie vorgesehen, über dem Chefredaktor schwebenden „publizistischen Leiter“ herausventiliert worden sein. Virtuell besetzt wurde diese Oberleitung mit Martin Meyer - dem ventilierenden, um nicht zu sagen konspirativen Kreis zugehörig.
Kaum zu glauben! Und wenn die Recherche der „Schweiz am Sonntag“ wider alle Gutgläubigkeit Recht behielte und wir annehmen müssten, die VR-Restequipe habe sich von der Rotary-Fraktion „inspirieren“ lassen, hätten wir’s mit einer beklagenswerten Überforderung zu tun. So dass dieser Verwaltungsrat eine komplette Décharge-Erteilung verdiente - nicht im aktienrechtlichen Modus von Entlastung, sondern im Sinne von E n t l a s s u n g – wohlverstanden unter Verdankung der geleisteten Dienste: von der beabsichtigten Schliessung des Druckzentrums Schlieren über die synergetische Zusammenfügung luzernischer und st.gallischer Publizistiken bis hin zur Causa Somm.
Vielleicht liessen sich ja die Aktionäre dazu hinreissen, anstelle der Abgewählten ein paar Branchenkundige und Lesetüchtige zu berufen, grundsolide Liberalität vorausgesetzt, Rotary-Mitgliedschaft keine Bedingung.
Generalversammlung am 11. April
Aber vergessen wir nicht: Die am höchsten herausragende Spezialität der NZZ ist die Langmut ihrer Aktionäre.
PS: Inzwischen hat der Verwaltungsrat die Strukturpläne geändert. Es gibt keinen Generalmusikdirektor, also keinen „Publizistischen Leiter“, nur einen „Leiter neue Publizistik“ - und gemeint ist digitaler Journalismus. Spillmann hätte bleiben können. Wer weiss, den neuen Chefredaktor finden die alten Verwaltungsräte mitsamt dem neuen Leiter der „neuen Publizistik“ vielleicht im Herkunftsland des neuen CEO, im publizistisch so ergiebigen Österreich?
Als es noch ergiebiger war, k.u.k., ermahnte der genannte Dr. Simta seine Getreuen: „Keine Wichtigtuerei, bitte! Morgen sind wir Klosettpapier.“ Im Online-Zusammenhang vollkommen deplaciert. Die „neue Publizistik“ arbeitet papierlos.
Jürg Tobler, 1939 geboren, war in den frühen siebziger Jahren in der Informationsabteilung des Schweizer Fernsehens (Inlandchef), ab 1974 Chefredaktor der „Luzerner Neusten Nachrichten“, ab 1981 Chefredaktor des „St. Galler Tagblatts“ und 1994 bis 1998 Herausgeber des Blatts. Publikationen zu journalistischen Themen, insbesondere das Buch „Die Wortmischer“.