Noch ist vieles offen bei der NZZ: Wer wird neuer Chefredaktor? Wie reagieren die Aktionäre auf das Verhalten des Verwaltungsrates? Wohin steuert die NZZ letztlich? Dennoch sind seit der überraschenden und schnellen Trennung von Markus Spillmann Fakten bekannt geworden, welche eine Einordnung der NZZ-Wirren in einen grösseren Massstab ermöglichen.
Schlingernder Verwaltungsrat
Kurzer Rückblick auf die Fakten: Sicher ist, dass Chefredaktor Markus Spillmann nicht freiwillig gegangen ist, wie zuerst versucht worden ist zu kommunizieren. Es gab zwischen dem Verwaltungsrat und Spillmann Dissens zu Führung und Strategie, aber auch (oder vor allem?) Differenzen zur publizistischen Ausrichtung der NZZ. Gemäss mehreren Quellen sei gesichert, dass der Verwaltungsrat einstimmig sowohl die Trennung von Spillmann wie auch die Nachfolgepräferez «Markus Somm» beschlossen habe. Aber es soll im Verwaltungsrat vor diesem Entscheid und danach auch erhebliche Differenzen gegeben haben.
Nachdem durchgesickert war, dass Markus Somm als neuer NZZ-Chefredaktor bestimmt sei, kam es zu negativen Reaktionen in der Öffentlichkeit. Darauf folgte Somms Rückzug; vermutlich war es eher eine Absage an Somm. Dabei haben die klaren Voten gegen Somm aus dem Hause und dem Umfeld der NZZ sicher eine wichtige Rolle gespielt. Unbekannt ist, ob die Unklarheiten über Somms Aktionärsbindungsvertrag mit der Basler Zeitung ausschlaggebend waren.
Der Verwaltungsrat der NZZ hat in der ganzen Sache von A bis Z eine sehr schlechte Figur gemacht, kommunikativ war das Ganze ein Gau. Symptom 1: eine erschreckend schlechte Performance des Führungsgremiums eines der wichtigsten Medienhäuser der Schweiz. Von diesem Verwaltungsrat hängen Arbeitsplätze und die Zukunft einer der wichtigsten publizistischen Stimmen der Schweiz ab.
Politische Instrumentalisierung
Das Handeln des Verwaltungsrates zeigt aber etwas Grundsätzlicheres auf – Symptom 2: Eine Zeitung und ein Medienhaus wie die NZZ mit internationalem Renommee, hohem Qualitätsimage und einer Leserschaft weit über die FDP und sowieso über das Rechtsbürgertum hinaus, eine solche Zeitung kann offenbar durch eine kleine Gruppe aus dem wirtschaftlich-politischen Komplex publizistisch umgepolt werden. Das ist demokratiepolitisch bedenklich.
Zwar ist ein Verlagshaus wie die NZZ ein marktorientiertes Unternehmen der Privatwirtschaft. Aber ein Medienhaus ist keine Schraubenfabrik, sondern hat eine öffentliche Funktion, ist der Leserschaft, der Aufklärung, der eigenen Tradition und ihrer gesellschaftlichen Rolle verpflichtet – und nicht nur dem Verwaltungsrat. Die NZZ stand zwar immer der FDP nahe; sie war aber kein Parteiblatt, sondern sie trug zu einem weltoffenen und kritischen öffentlichen Diskurs bei.
Eine Zeitung kann sich durchaus an einer Haltung orientieren – aber dennoch journalistisch denken und funktionieren. Eine Zeitung für (partei)politische Ziele zu verwenden, wie das Blocher und Somm bei der Basler Zeitung vormachen, ist hingegen etwas ganz anderes. Das sehen offenbar auch prononciert freisinnige Exponenten und auch der ehemalige langjährige NZZ-Chefredaktor Hugo Bütler so, welche befürchten, der Verwaltungsrat wolle die Zeitung rechtskonservativ ausrichten.
Zugespitzt formuliert, stellt das Beispiel NZZ die grundsätzliche Frage: Wer bestimmt in einer Demokratie eigentlich, welche Medien den Bürger-innen zur Verfügung stehen? Nicht nur in der Schweiz sind wir nach der Ära der Parteizeitungen und jener der liberalen Verlegerdynastien in einer neuen Periode angekommen. Jetzt droht die Gefahr – Symptom 3 – , dass die Medien, der Journalismus letztlich in die Hände von wirtschaftlichen oder politischen Interessenvertretern gelangen.
Widerstand seitens Leserschaft und Belegschaft
In der NZZ-Krise hat sich aber auch ein sehr erfreuliches und für die Schweiz ungewöhnliches Phänomen gezeigt: die Rolle und Kraft der Redaktion und der Leserschaft. Abonnenten und Leser-innen der NZZ hatten gegen einen publizistischen Kurswechsel Stellung bezogen. Und 223 Mitarbeitende der NZZ haben nach dem Abgang von Spillmann schnell, deutlich und öffentlich protestiert: «Die Ernennung eines Exponenten nationalkonservativer Gesinnung würde in unseren Augen das Ende der Kultur einer liberalen und weltoffenen NZZ bedeuten.»
Eine vergleichbare Aktion einer Redaktion gegenüber dem Arbeitgeber – Symptom 4 – gab es in der Schweiz so noch nie. Die Wirkung auf den Verwaltungsrat war entsprechend stark. Dass sich ausgerechnet die Belegschaft der als traditionell, behäbig und bürgerlich geltenden NZZ so zur Wehr setzt, mag überraschen. Sie hat sich dabei auf ein festgeschriebenes Anhörungsrecht berufen. Und plötzlich werden als verstaubt geglaubte Redaktionsrechte oder Redaktionsstatute wieder aktuell.
Schweigender Verlegerverband
Einige Redaktionen anderer Medien haben durch ihre Recherchen Transparenz in die Abläufe bei der NZZ gebracht und so dazu beigetragen, dass der auch als «Putsch» bezeichnete Plan des NZZ-Verwaltungsrates nicht funktioniert hat. Gut so! Gar nichts gehört hat man jedoch vom Verlegerverband «Schweizer Medien» – Symptom 5. Normalerweise nehmen die Verleger jeweils vorschnell gegen alle vermuteten Bedrohungen der Medienfreiheit Stellung: gegen den Staat, wenn er die Medien fördern will; gegen die SRG; gegen Qualitätsgutachten, das BAKOM, den Presserat, Google.
Und wo bleibt die Stellungnahme jetzt, wo ein Verwaltungsrat versucht, die Arbeit einer Redaktion in eine andere Richtung zu dirigieren? Sie bleibt aus, wo es doch darum ginge, die Rolle der Verlagshäuser als publizistische, als unabhängige Unternehmen zu positionieren und zu verteidigen. Das massive Schlingern eines der grossen und traditionellen Medienhäuser in der Schweiz darf doch der Gemeinschaft der Verleger nicht egal sein. Und schon gar nicht, wenn politische Kreise versuchen, die publizistische Unabhängigkeit zu beschneiden.
Gefahr der Berlusconisierung
Dass politische und wirtschaftliche Interessenvertreter Medien aufkaufen und zu ihren eigenen Gunsten publizistisch ausrichten – dieses Muster kennen wir aus Frankreich und Italien. In der Schweiz haben wir es bei der Basler Zeitung erlebt. Und das Damoklesschwert «Blocher» schwebt weiterhin über der Schweizer Medienlandschaft: Die Gerüchte reissen nicht ab, dass nach der BaZ und der Weltwoche weitere Blätter in Blochers Einflussbereich gebracht werden sollen, dass sogar grosse Medienhäuser mit Blocher geschäftliche Gespräche führen würden. Abwehrstrategien oder schon nur eine klare Positionierung gegen eine Berlusconisierung der Schweizer Medien sind keine zu sehen. So darf Blocher genüsslich vermelden, er habe bei einem Abgang von Somm bei der BaZ bereits für die Nachfolge vorgesorgt. So läuft das – und kaum jemand reagiert.
Die Krise bei der NZZ zeigt: Die Schweizer Medienlandschaft ist labiler als manche vermutet haben. Bei der NZZ scheint der Widerstand aus Redaktion, Leserschaft und Freisinn einen Angriff auf das Traditionshaus und letztlich ein Stück Medienfreiheit vorerst abgewehrt zu haben. Vorerst.
Philipp Cueni betreut das Sekretariat Medienpolitik der Mediengewerkschaft SSM und ist Chefredaktor des Medienmagazins «Edito», in dem der obige Text erschienen ist.