Der Mensch ist ein lokales Wesen. Menschsein heisst immer auch, einen Ort haben, wo man haften bleibt, wo man seine ureigensten Bedürfnisse befriedigt sieht, vielleicht Wurzeln treibt. Der Ort kann physisch sein – ein Haus, eine Stadt, eine Region – oder mental – eine Sprache, eine Kultur, eine Denkhaltung.
Statt Ort könnte man auch einen alten griechischen Begriff verwenden: «oikos». Was so viel bedeutet wie «Haus, Heim, Familie» oder allgemeiner «das Eigene». Und daraus lässt sich ein Phänomen ableiten, das uns neben der Xenophobie, der Ablehnung des Fremden, stärker beschäftigen sollte: die Ablehnung des Eigenen, die Ökophobie oder Oikophobie.
Das Gravitationszentrum konservativer Ökologie
Oikophobie ist das Gravitationszentrum konservativen ökologischen Denkens. Namentlich der 2020 verstorbene englische Philosoph Roger Scruton glaubte in ihr die tiefenkulturelle Wurzel der Umweltkrise entdeckt zu haben: in der Ablehnung von Tradition, Nation, Familie, von «bindenden» Orten – in der Zurückweisung all dessen, was ein «natürliches» Wir, «die ererbte erste Person Plural mit sich bringt». Eine psychologische Erklärung findet Scruton im «jugendlichen Geist», der sich aus familiären Bindungen lösen will. Es «handelt sich um eine intime Form der Ablehnung, so wie sie die Eltern (…) sich vom Elternhaus abnabelnder Teenager erfahren». «Leider bleiben manche Menschen – vor allem Intellektuelle – in diesem Stadium gerne stecken.»
Vor allem Intellektuelle! Teenager! Der vergrätzte Tonfall des Alten ist nicht zu überhören, der den Jungen vorhält, sie würden in ihrer oikophoben intellektuellen – «linken»? – Verzogenheit Haus und Heim nicht mehr gebührend würdigen: «Oikophobe definieren ihre Ziele und Ideale gegen alle vertrauten Formen der Zugehörigkeit – gegen Heim, Familie und Nation (…) Der Aufstieg der Oikophoben hat zur Legitimationskrise der europäischen Nationalstaaten geführt.» Erwartungsgemäss wabert der Geist Scrutons primär in den Hirnen von Heimatverteidigern. 2013 schrieb der niederländische Ultranationalist Thierry Baudet sein Pamphlet «Oikophobie. Der Hass auf das Eigene und seine zerstörerischen Folgen».
The West and the Rest
Scruton sah in der Bewahrung der «westlichen» Kultur auch eine notwendige Abwehrreaktion auf den islamistischen Terror – was in einem seiner Bücher explizit genug zum Ausdruck kommt: «The West and the Rest». Nun macht allerdings gerade dieser Rest von sich reden, indem er sozusagen den Spiess umkehrt und den Slogan «The Rest and the West» intoniert. Wir sehen eine «linke» postkoloniale Oikophobie in Form einer breiten Kritik am «Westen» entstehen. Sie entzündet sich aktuell am Israel-Palästina-Konflikt. Wie es scheint, machen sich die Kritiker die fundamentalistischen Strömungen des Islam zu eigen, die alles Übel auf der Welt als Ausgeburt des «Westens» brandmarken – wozu natürlich Israel als okzidentaler Brückenkopf im Nahen Osten gehört.
«Untergang des Abendlandes» redivivus
Der amerikanische Philosoph Benedict Beckeld diagnostizierte kürzlich eine «Selbstverachtung des Westens». Und er holt weit aus mit einer knackigen kulturtheoretischen These à la Clash of Civilizations oder Ende der Geschichte. Es handle sich um das Symptom einer kränkelnden Zivilisation. Solche Töne kennt man seit Oswald Spenglers Unken über den «Untergang des Abendlandes» vor hundert Jahren. Beckeld warnt heute vor der Kulturentfremdung:
«Bedauerlicherweise hat uns heute die Oikophobie voll erfasst. Sollte es nicht möglich sein, sich für andere Traditionen und Zivilisationen zu interessieren und von ihnen zu lernen, gleichzeitig aber auch das eigene Kulturerbe wertzuschätzen? Offenbar sind viele Menschen dazu leider nicht in der Lage, und je oikophobischer wir werden, je mehr wir den Multikulturalismus zu uns nehmen, desto weiter entfremden wir uns von unseren Wurzeln und von unserer Kultur. Da wir diese unsere Kultur nicht mehr verstehen, hört man oft, wie europäische und amerikanische Oikophoben den Begriff des Abendlandes beziehungsweise des Westens nur spöttisch verwenden und diejenigen schmähen, die ‘abendländische Werte’ befürworten. Aber auch jene spöttischen Leute lieben abendländische Werte, sie wissen es nur nicht – das heisst, sie wissen nicht, dass sie abendländisch sind.»
Eine anmassende Diagnose
Das ist, um das Mindeste zu sagen, eine anmassende Diagnose. Ihr Vorwurf der Ignoranz zeugt von der Ignoranz des Vorwurfs. Mit Verlaub: Sich für andere Traditionen und Zivilisationen zu interessieren und von ihnen zu lernen, gleichzeitig aber auch das eigene Kulturerbe wertzuschätzen, ist nach wie vor Usus im westlichen Denken. Das hat weder mit Hass noch mit Verachtung, sondern schlicht mit einer kritischen Mentalität zu tun. Und sie verdankt viel der aufklärerischen Tradition des Westens, für die Namen stehen wie Bertrand Russell, Karl Popper, Hannah Arendt, Isaiah Berlin, Anthony Giddens, Zygmunt Bauman, Bruno Latour, Jürgen Habermas, Ian Buruma, Avishai Magalit, Dipesh Chakrabarti … die Reihe lässt sich ad libitum fortsetzen. Man kann sogar Theodor Adorno mit seiner «Dialektik der Aufklärung» in diese Tradition einreihen, oder Michel Foucault, den «Oikophoben» schlechthin, dessen ganzes Werk ja nun wirklich eine erbarmungslose – einige sagen: bösartige – Abrechnung mit bestimmten «zivilisierenden» Praktiken des Westens darstellt.
Quatschköpfen entgegentreten
Ob vielen Menschen die Fähigkeit zu einem solchen aufgeklärten selbstkritischen Blick abgeht, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls handelt es sich bei den «oikophoben» Studenten, die jetzt an den Universitäten Zeter und Mordio schreien, nicht um «viele». Dagegen wage ich zu behaupten, dass es nach wie vor Leute gibt, die die alte kritische Tradition hochhalten, nicht weil sie das Abendland retten wollen, sondern weil es ihnen ganz einfach ein Anliegen ist, Quatschköpfen entgegenzutreten. Beckeld liegt mit seiner Diagnose ja nicht völlig daneben, dass es sich bei der Oikophobie um eine Art Pathologie handelt. Aber die Pathologie ist nicht eine «westliche», sondern eine denkerische. Und zu ihrer Ätiologie gehört der Mangel an historischen Kenntnissen.
Aus historischen Präzedentfällen lernen
Zumal der Kenntnis eines Präzendenzfalls: der Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg, in der Oswald Spenglers Untergangsopus erschien. Nicht wenige Intellektuelle begrüssten es als fällige Abrechnung mit einer dekadenten, moribunden, verachtenswerten Kultur. Dagegen sahen sie in totalitären Bewegungen wie dem Nationalsozialismus oder dem Sowjetkommunismus eine «Verjüngungskur», die das alte Europa endlich zu neuer Blüte führen würde. Westliche Autoren feierten den Stalinismus als Gipfel des menschlichen Fortschritts, zynischerweise ausgerechnet in den 1930er Jahren, zu einer Zeit also, da der bolschewistische Terror besonders fürchterlich wütete. 1934 schrieb zum Beispiel der britische Politikwissenschaftler Harold Laski nach einem Besuch in der Sowjetunion: «Noch nie in der Geschichte hat der Mensch solche Vollkommenheit erlangt wie unter dem Sowjetregime.» Eben erst waren im Holodomor Millionen von Ukrainern an Hunger gestorben. Alexander Dugin, der scharfe Hund im heutigen russo-faschistischen Dunstkreis, ist ein Fan von Spengler, und er träumt vom grossasiatischen Reich, das Europa absorbieren wird.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich, lautet das Mark Twain zugeschriebene Bonmot. Ist «From the River to the Sea» der neue Reim, mit dem die umnachteten Verächter des Westens einem religiösen Totalitarismus huldigen?