Das Holozän ist die jüngste erdgeschichtliche Epoche, fast zwölftausend Jahre alt. In diesem Zeitraum hat sich die Natur in die Erdoberfläche eingezeichnet. Die Tektonik schob die Kontinente etwas auseinander, im frühen Holozän fand ein Klimawandel statt, das Land warf die Last der Eisschilder ab, der Spiegel der Meere erhöhte sich markant, aus den wärmer werdenden Ozeanen stieg das Kohlendioxid in die Atmosphäre, die „Sintflut“ suchte das Land heim.
Der Mensch erscheint im Holozän
Aber das einschneidendste Ereignis war das Erscheinen des Menschen, wie wir ihn heute kennen. Schätzungen gemäss sollen zu Beginn des Holozäns zwischen einer und zehn Millionen Menschen den Planeten bewohnt haben. Seither ist diese Population auf über sieben Milliarden angewachsen, und diese besondere Art von Primaten ist im Begriff, die Oberfläche des Planeten mit einer Wucht umzugestalten, die vordem allein geologischen Kräften zugemutet wurde.
Deshalb hat es sich eingebürgert, von einem neuen erdgeschichtlichen Zeitalter zu sprechen, in dem die Natur dem Mensch gewissermassen den Stab der Gestaltungskraft übergibt: das Anthropozän. Die Natur verändert sich im Anthropozän in einem Ausmass, dass man geradezu sagen könnte, sie verschwinde allmählich.
Die präformierte Natur
Zugegeben, das klingt extravagant, wenn nicht apokalyptisch. Deshalb muss die Behauptung etwas zerlegt werden. Vorab: Die Rede ist nicht primär von Phänomenen wie überdüngten Böden, übersäuerten Meeren, Luftverschmutzung, Artensterben und dergleichen. Die Tendenz ist offensichtlich genug, dass der Einfluss des Menschen auf die Natur stetig und unaufhaltsam wächst, von der äussersten Atmosphäre über das undurchdringliche Dickicht der Dschungel bis in die Tiefen der Ozeane. Die Haupttriebkräfte sind: Technisierung, Urbanisierung, Globalisierung.
Für uns Stadt- und Agglomerationsbewohner genügt ein Streifblick über unsere Umgebungen, um uns einen Begriff der Natur im Anthropozän zu machen: überall Kunst-Natur, als Park, botanischer Garten, Golfplatz, Landschaft, als renaturalisierter Bach und Fluss, als geschützes Bergtal, als künstlich verwilderter Wald, als disneyfiziertes Happening. Gemäss einer Schätzung der Vereinigten Nationen ist die Zahl der geschützten Gebiete auf der Erde von 10’000 in den 1950er Jahren auf über 100'000 im Jahre 2009 gestiegen. Selbst da, wo Natur „sich selbst“ überlassen ist, im Reservat, verdankt sie dies der Gnade des Menschen. Wir debattieren über die Frage: Welche Arten wollen wir retten, welche nicht? Was einst Sache unbewusster selektiver Mechanismen war, wird jetzt zum Gegenstand politischer und juristischer Triage.
„Die“ Natur gibt es nicht
Das Axiom des Anthropozäns lautet: „Die“ Natur gibt es nicht. Es gibt die Natur des Bauern, des Städters, des Tourismusmanagers, des Spiritualisten, des Künstlers, des Wissenschafters, die Natur der Wohlhabenden und der Mittellosen, die Natur von Monsanto und die Natur des WWF. Kurz: Die Natur ist im Kopf, in ihre Definition fliesst implizite oder explizite immer ein bestimmtes Bild ein, das wir uns von ihr machen: Arena von Dämonen, Plan oder Design eines Demiurgen, Maschine, kosmischer Algorithmus und riesiges Informationssilo, Quelle der Inspiration, ausbeutbare Ressource.
Wir sind uns also im Anthropozän der konzeptuellen, kulturrelativen Überformtheit von Natur bewusst und hüten uns vor Naturalisierungen, die ein bestimmtes Naturbild zur „Natur selbst“ verdinglichen. Denn nur zu oft hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass Natur zur Legitimatorin von Hierarchien, Herrschaftsverhältnissen, Unterdrückungen und Ausgrenzungen missbraucht werden kann. Man denke nur, wie leicht und leichtfertig die Positionierung der Frau in der Gesellschaft auf Argumente zurückgreift, die ihre fügsame, pflegerische, feinfühlige, hysterische „Natur“ betreffen.
Dass sich Afroamerikaner gegen ihr Schicksal als Sklaven auflehnten, erschien nicht wenigen Slavenhaltern als „unnatürlich“, um nicht zu sagen: als pathologisch. Ironischerweise schuf man die Wildnis vieler Nationalparks in den USA dadurch, dass man die „wilden“ Ureinwohner zwangsumsiedelte oder umbrachte - im Namen „der“ Natur nota bene (in den Augen John Muirs, des Pioniers der amerikanischen Nationalparks, waren die Indianer „schmutzig“ und „unpittoresk“). In diesem Sinne hat die Rede vom Verschwinden der Natur durchaus ihr emanzipatorisches Moment. Sie entlarvt die Naturalisierung der Verhältnisse als ideologischen Trick, sie der Einflussnahme des Menschen zu entziehen und sie als Bestandteil einer unverrückbaren Ordnung der Dinge zu etablieren.
Das Hybrid Mensch-Technik-Natur
Wenn es „die“ Natur nicht gibt, dann gibt es auch den Gegensatz Mensch-Natur nicht. Die natürlichen Systeme und die menschlichen Gesellschaften bilden komplexe naturkünstliche Hybride, in denen es nicht mehr möglich ist, das „rein“ Natürliche von „rein“ Humanen zu trennen. Das war eigentlich schon immer so. Auch die Ureinwohner der heutigen Nationalparks lebten in einem ursprünglichen lokalen Hybrid aus Mensch, Technik und Natur, das durch die Pioniere der Naturschutzes, könnte man sagen, „gereinigt“ wurde.
Heute sind diese Hybride immer weniger lokal, sie umfassen metropolitane Zonen, Regionen, Länder, letztlich den ganzen Globus. Aus ihnen verschwindet die Natur in dem Sinn, dass sie nicht mehr „draussen“ ist. Selbst wenn immer noch schicksalshafte Ereignisse wie Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen in unsere menschengemachte Ordnung einbrechen, kann man auch hier nicht von Heimsuchungen „von aussen“ sprechen, sondern von Pannen oder „Anomalien“ des hybriden Systems Mensch-Natur. Solche Störungen wirken sich je nach Technisierungsstufe unterschiedlich aus.
Entwickelte Gesellschaften verfügen über zahlreiche Pufferungen, um solchen Störungen zu begegnen. Wohlstand implizierte schon immer auch den Schutz vor der Natur: Vorwarnsysteme, Eindämmung von Flüssen, verlässliche Nahrungsmittel- und Wasserversorgung, sichere Häuser, Medikamente und Massnahmen gegen Epidemien. Das gleiche Naturereignis – zum Beispiel eine Überschwemmung – ist für die einen Menschen eine Widrigkeit, für die anderen eine Katastrophe.
Naturphänomene wie die Klimaerwärmung betreffen uns alle; aber nicht alle gleich. Wenn steigende Meeresspiegel zuerst Menschen in Küstennähe in Mitleidenschaft ziehen, dann ist das nicht nur eine grimmige Zufälligkeit der Geografie. Der Meeresspiegelanstieg sucht den Küstenbewohner in Bangladesch anders heim als in Schleswig-Holstein, weil das Hybrid Mensch-Technik-Natur in Asien anders geartet ist als in Norddeutschland. Die technische Entwicklung – die raffinierte Prognostik und Prävention – favorisiert reiche Gesellschaften, und sie begünstigt dadurch eine neue Stufe der Ungleichheit vor den Unbilden der Natur.
Die Natur gibt keine Ratschläge
Das gilt vor allem in der globalen Grössenordnung. Das Erdklima heute ist definitiv kein reines Naturphänomen mehr. Und deshalb lässt sich die Klimadebatte nicht definitiv naturwissenschaftlich beenden. Das führt häufig dazu, dass man sich gegenseitig beschuldigt, von ausserwissenschaftlichen Interessen geleitet zu sein. So warf etwa der polnische Klimaforscher Zbigniew Jaworowski unter dem Titel „The Greatest Scientific Scandal“ den Forschern des internationalen Klimarats IPCC (Intergovernmental Panel of Climate Change) vor, sich von der UNO politisch instrumentalisieren zu lassen, einem Regime von „grünen Fanatikern“: „First the politics, then the science“.
Jaworowski scheint implizite das Umgekehrte zu favorisieren: First the science, then the politics. Aber das ist im Anthropozän naiv, mehr noch: ein grober Irrtum. Denn gerade die Behauptung, dass „nicht der Mensch, sondern die Natur das Klima regiert“, hat ihre Plausibilität verloren. Es gibt die Dichotomie Mensch-Natur nicht mehr. Was heisst: die Natur regiert das Klima? Es heisst, dass die Forscher bestimmte Theorien mit hypothetischen Kausalzusammenhängen entwickeln wie zum Beispiel: Das klimatische System reguliert sich bei Störungen selbst; es ist von Humaneinflüssen – nahezu - unabhängig. Falls die Daten für eine solche Hypothesen sprechen, ist dies ein gutes Argument für die Entwarner.
Nur sind klimatische Systeme in der Regel hochkomplex, und Daten „sprechen“ nicht, sondern Experten; dabei interpretieren und gewichten Experten Daten (und Ungewissheiten) oft unterschiedlich. Das gehört zu den Trivia der Wissenschaftspraxis und ist solange in Ordnung, als man der Öffentlichkeit nicht weiszumachen sucht, die „Natur selbst“ sei Schiedrichterin in wissenschaftlichen Debatten. Genau dann wird man zum Bauchredner, welcher der Natur trügerischerweise seine eigene Stimme gibt.
Tatsächlich bringt Jaworowski mit „politics first“ ein Anliegen – contre coeur - zum Ausdruck, das im Zeitalter des Anthropozäns zu einer Leitidee werden sollte: eine politische Ökologie der Natur. Sie bindet Technik und Wirtschaft in ein kollektives Projekt ein. Davon im zweiten Teil.