Grosse Hoffnungen werden in die technische Entwicklung gesteckt. Was kaum verwundert, denn Technik hilft uns seit alters in der Bewältigung von Problemen, vor die uns die Natur stellt. Eine ökologisch adaptierte Technologie belastet möglicherweise die Umwelt weniger stark, zumal sie sich auch am Vorbild natürlicher Systeme zu orientieren beginnt.
Zwiespältigkeit technologischer Problemlösungen
Dennoch ist der Gleichung „Mehr Technologie = weniger Umweltbelastung“ mit Vorsicht zu begegnen. Wir haben mit zwei Ambiguitäten zu rechnen. Die erste: Technische Verbesserungen können den Druck auf die Umwelt vergrössern oder vermindern. Effizienz heisst nicht Einschränkung. Verbessert man die Filter von Fabrikanlagen, wird der Kohlendioxidausstoss gesenkt; aber gleichzeitg kann auch der Anreiz wachsen, mehr Kohle zu verbrennen (so geschehen in China).
Die zweite Ambiguität: Niemand kann voraussagen, wie bestimmte Technologien gebraucht werden, also auch nicht, wie künftige Technologien die Erdoberfläche gestalten werden. Jede technische Innovation hat nichtintendierte Folgen. Und unter diesem Gesichtspunkt ist es naiv, zu erwarten, eine Technologie könne den Raubbau an der Erde aufhalten. Sie kann ihn geradezu auch beschleunigen.
Natur hat ihren Marktpreis
Noch grössere Hoffnungen werden in die Wirtschaft gesetzt, denn sie gehört heute wesentlich zum Hybrid Mensch-Technik-Natur. So zentriert sich die sogenannte Umweltökonomik um das Konzept der Externalität, also um die Auswirkungen ökonomischer Aktivitäten auf die Umwelt, welche die Allgemeinheit etwas kosten oder durch welche die Allgemeinheit belohnt wird.
Das klassische Beispiel für negative Externalität ist die Luftverschmutzung. Lange Zeit kostete sie den Verursacher nichts, dafür den Bürger. Die ökonomische Bewertung von Feuchtgebieten zum Beispiel ist vage und schwierig. Wie schlägt etwa die Beobachtung von Kranichen zu Buche? Solche Gebiete haben aber nützliche Effekte: Sie filtrieren und reinigen das Wasser, erhalten die Biodiversität, stabilisieren das Mikroklima usw. In diesem Sinne könnte der Marktpreis von Feuchtgebieten einen durchaus nützlichen ökologischen Effekt – also eine positive Externalität – erzeugen.
Partnerschaften mit der Wirtschaft
Dieses Kosten-Nutzen-Paradigma beflügelt einen Umweltschutz, der den Wert der Natur dadurch steigern will, dass er sie zu Markte trägt, also letzlich allem ein Preisschild anhängt. Prononcierter Vertreter dieser Idee ist der amerikanische Ökologe Peter Kareiva. Er plädiert für eine Abkehr vom Garten-Eden-Paradigma, also der Erhaltung ursprünglicher Natur.
Zurecht führt er ins Treffen, dass es, seit der Mensch existiert, diese Natur nie gegeben hat. Wir sollten vielmehr den Wert ökologischer Systeme an ihrem Potenzial messen, als nachhaltige „Dienstleister“ für das Wohlergehen des Menschen zu fungieren. „Statt den Kapitalismus zu beschimpfen,“ schreibt Kareiva, „sollten die Umweltschützer mit Unternehmen Partnerschaften schliessen, im wissenschaftsbasierten Bemühen, natürliche Werte und Nutzen in gemeinsame Operationen zu integrieren.“
Das hat etwas für sich. Nur darf man annehmen, dass diese „gemeinsamen Operationen“ im kapitalistischen Kontext primär auf das Ziel hingebogen werden, natürliche Werte und Nutzen vom Marktpreis festlegen zu lassen. Anders gesagt: Umweltschutz heisst Schutz der Geschäftsinteressen an der Umwelt. Was gut ist für Novartis, Nestlé, Pepsi und tutti quanti, ist gut für die Natur. Der Kreis schliesst sich: the business of business is business.
De-Naturalisierung heisst Politik der Natur
Nun ist es ja durchaus möglich, einen Markt für ökologische Güter zu schaffen, wie dies im Handel von Kohlendioxid-Emissionen in der EU geschieht. Aber hier ist der Umweltschutz bereits nach marktlogischer Vorgabe definiert. Und genau das steht zur Debatte: die Wertschätzung selbst.
Die Natur sagt uns nämlich nicht, was wertvoll ist und was nicht. Das tun Menschen, heute vorzugsweise Technokraten und Ökonomen. Aber wir sollten ihnen nicht die Definitionshoheit überlassen – gerade ihnen nicht, und weniger denn je. Den Grundstückmakler interessiert am Feuchtgebiet nicht der Wert der Ehrfurcht vor Kranichen. Aber wieso soll die Kranichbeobachtung nicht gleich wertvoll sein wie die Positionierung des Gebiets auf dem Grundstückmarkt?
Das Problem ist, dass Kranichbeobachter meist nicht eine derart starke sozioökonomische Rückendeckung haben wie Grundstückmakler. Und genau das sollte uns eigentlich zu denken geben, die Frage nämlich: Welche Natur wollen wir? Welche Lebensformen wollen wir? Und überhaupt: Wer ist dieses „Wir“? Die Grundstückmakler? Die Liebhaber der Feuchtgebiete? Die Brüsseler Bürokraten? Die Unternehmensführer? Wir Erste-Klasse-Passagiere auf dem Planeten?
Verweigerte Mitsprache
Hier wird die Idee der Natur im Anthropozän unvermeidlich politisch. Tatsache ist, dass heute der Spielraum demokratischer Entscheidung auf dem globalen Spielfeld eingeengt ist. Wir leben nicht in einer Zeit der politischen Ökonomie, sondern der ökonomisierten Politik. Der Weltmarkt reguliert sich selber. Konzerne, Zentralbanken und supranationale Organisationen wie die WTO, die UNO oder die EU mit ihren einschlägigen Kommissionen haben das Sagen. Und in der Sicht ihrer technokratischen Führungscliquen heisst Politik der Natur in erster Linie technologisch-ökonomisch orchestriertes Design der Natur.
Den Bürgern aller Länder werden ihre Mitspracherechte abgemarktet. Sie werden verköstigt mit wohlklingenden Absichtskommuniqués, die anmuten wie dicker Zuckerguss auf einer ungeniessbaren Torte aus Treibhausgas-Emissionen, Gewässervergiftung, Bodenauszehrung, Abholzung, Artensterben. Am schlimmsten ist, dass wir all dies wissen und über diesem Wissen das marktlogische Amen nachbeten: There is no alternative.
Recht auf Natur
Ironischerweise entlarvt sich ja diese Devise selber als verordneter Blick durch die Maske der Liberalität. Im Grunde ist der Ausschluss von Alternativen im Zeitalter des organisierten Zasters Symptom einer Denk-Sklerose: Es führt nur ein einziger Königsweg zum Ziel, das heisst zum Wohlergehen und Fortbestehen des Planeten. Demokratische Mehrheiten sind nicht vertrauenswürdig, weil angeblich zu sehr in alltägliche Geschäfte gebunden, von allzumenschlichen Bedürfnissen befallen, in eine Vielfalt widerstreitender Meinungen verstrickt.
Aus der heimlichen Verachtung der demokratischen Meinungsbildung leitet sich die Selbstlegitimierung einer weltweiten Expertenkaste ab, die sich allein den klaren Blick in die Zukunft anmasst. Unter den Promotoren eines radikalen Klimaschutzes regt sich schon seit einiger Zeit eine Ungeduld, die unverblümt nach der „starken Hand“ ruft.
Der Biologe und Chemiker James Lovelock, bekannt geworden durch seine Gaia-Hypothese, äusserte in einem Interview im „Guardian“ Sympathien für ein autokratisches Experten-Regime, das allein noch in der Lage sei, den Planeten zu retten: „Ich habe das Gefühl, dass der Klimawandel ein Streitpunkt von der Schwere eines Krieges ist. Deshalb könnte es notwendig werden, die Demokratie eine Zeitlang in Wartestellung zu setzen.“ Um die Natur in den Griff zu kriegen, muss man den Menschen in den Griff kriegen. Und dabei bleibt es dann auch nach dem Alarm.
Die Aporie einer „Natur für alle“
Politik der Natur muss dezidiert solchen autokratischen Gelüsten entgegentreten. Sie räumt auf mit der Suprematie des Expertenblicks, ohne ihn freilich in toto zu verabschieden. Sie hakt stets mit der Frage nach seiner Legitimität nach, das heisst, sie beginnt exakt da erneut zu frage, wo die Fachleute bereits die Antwort zu kennen vermeinen.
Vor allem aber hinterfragt die an der Natur orientierte Politik einen Begriff des wissenschaftlichen Fortschritts, der aus dem Zuwachs an Wissen geradewegs einen Lenkungsanspruch der „Wissenden“ ableitet. Sie verficht die Vision einer Lebensgemeinschaft, die eine Vielfalt von Mensch-Natur-Verhältnissen praktiziert, von der animistischen Verehrung bis zur utilitaristischen Güterabwägung.
Schwache Universalität
Natur im Anthropozän ist, so gesehen, konkret und abstrakt zugleich. Konkret darin, dass wir uns des Reichtums an Verhältnissen zur Natur innewerden, welche die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte entwickelt hat. Abstrakt darin, dass sie die Idee eines universellen Rechts auf Grundgüter der Natur, wie Luft, Wasser, Nahrungsstoffe, stipuliert. Dieses Recht erscheint heute ja weniger denn je als selbstverständlich.
Das Problem ist, genauer gesagt, dass ein solches Recht einen Anspruch von schwacher Universalität geltend macht. Und das führt in eine Aporie, die sehr an Hannah Arendts „Aporien der Menschenrechte“ erinnert. Auch die Menschenrechte seien von schwacher Universalität, so die Philosophin, sie würden sich auf das Abstraktum „des“ Menschen beziehen, und nicht auf den konkreten, in einer bestimmten Kultur- und Rechtsgemeinschaft lebenden Menschen. Denn nur dort könnten die Rechte mit robuster Gesetzeskraft verbindlich gemacht werden.
Auf die Natur im Anthropozän gemünzt heisst dies, dass die Idee einer Natur als Gemeingut ohne globales politisches Wir nur schwer Fuss fassen kann. Eine Politik der Natur im Anthropozän lebt mit dieser Aporie.
Demokratiedefizite sichtbar machen
Aber eine „demokratische“ Politik der Natur – ist das nicht ein hölzernes Eisen? Leistet man dadurch nicht einem endlosen Palaver Vorschub, in dem vom aryuvedischen Naturheiler über den künstdüngenden Schrebergärtner bis zum Lebensmittelchemiker alle ihr jeweiliges Naturverständnis verfechten?
Dem Ruf „Natur für alle“ wird gern mit dem Einwand begegnet, dadurch würde ein Gärtchendenken gefördert. Der Einwand lässt sich umkehren. Wie steht es auf internationalem Niveau? Wird nicht gerade in den Konferenzräumen der Multis und Regierungsberater ein politisches „Gärtchendenken“ ad nauseam praktiziert? Ist nicht gerade hier ein Palaver zu vernehmen, eine Uneinigkeit und ein Denken, das sich vor allem an den Wettbewerbsaussichten auf dem globalen Markt orientiert? Sind hier die Interessen von betroffenen Bevölkerungsgruppen überhaupt repräsentiert?
Demokratie ist nach wie vor die schlechteste Regierungsform – ausgenommen alle anderen, noch schlechteren. Eine demokratische Politik der Natur gewinnt ihr Momentum aus dem Negativen. Sie macht Demokratiedefizite in den Nervenzentren der Wirtschaft und Politik sichtbar.
Selbst wenn das Recht auf elementare Güter der Natur mit den Menschenrechten den prekären Status der schwachen Universalität teilt, so kann uns die Idee einer „Natur für alle“ – weil sie Idee ist – als universale Fehlanzeige dienen: als Detektor für fehlende Massnahmen, fehlende Institutionen, fehlende Imagination, fehlende Kompetenz, fehlendes Gewissen, fehlende Denokratie. Und sie kann dadurch unser diffuses Unbehagen in der ruchlosen Alternativlosigkeit globaler Marktverhältnisse wie durch eine Linse bündeln und auf Ziele, Projekte – und warum nicht: Utopien – fokussieren.
Unter dem Konferenztisch blüht der Garten
Das Anthropozän ist also nicht nur eine Herausforderung für die Natur, sondern viel mehr noch für die Demokratie, wie dies neuerdings der amerikanische Rechtswissenschafter Jedediah Purdy in seinem Buch „After Nature“ eindrucksvoll dargelegt hat.
Wir sind herausgefordert zur Skepsis, Phantasie und Solidariät im Kleinen: Skepsis braucht es gegenüber einer hegemonialen Sichtweise, wie sie sich in der Vorherrschaft von Wissenschaft, Technologie und Ökonomie unter kapitalistischem Vorzeichen ausgebreitet und verfestigt hat; Phantasie ist gefordert, die neben der Erhaltung der Biodiversität eine Parallelaktion initiiert zugunsten der Erhaltung der Diversität von Naturverständnissen; Solidarität ist angesagt im Sinne eines Lebenswandels, der sich zumindest bewusst zu werden versucht, wie und inwieweit er der Umwelt seine Signatur aufprägt.
Vor allem aber gilt: Pluralismus ist Widerstand. Der Widerstand des Lebens gegen seine Vereindeutigung. Unter dem Konferenztisch blüht der Garten.
Jedediah Purdy: After Nature. A Politics for the Anthropocene; Cambridge (Mass.)/London, 2015