Blenden wir zurück. Das europäische Mittelalter kannte den Feudalismus. Später folgte der Merkantilismus. Seit dem 19. Jahrhundert sprechen wir in der Wirtschaftsgeschichte vom Kapitalismus, der seinerseits den Sozialismus als Gegenbewegung formte. Der Kommunismus als radikalerer Gegenpol zum Kapitalismus hat sich längst vom theoretischen zum pervertierten Idealbild entwickelt und damit selbst abgeschafft.
Kapitalismus und Sozialismus
Übrig geblieben sind in Europa Kapitalismus und Sozialismus. Immer stärker gerät das System Kapitalismus aber heute seinerseits unter Druck. Die erfolgreiche Wirtschaftsform, gekennzeichnet durch Privateigentum der Produktionsmittel und automatischer Steuerung über die Marktkräfte, ruft – oft selbstverschuldet – immer mehr Kritiker auf den Plan, selbst Ökonomen. Das volkswirtschaftliche Theoriegebäude der Neoklassik wird wegen dessen marktradikalen Ansatzes von nicht wenigen als wenig zeitgemäß, ja überholt eingestuft.
Doch wer gemeint hat, damit gehe der Sozialismus als strahlender Sieger vom Platz, er täuscht sich gewaltig. Denn selbst in Ländern, wo die sozialistischen Parteien mehrheitlich regieren, ist wenig zu spüren von den hehren ursprünglichen Zielen eines gerechten Staates, in dem der Gemeinschaft zuträgliche und der Gesellschaft zumutbare Verhältnisse herrschen. Mehr Staat (statt Privat) ist eben an sich höchst problematisch. Wuchernde Staatsbürokratie und ausufernder Reglementierungsdrang drohen bald einmal, die treibende, positive Kraft privater Unternehmer zu ersticken.
Damit landen wir in der Politik und beim Menschen. Sozialistische Politik, verkörpert durch Parteifunktionäre oder Gefolgsleute, entbehrt vielerorts eines zeitgemäßen Fokusses: Der Begriff ist schwammig und wird periodisch erweitert, je nach Kurzfristdiagnose. Die unterschiedlichsten Ziele und Inhalte werden laufend umdefiniert, meistens ausgerichtet auf die aktuelle, politische Gegnerschaft. Reaktion statt Weitblick.
Wenden wir uns deshalb zurück zum Kapitalismus, der seinerseits durch Menschen politisch inszeniert wird: durch liberale und konservative Kräfte. In der Schweiz etwa Grünliberale und SVP. Während die Konservativen tendenziell in der Vergangenheit verankert verharren, sind die Liberalen zukunftsgerichteter. Doch sie verteilen sich auf mehrere Parteien, oder sie sind oft parteipolitisch unabhängig: Parteilose eben.
Kapitalismus in der Krise
Selbst der tendenziell wirtschaftsfreundliche „Economist“ macht sich Sorgen. Er stellt fest, dass Politiker und die Gesellschaft weltweit immer lautstarker den uneingeschränkt wuchernden Kapitalismus bändigen möchten. „Policymakers and the public are more doubtful about allowing it [the capitalism] to develop without constraints and more anxious to shape the flows of trade, capital and people“, (October 12th, 2013).
Doch wo immer sich Politikerinnen und Politiker ansiedeln im weiten Feld ihres persönlichen Weltbilds: Überall in Europa steigt das Unbehagen der Bevölkerung auch mit dem Leistungsausweis der Politik. In den EU-Ländern dümpeln Koalitionen seit Jahren vor sich hin, deren Regierungen rennen der weltweiten Entwicklung hinterher und versuchen verzweifelt, sich selbst als bestimmend zu positionieren, während sie doch in Wirklichkeit getrieben werden durch … Auswüchse und Verwerfungen eines erdrückenden Kapitalismus oder sozialistischer Klientelwirtschaft.
In jenen Ländern, in denen nur eine Partei mehrheitlich regiert, erleben wir seit Jahrzehnten den gleichen Ritual: nach einigen Jahren werden ihre Exponenten durch die frustrierten Wählerinnen und Wähler in die Wüste geschickt. Ihr politischer Widersacher wird mit der Regierungsbildung betraut, bis ihn, nach wenigen Jahren an der Macht, …. (siehe oben).
Die Welt verändert sich
Ohne sich um die Politik zu kümmern, passiert weltweit Unerhörtes: Global aktive Konzerne verpassen der entzückten oder erschreckten Gesellschaft ein neues Weltbild, das alle Züge in sich trägt, die nächste Wirtschaftsform zu gebären. Raum und Zeit im 21. Jahrhundert verändern sich mit eklatanter Geschwindigkeit. Die Aktivitäten der Reformationstreiber (z.B. Google, Microsoft, Amazon, Facebook, Twitter, etc.) überziehen die Erde mit einem neuen Koordinatensystem, ohne Datenschützer oder Preisüberwacher um Erlaubnis zu bitten. Die größten Multis dieser Welt besetzen in unblutiger Eroberung die Märkte, effizient, unzimperlich, professionell. Die Raumrevolution ist perfekt. Die eingeschlagene Geschwindigkeit ist erschlagend: mit der Gleichzeitigkeit der IT-Welt wird zur Norm, was eben noch Zukunftstraum war. Die Zeitrevolution ist da. Räumliche und zeitliche Grenzen werden gesprengt.
Global statt national
Zeichnet sich gar das Ende der Nationalstaatlichkeit ab? Diese Meinung jedenfalls, vertrat im Herbst 2013 Prof. Herfried Münkler von der Humbold Universität Berlin (SIAF Veranstaltung an der Uni Zürich). Der Territorialstaat als begrenzte Souveränitätshoheit gerät unter Druck. Die „beste Armee der Welt“ ist abhängig von den Informationen aus den USA und der EU. Nationale Gesetze werden via Internethandel ausgehebelt. Das Internet hat längst die nationalen Grenzen gesprengt, der weltweite Informationsfluss kümmert sich nicht um nationale Zuständigkeiten (außer er werde durch „diktatorische“ Maßnahmen gestoppt).
Die Entwicklung ist drastisch, ob sie uns passt oder nicht; wir sind nicht gefragt. Ob Europa dereinst bei den großen Players mitspielen wird, ist alles andere als sicher. Noch dominieren da die nationalen Befindlichkeiten, respektive die persönlichen Ambitionen der politischen Repräsentanten und deren überholten Weltbilder. Während sie sich streiten, ob Kapitalismus oder Sozialismus, ob Koalition oder Mehrheitsregierung, ist der epochale Umsturz der Wirtschaftsform im Gang, in dessen Folge sich das Gesellschaftsleben verändert.
Dataismus bestimmt die Zukunft
Was gemeint sei mit Dataismus? Das Copyright für diese Wortschöpfung liegt bei mir. Schon in früheren Umbruchzeiten haben Kulturphilosophen darauf hingewiesen, dass neue Zeiten neue Wörter gebären. Neue Zustände sind oft nicht akkurat beschreibbar mit dem Wortschatz der Vergangenheit. So wie Kapitalismus von Kapital hergeleitet wird, fußt Dataismus auf Data, BIG DATA genauer. BIG DATA wiederum umfasst drei Dimensionen: Menge, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Vielfalt. Natürlich besteht da die Gefahr, dass Quantität die Qualität dominiert.
Der Kapitalismus in der Ausprägung und der Lehre des vergangenen halben Jahrhunderts hat uns maßgeblich die Krise beschert, in der wir seit 2008 gefangen sind. Genauer gesagt sind es wohl die deregulierten Finanzmärkte, die die größte Gefahr heraufbeschwörten.
Die nächste Wirtschaftsform wird eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Kapitalismus sein. Dataismus meint: Marktwirtschaft, basierend (statt auf Produktions-) auf Wissenseigentum und Internet. BIG DATA in Kombination mit lernfähigen Algorithmen verändert die Wirtschaft, die Politik, die Welt. Doch parallel dazu kommt es zu einem interessanten Zusammenspiel: Neue staatliche Regelwerke sind die Vorläufer globaler Spielregeln, koordiniert durch etwa die G20, die OSZE oder andere (noch nicht existierende) grenzüberquerende, spontane Zusammenschlüsse. Damit erobert sich die Politik einen Teil der verlorenen Handlungshoheit zurück. Privatinitiative und transnationaler Verhaltenskodex sozusagen. Informationsfluss statt Absprachen. Kooperation statt Krieg.
BIG DATA-Revolution
Vereinfacht gesagt, meinen wir mit BIG DATA jene unvorstellbar riesengroßen Datenmengen, die mit neuesten Technologien gesammelt, analysiert und darauf mit zusätzlichen Informationen verknüpft werden. Algorithmen erkennen Muster und Gesetzmäßigkeiten: Clevere Unternehmen erahnen damit zukünftiges Verhalten ihrer Kunden und bedienen diese mit Neuheiten vor der Konkurrenz. Sie schaffen sich klare Wettbewerbsvorteile. Aufgeregt wird darüber diskutiert, wie staatliche Nachrichtendienste unsere Privatsphäre ausspionieren, als würden wir dadurch gläserne Bürger. Sogar unser Denken wird beeinflusst. Der britische Ökonom Rufus Pollock (Cambridge University) ist überzeugt, dass wir uns am Anfang der Open Knowledge Revolution befinden (TA vom 21.9.2013): „BIG DATA wird die Welt verändern wie die Erfindung des Internets“.
Cloud Computing stellt IT-Strukturen, Speicherkapazitäten oder Software „aus der Wolke schwebend“ zur Verfügung. Diese können von jedem Ort auf der Welt, von jedem Gerät aus empfangen werden und auch Länder wie China revolutionieren, wo Hunderte von Millionen Menschen profitieren werden, auch wenn das der chinesischen Regierung etwas unheimlich erscheint. E-Business verlagert ganze Wertschöpfungsketten der Wirtschaft ins Internet, wo sie online abgewickelt werden. Wieder: Raum und Zeit wird neu definiert. Universitäten weltweit gehen online, die Studierenden selektionieren und wählen so ihre Professoren.
In den USA sprechen führende Köpfe des MIT Centers for Digital Business, (Cambridge, MA) gar vom Zweiten Maschinenzeitalter „THE SECOND MACHINE AGE“ und der Neuerfindung unseres Lebens und unserer Wirtschaft. Digitale Technologien – Hardware, Software, Netzwerke – würden ganze Berufsgruppen umkrempeln, indem sie Arbeiten übernähmen, die bisher nur von Menschen ausgeführt werden konnten.
Die stille Revolution läuft. Ob das alles zum Guten der Menschheit beitragen wird? Ich hoffe es. Die Globalisierung erhält täglich mehr Profil und Struktur. Alles wird mit allem verwoben. Nationale oder private Interessen finden sich verteilt auf Dutzenden von Ländern wieder. Wenn das dazu führt, das Krieg als Mittel der Machtausübung wenig opportun erscheint, umso besser. Ob wir dereinst von Dataismus sprechen werden – ich weiß es nicht. De facto ist er bereits angekommen.