Er sei ergriffen, wenn er die Welt von oben betrachte, bekennt Georg Gerster bei der Eröffnung seiner Ausstellung „Wovon wir leben“ in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur.
Und als der 85-Jährige das, am Ende seiner einführenden Worte, sagt, ist er sichtlich bewegt: „Ich bin glücklich, überglücklich, wenn Sie beim Betrachten meiner Flugbilder das Gleiche verspüren.“ Dem Blick von oben, hat er einst formuliert, erscheine die Welt „ganz ohne Tränen unverbraucht wie am Schöpfungstag“.
Georg Gerster erzählt in Winterthur, wie einst bei einer Ballonfahrt in China, über der Route von Mao Zedongs Langem Marsch, ein Tonband im Korb des Gefährts seine Ergriffenheit dokumentierte, ohne dass er es merkte. Wieder am Boden, fragten ihn chinesische Übersetzer, ob er religiös sei. Wie sie darauf kämen? Auf dem Band, so die Antwort, sei wiederholt fast nur „O mein Gott!“ zu hören.
Dr. Georg Gerster, Germanist und Anglist, hat vor 50 Jahren, 1963 im Sudan, zum ersten Mal Luftaufnahmen gemacht. Im vergangenen Januar hob er zum letzten Mal zu einem Fotoflug ab. Dazwischen liegen Tausende von Flugstunden, nicht immer in den sichersten Geräten, stets aber abhängig von Bürokraten und Wetter sowie im Tandem mit Piloten, denen die Suche nach dem bestmöglichen Bild mitunter das Äusserte abverlangt. Doch gravierende Pannen oder Missgeschicke hat es in all den Jahren keine gegeben. Georg Gerster kam immer heil runter.
Kann auch sein, dass das Beten geholfen hat. In seinem 1975 erschienen Buch „Der Mensch auf seiner Erde“ zitiert der Fotograf im Vorwort aus dem Nachtgebet seiner sechsjährigen Tochter: „…im Flugzeug gib ihm viele schöne Aussichten und mach‘, dass ihn nicht die Hyänen fressen.“ Solche aber habe er, erinnert sich Georg Gerster, bei seinen Einsätzen unter manchem Namen kennengelernt: schlampige Mechaniker, übermütige Piloten, skrupellose Flugzeugbesitzer. „Meine Luftbilder kommen zustande um den Preis von Nerven“, meint er.
Nerven sind das eine, Finanzen das andere. Er habe zwar oft potente Auftraggeber gehabt, resümiert Georg Gerster, aber nicht immer. In solchen Fällen flog er jeweils auf eigenes Risiko, in der Hoffnung, die Bilder später vermarkten zu können. Was ihm, wie er einräumt, auch meist gelang. Nicht selten kam ihm auch zu Hilfe, was die Angelsachsen „serendipity“ nennen: der glückliche Zufall, die schöne Überraschung. Unterwegs etwa zu archäologischen Stätten kamen ihm unerwartet Sujets vor die Linse, die sein geübtes Auge sich nicht entgehen liess. „Als Flugfotograf suche ich, was ich nicht verloren habe, und finde, was ich nicht suche“, hat er einmal gesagt.
Dabei weiss Georg Gerster nicht nur mit Kameras und Objektiven aller Brennweiten umzugehen (im Ballon über China hatte er zehn Gehäuse dabei), sondern auch mit Worten – Folge seiner Anfänge als Wissenschaftsredaktor der „Weltwoche“ in den frühen 50er-Jahren. Weil ihn auf der Redaktion die Aufnahmen, mit denen Berichte illustriert wurden, nicht befriedigten, begann er, selber zu fotografieren und 1956 als freischaffender Journalist zu arbeiten.
Für NZZ, „National Geographic“, „Geo“ und andere Publikationen war Georg Gerster auf allen Kontinenten unterwegs. Erste Bücher erschienen, über den Sinai, über Äthiopien und dessen Felskirchen, über die Spuren der Zivilisation („Der Mensch auf seiner Erde“), über Landwirtschaft und Ernährung („Brot und Salz“). Er fotografierte für die Swissair; daraus entstanden packende Plakate und grossformatige Kalender. Diese hingen seinerzeit an vielen Schweizer Wohnzimmerwänden und sind längst zu begehrten Sammlerobjekten geworden.
Georg Gersters Chance kam Beginn der 60er-Jahre, als die UNESCO aufgrund des Baus des neuen Hochdamms in Assuan plante, die 3000 Jahre alten Felsentempel von Abu Simbel zu zersägen und an einen höher gelegenen Standort zu verlegen, um die Statuen vor den steigenden Fluten des Nasser-Sees zu retten. Der Fotograf packte die Gelegenheit, weil er realisierte, was für eine spannende Story das vierjährige Projekt hergeben würde, und dokumentierte den Transfer der beiden Tempel. Der Rest, wie die Amerikaner sagen, ist Geschichte.
Die Schmeichelei der Imitation
Noch 1983 schrieb der Amerikaner Beaumont Newhall im Vorwort des Katalogs zur Londoner Ausstellung „The View From Above“, ihn überrasche, wie wenig Aufmerksamkeit Kunstkritiker und Fotografen bisher dem Adlerblick gewidmet hätten. In der „Photographers‘ Gallery“ hingen auch Aufnahmen von Georg Gerster, unter anderem jene des malischen Dorfes Labbézanga auf einer Insel im Niger aus dem Jahre 1972, das auch Sujet eines Swissair-Plakats war.
Der Fotohistoriker argumentierte, die Ästhetik von Flugbildern werde erst seit relativ Kurzem gebührend gewürdigt: „Niemand nahm in ihnen irgendeine Schönheit wahr. Die Welt erschien seltsam, unkenntlich, weit und öd.“ Heute zeigen Georg Gersters Bilder das pure Gegenteil dessen, d.h. eine neue Sichtweise, den Blick von oben, der die Erde faszinierender, verständlicher, schöner und reicher macht. Kein Wunder, hat der Flugfotograf aus Winterthur etliche Nachahmer gefunden - gemäss der Einsicht, wonach Imitation die aufrichtigste Form der Schmeichelei ist.
Teil 2: Rundgang durch die Ausstellung
Abstrakte Kunst – das ist der Eindruck, der sich als erstes beim Betreten der Ausstellungsräume in der Fotostiftung einstellt. Muster von betörender Schönheit, Farbkombinationen wie von einem Maler. Es ist gar nicht möglich, auf den ersten Blick zu erkennen, um welche Muster es sich handelt. Ihre Wirkung entfalten sie bereits ohne vertieftes Wissen. Denn intuitiv hat man den Eindruck grosser Stimmigkeit.
Der Schritt zur Erklärung ist unvermeidlich, denn Georg Gerster hat aus der Luft Formationen auf der Erde fotografiert, die sich unter der Einwirkung von Menschen gebildet haben. Es handelt sich jeweils um ökologische Fussabdrücke, die er dokumentiert. Es gilt also, den Schritt von der Schönheit der Muster zu der Realität zu tun, die sich in ihnen Ausdruck verschafft.
Schönheit und Gefährdung
Das fällt gar nicht leicht. Es ist wie das Erwachen aus einem Traum, wie eine grosse Ernüchterung. Zudem sind die Vorgänge, die diese Muster hervorgebracht haben, nicht immer, aber leider sehr häufig, negativer Art. Da kämpft China vergeblich gegen die Ausbreitung der Wüste Gobi, in Australien tritt das Salz an die Erdoberfläche und beeinträchtigt die Ernten, in Europa richtet Trockenheit schwere Schäden an oder eine Aquafarm auf den Philippinen ist durch Wasserverschmutzung gefährdet.
Es sind zwei Seiten der Realität, die Gerster präsentiert: die Ästhetik der Muster und die harten Fakten unserer gefährdeten Welt. Es ist geradezu bewundernswert, wie detailliert Gerster sich mit den Details der Landwirtschaft, ökologischen Fakten und geologischen Details beschäftigt. Das Auge des Fotografen, das in unnachahmlicher Weise die Motive erkennt, findet sein Pendant in der Recherche des Wissenschaftsjournalisten.
Der Sinn für Schönheit und der Sinn für die Gefährdung bilden bei Gerster eine Einheit. Das hat nichts Gewolltes, Erzwungenes oder Gekünsteltes, wie man es ja häufig findet, wenn irgendeinem künstlerischen Tun ein hehrer Sinn untergejubelt wird. Bei Gerster ergibt sich aus der Schönheit die Dringlichkeit, auf die Gefährdung hinzuweisen.
Die fotografische Perspektive, die er dazu einnimmt, ist weder romantisch verklärend, noch anklagend. Sie ist auch nicht wissenschaftlich-technisch, wobei manche seiner Bilder an Aufnahmen von Fraktalen erinnern. Geradezu wissenschaftlich-nüchtern sind seine Aufnahmen, insofern sie keinen Horizont mit Wolken und spezifischen Lichteffekten zeigen. Aber er fotografiert seine Motive nicht einfach senkrecht von oben, sondern wählt eine seitliche Perspektive, die dem Dargestellten eine höhere Dynamik verleiht.
Diese Art der Subjektivität drückt sich auch in Gersters Ausrüstung aus. Bis heute fotografiert er analog und benutzt dazu Kleinbildkameras, also das Format 24 x 36 Millimeter. Diese Bilder werden gescannt. Gerster verändert den Bildausschnitt nur äusserst zurückhaltend. In der Regel geht es darum, eine Proportion oder eine Linie im Verhältnis zu Bildrand noch ein bisschen zu verbessern. Die digitale Nachbearbeitung hält er bewusst in engen Grenzen.
Die unverwechselbare Handschrift
50 Luftaufnahmen aus 50 Schaffensjahren sind in der Ausstellung zusammengestellt. Jedes Bild für sich enthält ein eigenes Muster, erzählt eine andere Geschichte. Da gibt es keine Wiederholungen. Aber jedes Bild zeigt die unverwechselbare Handschrift von Georg Gerster. Und die ganze Ausstellung ist ein Zeugnis für seine thematische Beharrlichkeit.
Schon 1980 legte er mit „Brot und Salz“ ein Buch vor, in dem er seine Sorge um die Ressourcen und speziell um die künftige Ernährung der Menschheit zum Ausdruck brachte. Damals steckte die ökologische Bewegung noch in den Kinderschuhen, und „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) vom Club of Rome wurden erst von wenigen ernst genommen.
Heute beobachtet und fotografiert Gerster die Vergrösserung der Anbauflächen durch die Agrarfabriken. Die Felder werden immer grösser, und die Vielfalt der Nutzpflanzen nimmt ab. Das ist auch ein Zeugnis der ökonomischen Konzentration der Nahrungsmittelindustrie. Gerster sieht und fotografiert sie mit grosser Sorge.
Unter der Rubrik "UNESCO-WELTERBE bringt das Journal21 regelmässig Bilder von Georg Gerster.
Die Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur, geht bis zum 26. Mai 2013