Dieter Imboden und seine Frau sind wieder mit ihrem Schiff „Solveig VII“ auf Europas Flüssen unterwegs und führen für uns Tagebuch. Jetzt sind sie im „kleinen Meer“ angekommen.
Im Salon meiner Grossmutter in Küsnacht, von ihr „das Büro“ genannt, stand eine Reihe von wunderbar gearbeiteten Büchervitrinen. Die verschliessbaren Glasfenster schützten die Bücher vor Staub und neugierigen Händen. Wenn wir zu Besuch waren, schlich ich mich gerne heimlich davon, um die Titel auf den Buchrücken zu studieren. Viele von ihnen waren in vergoldeter Schrift auf farbiges, zum Teil schon etwas brüchiges Leder gedruckt. Die meisten Buchtitel bleiben für den Primarschüler allerdings unverständlich.
Manchmal öffnete ich heimlich eines der Gestelle, um ein Buch herauszuklauben, dessen Titel mich neugierig gemacht hatte. An einen Titel erinnere ich mich besonders gut: „Der Rheinfall und andere deutsche Sehenswürdigkeiten“ (oder so ähnlich) stand in gotischer Schrift auf dem Buchrücken. Das Buch war alt; es musste aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen, als Deutschland noch ein stolzes Kaiserreich war.
Der Hauptgrund für mein Interesse wird wohl gewesen sein, dass ich mich als patriotischer Schweizer, der kurz vorher mit seinen Eltern den Rheinfall besucht hatte, über die Vereinnahmung unseres Naturwunders durch die nördlichen Nachbarn geärgert hatte. Zugegeben, andere Objekte in diesem Buch trugen ihr nationales Siegel zu Recht, der Kölner Dom zum Bespiel, der Elbtunnel in Hamburg oder die Kalkfelsen auf Rügen, aber es gab zumindest noch ein weiteres Kapitel, das meinen Argwohn weckte: „Der Bodensee, der grösste deutsche See“, hiess es sinngemäss.
Versteckt hinter dem Eisernen Vorhang
„Ist denn der Bodensee nicht ein Schweizer See, so wie der Vierwaldstättersee oder der Genfersee?“ fragte ich später meinen Vater, als ich ihm über meine Entdeckung in der grosselterlichen Bibliothek berichtete. Natürlich erinnere ich mich nicht an seine Antwort. Er wird wohl meinen Unmut gedämpft und mir das Problem mit nationalen bzw. multinationalen „Heiligtümern“ erklärt haben.
Doch eines ist mir von dieser Diskussion bis heute in Erinnerung geblieben: Der grösste, ganz in der Schweiz gelegene See, so erklärte mir mein Vater, sei der Neuenburgersee. Er sei zwar mit seinen 218 Quadratkilometer (qkm) nicht einmal halb so gross wie die beiden wirklich grossen „Schweizer Seen“, Genfersee (580 qkm) und Bodensee (473 qkm), aber dafür könne ihn uns niemand streitig machen.
Ich weiss nicht mehr, ob auch der grösste, ganz in Deutschland liegende See zur Sprache kam. Wahrscheinlich nicht, denn ich zweifle, ob mein Vater die Antwort gewusst hätte: die Müritz. Sie lag damals gleichsam versteckt hinter dem Eisernen Vorhang, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin in Mecklenburg, einer Gegend, die im Westen nach dem Krieg für über dreissig Jahre beinahe zu existieren aufgehört hatte.
Sechs Meter tief
Die Müritz hat ihren Namen vom slawischen Wort Morcze, was „kleines Meer“ bedeutet. Dieses Attribut mag man auf den ersten Blick als übertrieben empfinden, denn ihre Fläche von 113 qkm entspricht genau derjenigen des Vierwaldstättersees und ist nur wenig grösser als diejenige des Zürichsees (88 qkm, inklusive Obersee). Niemand käme auf die Idee, den Zürichsee als kleines Meer zu bezeichnen, so wie er da liegt zwischen der Albiskette und dem Pfannenstil wie ein friedlicher Schweizer Mississippi.
Und wenn wir uns schon über das kleine Meer wundern, dann sei noch dies gesagt. Die maximale Tiefe der Müritz beträgt lediglich 29 Meter. Da bringt es sogar der kleine Greifensee auf mehr, nämlich auf 32 Meter, ganz zu schweigen vom Zürichsee (136 Meter), Vierwaldstättersee (214 Meter) und Genfersee (310 Meter). Im Mittel ist die Müritz sogar nur rund 6 Meter tief. Ihr totales Wasservolumen beträgt nur 6 Prozent des gleich grossen Vierwaldstättersees bzw. rund 20 Prozent desjenigen des Zürichsees.
Doch Zahlen sprechen manchmal nur die halbe Wahrheit. Das kann jeder bezeugen, der schon einmal bei Windstärke 4 (entsprechend einer Windgeschwindigkeit von 20 bis 28 km/h) oder mehr die Müritz überquert hat. Und um eine Überquerung kommt man nicht herum, wenn man mit dem Schiff auf der Havel-Müritz-Wasserstrasse von Berlin nach der im Norden der Müritz gelegenen Stadt Waren fahren will. Das schmucke Städtchen ist in den letzten zwanzig Jahren zu einem erstrangigen Wassersportzentrum geworden. Es besitzt einen grossen, durch eine lange Mole geschützten Hafen, in dem man sich, wenn abends die Segel- und Motoryachten einlaufen, fast wie am Mittelmeer fühlt.
Nur bei Windstärke 3 befahren
So wurde Waren für alle Schiffer, welche auf der Mecklenburger Seenplatte unterwegs sind, zu einem beliebten Etappenort. Wir machten da keine Ausnahme, als wir vor zwölf Jahren in Fürstenberg an der Havel ein Mietschiff gechartert hatten. Unser erstes eigenes Schiff hatten wir kurz zuvor aus Frustration über die nicht enden wollenden Reparaturen verkauft und litten unter entsprechenden Entzugserscheinen, welche wir durch Ferien auf einem Charterboot zu lindern hofften.
Bei den damaligen Reisevorbereitungen stiess ich erstmals auf den für einen See eher seltsam klingenden Namen: die Müritz. Das Gewässer selbst machte mir aufgrund der Karte allerdings keinen besonderen Eindruck. Umso erstaunter war ich, als uns die Vermieterfirma bei der Übernahme des Schiffes einschärfte, wir dürften die Müritz nur bei einer Windstärke 3 oder weniger (maximal 19 km/h) befahren. Das machte mich neugierig. Mit einem klaren Ziel vor Augen fuhren wir also auf der Müritz-Havel-Wasserstrasse gegen Norden, erreichten in Mirow die Wasserscheide zwischen Havel und Elde und kurz danach bei Rechlin die Kleine Müritz, welche durch eine Seeenge mit der Grossen Müritz verbunden ist. – Nebenbei bemerkt: Die Elde, nicht zu verwechseln mit der Elbe, fliesst durch die Müritz, danach durch den Plauersee und in einem grossen Bogen über Lübz und Parchim nach Dönitz, wo sie in ihre phonetische Zwillingsschwester Elbe einmündet. –
Der kürzeste Weg von der Kleinen Müritz nach Waren führt auf einer 17 Kilometer langen Route in einem flachen Bogen nordwärts über die Seemitte, welche laut Karte durch eine rot-weisse Boje mit der Aufschrift „Müritz Mitte“ markiert sein soll. Das Wasser war damals ziemlich ruhig, die Sicht gut. In der Ferne konnte man das andere Ufer als dünne dunkle Linie ahnen. Es schien uns unendlich weit weg, fast wie auf dem Meer. Markierungspunkte am Horizont, wie wir sie vom Zürichsee kennen, wo jede Kirche und erst recht die Hügelzüge, der Uetliberg, das Albishorn, der Etzel oder der Pfannenstil die Orientierung erleichtern, gab es kaum.
Steinhaufen im See
Doch nicht nur der flache Horizont war ungewohnt, sondern auch die geringe Tiefe des Sees. Auch weit weg vom Ufer sind auf der Karte grosse Gebiete mit Wassertiefen von nur drei Meter oder weniger eingezeichnet. Als Wasserphysiker hatte ich gelernt, dass Wellen in seichten Gewässern im Vergleich zum offenen Meer steiler und höher werden und so Schiffe schon bei relativ kleinen Windstärken in Bedrängnis bringen können. Zudem gibt es etliche Zonen, wo wir mit unserem Schiff auf Grund laufen könnten. Zwei von ihnen, den Untiefen Rosenberg und Rodenberg, würden wir auf unserem Kurs über die Seemitte nahe kommen. Laut Seekarte seien diese Zonen durch je vier Bojen gekennzeichnet, deren charakteristische gelb-schwarze Markierung anzeigt, in welcher Himmelsrichtung sich die gefährliche Zone befindet. Wehe dem Kapitän, welcher die gelb-schwarze westliche mit der schwarz-gelben östlichen Markierungsboje verwechselt! Andere kritische Stellen tragen beunruhigende Namen wie grosser und kleiner Steinhaufen. Mitten auf einem grossen See mit dem Schiff in einen Steinhaufen zu fahren, ist kein Vergnügen, ja es kann böse enden, wenn das bei starkem Wellengang geschieht.
Die Karte der Müritz muss für Orientierungsläufer ein wahres Eldorado sein: Es bietet ein Gebiet, bestückt mit verschieden farbigen Bojen, welche zusätzlich mit Nummern oder gar mit Namen versehen sind, wie „Starker Baum“ oder „Kleine Kuhle“, an denen man sich in schwierigem Gelände vortasten kann. Doch stellt sich die Frage: Über welche Distanz sieht man eigentlich bei ruhigem Wasser mit blossem Auge eine farbige Boje, welche auf den Wellen tanzt, und wie verändert sich diese Sichtweite bei schlechtem Wetter?
Respekt gegenüber dem „kleinen Meer“
Doch damals, anlässlich unserer ersten Fahrt über die Müritz, hatten wir zum Glück günstige Bedingungen und einen guten Feldstecher und liefen nach gut zwei Stunden „auf hoher See“ stolz im Hafen von Waren ein. Ein paar Tage später jedoch, auf der Rückreise, hatte das Wetter gedreht. Ein kräftiger Wind blies über das kleine Meer. Die Wellen trugen Schaumkronen, und die Sicht war schlecht. Wir nahmen Kontakt mit der Vermieterbasis auf. Man riet uns, einen zusätzlichen Tag in Waren zu warten. Schliesslich schafften wir es bei Windstärke 3 bis 4, in dem wir uns sorgfältig dem Rand der befahrbaren Zone entlang von einer grünen Boje zur typischerweise einen Kilometer entfernten nächsten Boje vortasteten.
Mutiger geworden, befuhren wir später die Müritz mit dem eigenen Schiff auch bei stärkerem Wind. Immer wieder tauchte der Bug der Solveig in die steilen Wellen ein, das Wasser spritzte hoch auf und wurde vom Wind manchmal bis aufs hintere Deck getragen. Wir waren daher froh zu wissen, dass der Vorbesitzer unseres Schiffes, Rollo Gebhard, es mit der Solveig VII bis ins Schwarze Meer geschafft hatte. Aber der Respekt gegenüber dem „kleinen Meer“ ist geblieben, und es würde uns nicht mehr in den Sinn kommen, ihm seinen stolzen Namen streitig zu machen.