Dieter Imboden und seine Frau sind wieder mit ihrem Schiff „Solveig VII“ auf Europas Flüssen unterwegs und führen für uns Tagebuch. Inzwischen sind sie in der Heimat von Theodor Fontane angekommen.
Wie kaum in einer andern Gegend Deutschlands stossen in der Mark Brandenburg die Widersprüche der deutschen Geschichte aufeinander. Die Menschen, mit denen man ins Gespräch kommt, die Städte, Dörfer und Schlösser, an denen unser Schiff vorbei zieht und die man vielleicht aus der Literatur kennt, tragen die Spuren der Vergangenheit gleichsam ins Gesicht geschrieben. Ortsnamen wie Sachsenhausen und Ravensbrück werden wohl noch für lange Zeit mit einem der düstersten Kapitel des 20. Jahrhunderts assoziiert bleiben.
Natürlich denken Literaten als erstes an Theodor Fontane, an seine berührenden Schilderungen in den ‚Wanderungen durch die Mark Brandenburg’, an seine Romane, den Stechlin zum Beispiel, einer der vielen Seen im nördlichen Brandenburg, wo die Zeit stille zu stehen scheint, an seine Gedichte, welche man zu hören meint, wenn man auf der Havel durch die vom Wasser gestaltete Landschaft gleitet:
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
Ein Birnbaum in seinem Garten stand.
Und kam die goldene Herbsteszeit
und die Birnen leuchteten weit und breit....
Erst viele Jahrzehnte später, als ich erstmals zwischen Potsdam und Havelberg unterwegs war, habe ich begriffen, was jene Zeilen, die wir in der Schule auswendig lernen mussten, tatsächlich bedeuten, jenes Havelland, das für uns Schüler damals einfach irgend eine seltsame Landschaft im hohen Norden war, und jenes Schloss Ribbeck, auf dem ein offenbar kauzig veranlagter Schlossherr seine Birnen der lokalen Jugend schenkt.
„Die Stätte ältester Kultur“
Fontane schreibt in den ‚Wanderungen durch die Mark Brandenburg’: „Die Havel (...) ist ein aparter Fluss; man könnte ihn seiner Form nach den norddeutschen oder den Flachland-Neckar nennen. Er beschreibt einen Halbkreis, kommt von Norden, und wer sich aus Kindertagen jener primitiven Schaukeln entsinnt, die aus einem Strick zwischen Apfelbäumen bestanden, der hat die geschwungene Linie vor sich, in der sich die Havel auf unseren Karten präsentiert. (...) Das Stückchen Erde, das sie umspannt (...) ist die Stätte ältester Kultur in diesen Landen. Hier entstanden, hart am Ufer des Flusses hin, die alten Bistümer Brandenburg und Havelberg. Und wie die älteste Kultur hier geboren wurde, so auch die neueste. Von Potsdam aus wurde Preussen aufgebaut, von Sanssouci durchleuchtet.“
Fontane reiste in unseren Gedanken mit uns, als wir, meine Frau und ich, vor kurzem vom Mittellandkanal kommend aus dem Elbe-Havel Kanal in den Plauer See hinausfuhren, zu unserer Linken, dort wo die Havel den See verlässt, das Plauer Schloss, dem man die Spuren der DDR noch immer ansieht, auf der andern Seite des Flusses der Margarethenhof mit seinem kleinen Herrschaftshaus, auch es in einem erbärmlichen Zustand. Beide Seiten, Schloss und Hof, hat Fontane in den ‚Wanderungen’ beschrieben. Im Margarethenhof pflegte er zu übernachten und mit dem Gutsbesitzer über die Welt zu philosophieren.
Keine Nostalgie für DDR-Zeiten
Am Ufer des Margarethenhofes hat der Wassersportverein Buckau-Fermersleben (benannt nach zwei Quartieren von Magdeburg) seinen Hafen. Ihn hatten wir vor Jahren zufällig entdeckt und Freundschaft geschlossen mit dem tüchtigen Hafenmeister Frank Weidt. Als ich ihn vom Mittellandkanal her anrief und fragte, ober der gute Platz an der Mauer noch frei sei, erkannte er, als ich ihm meinen Namen nannte, sofort den Besitzer der Solveig VII, obschon wir während mehr als vier Jahren nichts mehr von einander gehört hatten. „Selbstverständlich“, sagte er, der Platz sei für uns reserviert, er freue sich. Als wir schliesslich gegen fünf Uhr Abends nach einer langen, anstrengenden Fahrt vor der Hafeneinfahrt aufkreuzten, stand Frank mit einem Helfer bereits am Quai, half uns beim Festmachen und hiess uns mit einem Gratisbier auf dem kleinen Sitzplatz vor dem Büro des Hafenmeisters willkommen.
Und schon waren wir mitten in tiefsinnigen Gesprächen über das Leben und über Lebensgeschichten, welche vordergründig so gar nicht zu Fontanes Brandenburg zu passen schienen. Frank, in Magdeburg aufgewachsen, hatte nie ein Gymnasium besuchen dürfen. Seine Ausbildung als Fernsehtechniker hätte ihm zwar in der damaligen DDR eine sichere und relativ gut bezahlte berufliche Zukunft garantiert, denn das Reparieren der damals unerschwinglich teuren Fernsehapparate war gefragt. Mit der Wende und den viel billigeren Importfernsehern wurde sein Beruf quasi über Nacht obsolet, wie damals in der ex-DDR unzählige andere Berufe auch. Er schilderte uns, wie er sich immer wieder in neuen Jobs engagiert und unzählige Weiterbildungskurse besucht habe, dazwischen arbeitslos gewesen sei und mit psychischen Problemen gekämpft habe, bis er vor einigen Jahren das Amt des Hafenmeisters hätte übernehmen können, was ihm nun wenigstens während des Sommers eine sinnvolle Beschäftigung bieten würde. Doch keine Spur von Wehleidigkeit, keine Nostalgie für die früheren Zeiten, nein, dazu sei ihm die gewonnene Freiheit, auch wenn sie manchmal schutzlos mache, viel zu lieb.
Das fast schon historische Schiff
Frank, der ehemalige DDR-Facharbeiter, kannte nicht nur seinen Fontane und überhaupt die deutschen Klassiker, sondern auch die bewegte, nicht immer ruhmesreiche Geschichte seiner näheren Heimat. Auf das südliche Ufer des Plauersees deutend erzählte er uns, wie schon im 19. Jahrhundert, Fontane hin oder her, auf der Halbinsel von Kirchmöser eine Waffenschmiede für die preussische Armee gebaut worden sei, wie später das Dritte Reich die Fabriken übernommen und ausgebaut hätte und schliesslich, nach dem verlorenen Krieg die Russen alle verfügbaren Produktionsmittel demontiert und abtransportiert hätten. Die DDR hätte später das Gelände als Reparaturwerkstätte für die Reichsbahn genutzt, und jetzt gäbe es dort eine riesige Industriebrache und entsprechende Arbeitslosigkeit in der Umgebung.
Bald kamen andere Clubmitglieder von ihren Schiffen über den Steg zu uns. Vor allem die Segler kannten die wegen seines Vorbesitzers Rollo Gebhard berühmte Solveig VII. Der Hafenmeister hatte offenbar unsere bevorstehende Ankunft allgemein bekannt gemacht; alle wollen einen Blick auf das schon fast historische Schiff werfen, mit dem Rollo Gebhard vor bald zwanzig Jahren bis ins Kaspische Meer gereist war.
Zurück zu Fontanes Beschaulichkeit
Unterdessen war es dunkel geworden. Vor dem letzten Licht im Westen hob sich die Silhouette der alten, verrosteten Fachwerkbrücke ab, auf der bis vor wenigen Jahren die Strassenbahn aus der Stadt Brandenburg nach Plaue gefahren war. Ihre Tragfähigkeit tauge gerade noch für Fussgänger, hatte man uns gesagt, aber jetzt sammle man Geld, um sie erhalten und renovieren zu können. Auf der andern Flussseite erblickten wir die dunkle Fassade des alten Schlosses. Wir erinnerten uns, auf einem früheren Spaziergang durch den Schlosspark eine Büste von Fontane gesehen zu haben. Er hatte es in seinen Romanen geahnt, dass sich die Zeiten in der Mark Brandenburg ändern würden, aber auch seine Fantasie hätte sich wohl kaum ein Drittes Reich und eine DDR vorstellen können.
Im Gespräch mit den Leuten am Hafen schien es uns allerdings, dass sich die Geschichte der Mark Brandenburg, nach zwei Weltkriegen und einem missglückten Staatsmodell, wieder in einer glücklicheren Phase befindet. Man fühlt sich heute wieder erinnert an Fontanes Beschaulichkeit, an seine zwar nie überströmende, aber dafür umso tiefere Lebensfreude, wie sie uns zum Beispiel in jenen Zeilen entgegentritt, die er den Menschen aus Werder an der Havel gewidmet hat, welche auf den Berliner Märkten ihr begehrtes Obst verkauft haben:
Blaue Havel, gelber Sand,
Schwarzer Hut und braune Hand,
Herzen frisch und Luft gesund
Und Kirschen wie ein Mädchenmund.