Dieter Imboden und seine Frau sind wieder mit ihrem Boot „Solveig VII“ auf Europas Flüssen unterwegs und führen für uns Tagebuch.
Die Solveig VII liegt bei Kilometer 213 des Mittellandkanals, gegenüber der Abzweigung des Stichkanals, der zum Hafen von Salzgitter führt. Die Anlegestelle, eine rostig-rote Spundwand, ist ungefähr ein Kilometer lang. Ganze fünfzig Meter davon sind für Sportboote reserviert, der Rest gehört den „Grossen“.
Am Morgen haben wir im Hafen Seelze bei Hannover, wo die Solveig die letzten zwei Monate, meistens im Regen stehend, den norddeutschen Sommer verbracht hat, die Anker gelichtet und uns auf dem Mittellandkanal in Richtung Magdeburg und Berlin aufs Wasser gemacht. Nach ein paar Stunden im Nieselregen schien uns die simple Anlegestelle genau das Richtige für eine Übernachtung „im Freien“. Mit vollem Wassertank, guten Batterien und frisch gefüllten Vorratsluken lieben wir es, fern vom Hafengetümmel irgendwo im Niemandsland zu übernachten, dort wo die Frachtschiffe bei Einbruch der Dunkelheit anlegen und am nächsten Tag in der Morgendämmerung weiterfahren, was wir, in den warmen Betten liegend, höchstens im Halbschlaf durch das Knirschen der Seile wahrnehmen, wenn sich die Solveig im Schraubenwasser der abfahrenden Schiffe bewegt.
Hunde, Fischer, Jogger, Velofahrer
Gegen Abend verziehen sich die Regenwolken – sie werden am nächsten Morgen mit frischer Energie zurück sein, aber das wissen wir zum Glück noch nicht. Für kurze Momente zeigt sich sogar die Sonne. Das ist die Zeit, da aus den umliegenden Dörfern, die wir hinter den Bäumen höchstens ahnen können, die Menschen zum Kanalufer kommen. Einige führen ihre Hunde spazieren, andere absolvieren auf dem Treidelweg ihr Joggingprogramm oder lassen ihre Kinder auf Rollbrettern und Velos herumtoben. Auch die Feierabend-Fischer gibt es, welche nach der Arbeit noch für eine Stunde ihre neu erstandene Ausrüstung mit dem Auto zum Wasser bringen, argwöhnisch beäugt und belächelt von den „richtigen“ Fischern, welche schon seit sechs Uhr in der früh ihre Batterie von Ruten auf speziell konstruierten Ständern in Stellung gebracht haben, tagsüber auf ihren Feldstühlen vor sich hin dösen und erschrecken, wenn sich wider Erwarten doch einmal der Schwimmer einer Leine bewegen sollte.
Wo man auch immer auf Kanälen unterwegs ist, ob in Deutschland, Frankreich oder Holland, die Bilder und Stimmungen gleichen sich. Das ist auch hier nicht anders. Ich sitze an Deck, als sich ein Jogger nähert, begleitet von einer Velofahrerin, seine Frau, wie ich später erfahre. Die beiden plaudern angeregt; man hört ihre fröhlichen Stimmen schon von weitem übers Wasser. Der Jogger ist bereits an der Solveig vorbei, als er, immer im gleichen Laufrhythmus, rechts umkehrt macht, gegenüber unserem Schiff anhält und auf unsere Flagge zeigt, welche sich am Heck des Schiffes im Winde wiegt. „Schweizer Flagge“, stellt er nicht unfreundlich, eher fragend fest, „am Heck steht doch Papenburg, wie geht denn das zusammen?“ Ich erkläre ihm, dass in der Binnenschifffahrt nicht der Heimathafen, sondern die Nationalität des Eigners die Flagge bestimme, wir seien eben Schweizer.
Erinnerung an Walchwil
So gibt ein Wort das nächste, auch wenn sich der Leistungscomputer, der am Arm des Joggers befestigt ist, wegen der unplanmässigen Unterbrechung des Trainings bestimmt gerne beschwert hätte. Unterdessen ist auch die Velofahrerin zu unserem Liegeplatz zurückgekommen. Sie hätten vor Jahren mit den Kindern in der Schweiz gewohnt, im Kanton Zug, genauer in Walchwil, sagt die Frau. Sie hätten nur die besten Erinnerungen an diese Zeit.
Nach dem Grund des Schweizer Aufenthaltes befragt, erklärt der Jogger, der sich im Laufe des Gespräches in meiner Wahrnehmung immer mehr zu einem tüchtigen Berufsmann und Manager entwickelt, er sei noch immer für die gleiche deutsche Firma tätig wie damals in der Schweiz. Sein Job damals in der Schweiz sei schwierig gewesen, wie es jede Restrukturierung einer Firma sei, aber ihn hätte beeindruckt, wie konstruktiv alle Beteiligten, vom einfachen Angestellten bis zum Kadermitglied, an der Problemlösung mitgearbeitet hätten ...
Visionäre Planung des Mittellandkanals
Lob ertragen wir Schweizer bekanntlich nur begrenzt (auch wenn wir es, seien wir ehrlich, gerne in uns hineinschlürfen), und so war es an der Zeit, das Fragespiel umzukehren. Wie denn ein Schweizer Schiff nach Niedersachsen komme, wollen die beiden wissen. Das gibt mir Gelegenheit, nun meinerseits über den hochstehenden deutschen Wasserbau und über die visionäre Planung des Mittellandkanals zu schwärmen. Es gäbe in Hannover, Braunschweig oder Wolfsburg viele Menschen, die keine Ahnung hätten, dass ihre Städte über ein gut ausgebautes Kanalnetz direkt mit dem Meer verbunden seien, und zwar auch für grosse Frachtkähne mit Ladekapazitäten von über 2000 Tonnen.
Eigentlich bilde der 325 km lange Mittelkanal das Herzstück eines Systems von Wassertrassen, welches das Einzugsgebiet des Rheines mit demjenigen der Elbe und der Oder verbinde. Die Idee dafür sei schon Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert worden. Teile des Projektes, etwa die Verbindung vom Dortmund-Ems Kanal bis nach Hannover, seien während des Ersten Weltkrieges fertig gestellt worden, doch dann verhinderte der Zweite Weltkrieg und später die Teilung Deutschlands die Fertigstellung. Erst nach der Wiedervereinigung, nämlich im Jahre 2003, wurde durch den Bau einer 830 Meter langen Brücke über die Elbe bei Magdeburg der Mittellandkanal für Grossmotorschiffe vom Rhein bis zur Havel und nach Berlin befahrbar.
Eisenbahn statt Schiffe
Und das hätten auch die Schweizer gemerkt, welche schon seit je durch die Sehnsucht nach dem weiten Meer und nach den zum Meer führenden Flüssen getrieben worden seien – so doziert der Schweizer den Deutschen über ihr eigenes Land. – Das sei doch seltsam, erwidert der Jogger-Manager, ihn hätte das Schicksal aus den Weiten der norddeutschen Tiefebene an die Gestade des Zugersees geführt, und wir hätten umgekehrt ein Schiff, mit dem wir zwar mindestens durch zwanzig (oder mehr) europäische Länder fahren könnten, aber der See vor der eigenen Haustür, der Zuger- oder Zürichsee, bleibe uns verwehrt.
Und nach einer nachdenklichen Pause fügte er an: „Ihr Schweizer seid wohl nie ernsthaft an der Schiffbarkeit eurer Flüsse und Seen interessiert gewesen, dafür habt ihr Eisenbahnen gebaut wie kaum ein anderes Land in Europa.“ Sagte es, schaute kurz auf seinen Leistungscomputer am Arm, wünschte uns eine gute Reise, und weg war er, neben ihm seine Frau auf dem Velo. Das eheliche Gespräch über den Verlauf des Tages konnte weitergehen. – Und wir machten uns hinter die Vorbereitung des Nachtessens am völkerverbindenden Mittellandkanal.