Ihre Absicht ist, dass diese Kampagne auf den 25. Januar, den Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution, ihren Höhepunkt erreichen soll. Ihre Sprecher erklären, die Revolutionsgruppen hätten aus den bitteren Erfahrungen der letzten Monate gelernt. Einer ihrer Fehler sei gewesen, sich allzu sehr auf den Tahrir-Platz konzentriert zu haben. Dies habe dazu geführt, dass sie sich mit ihren Ideen nicht wirklich bei der Bevölkerung Gehör zu verschaffen vermochten. Auf dem Platz seien die Revolutionsgruppen immer mehr von der grossen Masse isoliert worden. Ihre Bewegung sei von der Regierung „provoziert“ worden. Anschliessend seien die Revolutionsgruppen Opfer von Repressionen von Seiten der Sicherheitskräfte, der Armee und der Polizei geworden.
Strassentheater für die Revolution
Die neue Kampagne soll dezentralisiert durchgeführt werden. Sie soll auch unter keinerlei zentraler und deshalb verwundbarer Leitung stehen. Jede Gruppe von Aktivisten soll sie an ihrem Ort auf eigene Initiative führen. Materialien dafür wurden vorbereitet und sollen landesweit auf allen Strassen und Plätzen verwendet werden. Den Auftakt der Aktion gaben Kurzfilme, die auf den Strassen gezeigt wurden. In ihnen wurden Bilddokumente der Strassenrepression an den "heissen" Tagen der letzten Monate den Aussagen der Sprecher der Armee, Generäle und Generalleutnants in Uniform einander gegenüber gestellt. Die Generäle sagen, das Volk und die Armee seien Brüder, "eine Hand" wie der Slogan lautet. Die Repressionsaufnahmen zeigen, wie diese Hand auf das Volk einschlägt.
Die Offiziere behaupten, "ausländische Saboteure" stünden hinter den Demonstrationen; die Bilder zeigen grosse Massen von einfachen Ägyptern, die demonstrieren. Die Offiziere verkünden, sie würden im Juli 2011 von der Macht zurücktreten, doch gegenwärtig sind sie noch immer da, und ob sie ihr neues Versprechen einhalten werden, im Juli 2012 ihre Macht einem gewählten Präsidenten zu übergeben, ist ungewiss.
Die Offiziere sagen, sie beschützten die Revolution. Doch die Bilder zeigen, wie sie die Revolutionsführer zusammenschlagen und dann vor Militärgerichte stellen. Die Offiziere sagen, Mubarak werde vor Gericht gestellt. Doch der Prozess zieht sich hin, ohne einen Abschluss zu finden. Die Offiziere sagen, sie respektierten die Menschenrechte, doch ihre Sicherheitstruppen brechen in die Lokale der Menschenrechtsorganisationen ein und nehmen deren Computer mit.
Nicht ohne Widerspruch der Bevölkerung
Die Filme werden hier und dort überfallartig auf den Strassen gezeigt. Sie sind begleitet von Plakaten und Handzetteln. Doch nicht alle Ägypter stimmen ihnen zu. An einigen Orten kam es zu spontanen Gegendemonstrationen, und es gibt viele unbeteiligte Zuschauer am Rande der Strassenaktionen, die eher kritisch auf das Geschehen blicken.
Die Aktivisten erwarten Widerspruch. Es ist ihnen bewusst, dass die Armee, welche mit dem SCAF-Militärrat die Herrschaft über den Staat für sich beansprucht, über die staatlichen Medien verfügt, die die grossen Massen der Ägypter erreichen. Sie wissen auch, dass die Armee in ihrem Lande als ein Symbol des Patriotismus gilt. Die Ägypter erinnern sich daran, dass diese Armee in drei grossen Kriegen und vielen kleineren Zusammenstössen mit den Israeli gekämpft hat und schwere Blutopfer erbrachte. Dass sie in all diesen Kämpfen nicht wirklich erfolgreich war, ja manchmal kläglich versagte, wird selten erwähnt und dürfte den meisten Ägyptern nicht voll bewusst sein. Man findet Entschuldigungen dafür. Die Übermacht des Feindes, der sich auf die Supermacht Amerika stützte, sei allzu gewaltig gewesen.
Ungebrochener Mythos der Armee
Der Mythos von der Armee als dem eigentlichen Rückgrat der Nation ist sechs Jahrzehnte lang intensiv gepflegt und verbreitet worden. Er fand gute Aufnahme bei den Ägyptern, weil in dem seit Jahrhunderten geknechteten Lande ein grosses Bedürfnis nach Selbstachtung besteht, das der Kult der Armee zu befriedigen vermochte. Von all dem können die Offiziere der Armeeführung im propagandistischen Ringen mit den Revolutionären profitieren. Die Revolutionäre berücksichtigen diese Sachlage, indem sie betonen, ihre Kampagne richte sich nicht gegen die Armee, nicht einmal gegen die Armeeführung, nur gegen die politische Rolle, die diese zu spielen suche.
Die Offiziere sehen "Agenten des Auslandes"
Die Offiziere versuchen, ihre eigene Propaganda zu verbreiten. Unentwegt behaupten sie, stets verstärkt durch die staatlichen Medien (Fernsehen und Radio inbegriffen), es gebe eine Verschwörung gegen Ägypten, die das Ausland anzettle. Diese Verschwörung hätte dazu geführt, dass auf den Strassen Tausende Menschen getötet oder verwundet wurden. Gelder und Agenten aus dem Ausland trieben die Verschwörer an.
Die gewaltsamen Durchsuchungen der Menschenrechtsorganisationen, die in der Tat oft Unterstützung aus den Vereinigten Staaten erhalten und die Beschlagnahmung ihrer Gelder und Dokumentationen wurde damit begründet, dass diese sich nicht an die gesetzlichen Vorschriften hielten, nach denen ägyptische Organisationen kein Geld aus dem Ausland entgegennehmen dürften.
Die Revolutionsgruppen fragen: „Und wie viel Geld aus Amerika erhält die Armee jedes Jahr? Ist das auch illegal?“
Die Trumpfkarte der Wahlen
Natürlich verweisen die Offiziere und ihre Verteidiger auch auf die
Wahlen, die ersten und einzigen, die je in Ägypten ehrlich
durchgeführt worden seien. Dies geschah in der Tat unter dem Schutz
und sichtbaren Einsatz der Armee. Der erste Wahlmarathon für eine
Verfassungsversammlung, die möglicherweise auch als ein Parlament
funktionieren wird, ist nun abgeschlossen. Die genauen Regeln stehen
noch immer nicht fest. Die endgültigen Wahlresultate sollen dieses
Wochenende bekannt gegeben werden. Doch in den grossen Zügen sind sie
längst bekannt. Die Muslimbrüder gewannen mit etwa 42 Prozent der Stimmen. Die Salafisten liegen auf Platz zwei mit knapp über 20 Prozent.
Die nicht-religiösen bürgerlichen und liberalen Parteien sind gespalten in drei Hauptgruppen. Jede von ihnen erhielt knapp 10 Prozent der Stimmen. Die restlichen Stimmen entfallen auf die Linksparteien und die wenigen Revolutionsgruppen, die sich an den Wahlen beteiligten. Sie alle erhielten weit unter fünf Prozent.
Noch mehr Wahlen
Am 23. Januar soll die Versammlung zusammentreten. Doch die Wahlen sind noch nicht vorbei. Ein Senat muss auch noch gewählt werden, und zwar nach dem gleichen langwierigen Wahlverfahren. Dieses soll Ende Januar und Anfang Februar stattfinden. Der Senat hat bloss beratende Funktion. Doch er ist festgeschrieben in der Verfassung Mubaraks, die von den herrschenden Militärs zu Beginn des vergangenen Jahres im wesentlichen übernommen und nur in einigen Paragraphen abgeändert worden war.
"Wessen" Revolution?
Doch zunächst, in der kommenden Woche wird die Schlacht um das Prestige der Armee geschlagen, welche die Revolutionsgruppen schon begonnen haben. Sie hoffen mit dieser Schlacht "ihre" Revolution zu retten. Die Armee sieht diese Revolution als die "ihrige" an. Schliesslich habe sie ja den Abgang Mubaraks herbeigeführt. "Niemand", so sagte Marschall Tantawi drohend, "kann die ägyptische Armee einschüchtern! "
Die realistischeren Strategen und Sprecher der neuen - und möglicherweise letzten - Offensive der Revolutionskräfte haben sich die folgenden Ziele gesetzt: Die Armeeführung soll gezwungen werden, die gefangenen Aktivisten frei zu lassen und künftig darauf zu verzichten, zivile Angeklagte vor Militärgerichte zu stellen. Die Armeechefs sollen den Ausnahmezustand aufheben. Sie sollen aufhören, auf die Medien Druck auszuüben. Die Armee soll gezwungen werden, ihre Macht so rasch wie möglich an zivile Behörden abzutreten und sich auf alle Fälle an den Termin zu halten, den sie sich neuerdings selbst gesetzt hat, den 1. Juli dieses Jahres.
Viel Vorhaben für kurze Monate
Dies ist ein überaus enger Zeitraum, wenn man bedenkt, dass nach dem nun revidierten Zeitplan der Armee vor diesem Termin eine Verfassung ausgearbeitet werden müsste, welche den Rahmen absteckt, innerhalb dessen der vor diesem Termin zu wählende Präsident zu wirken hätte. Von der Verfassung wird unter vielem anderen abhängen, ob der Präsident oder der Ministerpräsident Ägypten regieren wird, ob der Präsident auf ein oder zwei Mandate von je vier oder sechs Jahren beschränkt werden wird, oder ob er beliebig oft wiedergewählt werden kann. Weiter geht es auch darum, welchen Stellenwert der Armee und ihrer Führung in der ägyptischen Demokratie zugeteilt wird. Und: Welche Rolle nimmt der Islam in der Verfassung ein?
Angesichts der Tragweite solcher Vorschriften ist es unwahrscheinlich, dass in wenigen Monaten eine Verfassung vorliegen kann. Sie sollte aber im Hinblick auf die angestrebten Wahlen im Juli bald vorliegen. Die Wahlkampagne für den Präsidenten müsste mindestens sechs Wochen vor diesem Termin beginnen können.
Verschiebung oder Schnellverfassung?
In der Praxis stünde Ägypten wohl vor der Wahl, entweder den heute zugesagten Termin für die Präsidentenwahl und den Rücktritt der Militärs doch wieder hinauszuschieben, oder sich mit einer Schnellbleiche für die neue Verfassung zu begnügen. In diesem Fall bestünde die Gefahr, entscheidende Fragen offen zu lassen.
Die Revolutionäre vermuten, dass beide Alternativen den wirklichen Zielen der Militärs dienen dürften. Diese sind nach Einschätzung der Revolutionäre: möglichst viel Macht, Geld und Eigenständigkeit für "die Armee", genauer gesagt für die hohen Armeeoffiziere, die diese Armee befehligen. Sowohl eine Verlängerung ihrer gegenwärtigen absoluten Macht über Ägypten könnte diesen Zielen dienen, wie auch eine improvisierte Verfassung, die so unbestimmt ausfiele, dass sie nachträglich noch durch Druck der Armee zu ihren Gunsten geprägt oder deformiert werden könnte.
Neue Oberhäupter oder Umformung der Gesellschaft?
Die Revolutionäre befürchten weiter, dass "die Revolution" (das heisst für sie, eine Neuordnung der gesamten ägyptischen Gesellschaft, nicht nur eine Neubesetzung ihrer politischen Spitzen), unter derartigen Umständen nicht geschähe, sondern letztlich Opfer der konservativen Anliegen der Militärführer würde.
Ihre neue Kampagne zur Wiedergewinnung der Initiative zugunsten der Revolution soll ein Gegengewicht zu dieser Entwicklung darstellen. Sie, die die ägyptische Volksbewegung vor einem Jahr ausgelöst haben, werfen der Militärführung vor, ihre Revolution abwürgen zu wollen.
Die Muslimbrüder in der Mitte
Doch die Revolutionäre und ihre Gegenspieler, die Militärs, sind nicht die einzigen Kräfte in der ägyptischen Arena. Zwischen den beiden Extremen stehen die politischen Parteien, allen voran jene, die die Wahlen gewonnen hat: die Partei "Freiheit und Demokratie" der Muslimbrüder. Dazu kommen anderen Gruppierungen, die als Koalitionspartner der Mehrheitspartei in Betracht kommen.
Diese Parteien setzen auf die Legitimität, die aus ihrer Wahl hervorgeht. Sie können darauf pochen, dass sie nachweislich das verträten, was eine Mehrheit der Ägypter begehre. Sie hoffen, in die Lage zu kommen, diese Legitimität auszuspielen, sowohl gegenüber den Anliegen der Offiziere wie auch gegenüber jenen der Revolutionsgruppen.
Um diese Mittellage zu nützen, müssen sie ihre Mittelposition bewahren. Das heisst, sie benötigen sowohl die Armeekommandanten wie auch ihre Gegenspieler, die Revolutionäre. Wenn eine der beiden extremen Kräfte ausfiele, stünden sie entweder den Armeechefs oder den Revolutionsgruppen alleine gegenüber.
Ohne den Druck der Revolutionsaktivisten würden die Armeeoffiziere genau das tun, was ihnen passt; die Parteien wären machtlos gegen sie, es sei denn sie versuchten, ihrerseits eine Gegenkraft zu den herrschenden Offizieren zu bilden. Was bedeuten würde, sie würden zurückversetzt in eine ähnliche Lage wie sie sie vor der Revolution gegenüber dem Regime Mubaraks einnahmen: die einer Opposition, die vom Machthaber jederzeit zur illegalen Opposition erklärt werden kann.
Umgekehrt würde ein - sehr unwahrscheinlicher - totaler Sieg der Revolutionäre über die Armeeoffiziere die gewählten Parteien ebenso irrelevant machen. Die Revolutionäre wären dann in der Lage, ohne sie das Heft in die Hand zu nehmen.
Die Militärs nicht allzu sehr reizen!
Die heutigen Machtverhältnisse sind derart, dass die Mehrheitspartei guten Grund hat, die Armeeoffiziere mehr zu fürchten als die Revolutionäre. Sie sind zur Zeit "der Souverän" Ägyptens, eine Art kollektiven Pharaos. Wenn die Parteien bei den Militärs Ungnade fielen, müssten sie gewärtigen, von ihnen ausgeschaltet zu werden. Auch ihr Wahlsieg bietet keine Sicherheit gegen die Gefahr einer endgültigen Machtergreifung der Offiziere, die ja jetzt bereits die Macht innehaben. Sie müssten nur auf ihr Versprechen zurückkommen, diese Macht demnächst abzugeben. Vorwände, um dies zu begründen, fänden sie leicht. Zum Beispiel die wachsende wirtschaftliche Notlage Ägyptens oder die angebliche Gefahr, die von den Revolutionären ausgingen, welche in Wirklichkeit "Agenten des Auslandes" seien.
Gebrannte Kinder fürchten das Feuer Die Muslimbrüder, die vor 82 Jahren gegründet wurden, sind in ihrer Geschichte mehrmals grausam verfolgt worden und haben die Jahre als illegale oder halblegale Opposition verbracht. Sie sind sich deshalb den Gefahren, die ihnen als Wahlsieger drohen könnten, durchaus bewusst. Für sie geht es deshalb darum, dass die Armeechefs nicht über Gebühr gereizt werden.
Aber es ist auch in ihrem Interesse, dass die Revolutionäre nicht völlig verschwinden, denn ohne sie könnten die Militärs zur Tagesordnung übergehen. Solange aber die Revolutionäre Druck ausüben ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass die Militärs sich veranlasst sehen, den Weg der Demokratie nach den Wahlen weiter zu gehen.