Papst Pius II. war ein hochgebildeter Mann. Er plünderte einen Teil des Vatikan-Schatzes und baute sich damit seine eigene Stadt. Er nannte sie „Pienza“. Das war im 15. Jahrhundert.
Das flache Städtchen, ein Renaissance-Juwel, liegt inmitten der Toscana zwischen lieblichen Hügeln. Der Papst bezeichnete die Landschaft rund um Pienza als „die schönste Italiens“. Überall hier „schwebt der göttliche Geist“.
Von seinem Fenster in Pienza blickte der Papst auch auf ein anderes Städtchen: San Quirico d’Orcia. Dieses liegt vier Kilometer entfernt. Auch dort schwebt jetzt der göttliche Geist. Das zumindest vermuten viele.
San Quirico d’Orcia, von einer Stadtmauer umrahmt, zählt keine 3‘000 Einwohner. Der herausgeputzte Ort ist nicht von Touristen überlaufen wie Pienza oder die nahen Weinbau-Städte Montepulciano oder Montalcino. San Quirico im Orcia-Tal, das zum Weltkulturerbe der Unesco gehört, dämmert stolz vor sich hin.
“Soll ich ihnen den Ort zeigen? Fünf Euro“
Am letzten Sonntag war es Schluss damit. Die Parkplätze rund um das Städtchen sind belegt. Das gab es noch nie. Einheimische aus der Region strömen durch das Stadttor. Dort steht Marcello, ein etwa Zwölfjähriger. „Soll ich ihnen den Ort zeigen?“, fragt er die Ankommenden. „Fünf Euro“.
Bei Don Gianni Lanini, dem Pfarrer von San Quirico, schrillt ununterbrochen das Telefon. Immer mehr Leute kommen. Roberto Rappuoli, der Bürgermeister, versucht die Menge zu beruhigen. Schon sind die ersten Pilger da. Sie knien nieder und bekreuzigen sich.
Marcello hat zwei deutsche Touristen geangelt und führt sie in die Via Dante Alighieri, vor die Hausnummer 106. Dort, gegenüber dem Kindergarten, steht das Haus der Familie Fé.
Die Tochter der Familie, Loretta Fé, ist Anwältin. Vor drei Wochen begab sie sich nach Sarzana bei La Spezia. Dort liess sie von Don Filiberto, einem charismatischen Priester, eine kleine Madonna-Statue weihen. Die aus gemahlenem Marmor gepresste Madonnina ist 25 Zentimeter hoch und ein perfektes Abbild der berühmten Madonna von Medjugorje in der Herzegowina.
Nach der Weihe stellte Loretta Fé die kleine Statue in eine Nische der Hausmauer des Hauses Nummer 106. Die Madonna sollte ihre alte Mutter schützen, die im Haus allein mit einer Haushälterin wohnt.
Alle strömen in die Via Dante Alighieri
Am letzten Sonntag dann schwebt „der göttliche Geist“ hernieder. Die kleine Madonna hat Blut geweint. Oder so. Auf den Wangen zeigen sich zwei rote Flecken. Die Neuigkeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Leute rennen durch die engen Gassen und verbreiten die Botschaft. Man klopft die Nachbarn aus ihren Häusern. Alle strömen sie in die Via Dante Alighieri und wollen das Wunder bestaunten. Alte Leute trotzen der bissigen Bise, die durch die Strasse pfeift und beten.
Don Gianni Lanini ruft gleich Antonio Buonchristiani an, den Erzbischof im nahen Siena. Lange, lange sprechen sie miteinander. Dann tritt der Pfarrer vor die Menge und die Journalisten, die schon gekommen sind. Noch könne man nicht sagen, ob es sich um ein Wunder handle, sagt Lanini. „Ich bin nicht in der Lage, ein Urteil abzugeben. Was ich sehe, sind zwei kleine rote Flecken. Das kann auch ein schlechter Scherz sein“. Aber es könne auch „etwas Anderes“ sein. „Das müssen wir jetzt untersuchen“. Die Analyse werde ergeben, ob es sich wirklich um Blut handle. „Aber was für ein Blut?“, fragt der Pfarrer. „Tierisches Blut, menschliches Blut, und wenn ja, von welchem Menschen?“.
Weinende Madonnen gibt es auf der ganzen Welt und in Italien immer wieder. Am 2. Februar 1995 zum Beispiel weinte in Civitavecchia, nördlich von Rom, eine kleine Marienfigur im Garten der Familie Gregori. 14 Mal soll sie in den folgenden zehn Jahren blutige Tränen vergossen haben. Einmal sogar hat sie in Anwesenheit von Bischof Girolamo Grillo geweint. An manchen Sommertagen strömen jetzt bis zu 20‘000 Menschen in den Garten.
Am 11. Februar 1999 weinte eine Madonna in Vibo Valentia und am 18. April des letzten Jahres vergoss die Marien-Statue in der Chiesa di San Nicola al Lazzaretto in Mailand einige Tränen. Und jetzt also San Quirico d’Orcia
Italien mit Berlusconi ist ja wirklich zum Weinen
Das „Wunder“ hat sich inzwischen in der ganzen Region herumgesprochen. Immer mehr Leute fahren in das hübsche Städtchen. Doch sie sehen nichts mehr. Die Madonna wurde inzwischen aus ihrer Nische entfernt und ins Innere des Hauses gebracht. Dort steht sie unter strengster Observation. Wird sie wieder weinen? Die Schaulustigen sind enttäuscht, dass sie nichts zu sehen bekommen. An der Haustür hängt eine Notiz: „Nicht stören, es gibt nichts zu sehen“. Einige läuten trotzdem, doch niemand öffnet.
Nicht alle im Städtchen nehmen die Erscheinung ganz ernst. In der Bar an der Piazza della Libertà lachen einige Junge über das sogenannte Wunder. Ein älterer Herr meint: „Ein guter Trick, um in dieser flauen Touristenzeit einige Pilger und Schaulustige anzulocken“. Eine Frau scherzt und vermutet einen Lausbubenstreich: „Liegt die Via Dante Alighieri nicht auf dem Schulweg unserer Schuljungen?“. Ein Mann spottet: „Italien mit Berlusconi ist ja wirklich zum Weinen“. Eine ältere Frau ist ganz ernst: „Gott gibt uns einen Fingerzeig, dass es mit diesem Italien so nicht weitergeht“. Anzumerken ist hier, dass die Toscana eine traditionell „linke“ Region ist.
Vier ganze Seiten in „La Nazione“
Was erstaunt, ist die Publizität, die das Ereignis hervorruft. Die Tageszeitung „La Nazione“ berichtet auf vier vollen Seiten über das sogenannte Wunder. Zwei Tage später folgt erneut ein langer Artikel. Über die neuen, schlechten Wirtschaftszahlen, die jetzt publiziert wurden, verliert das Blatt nur wenige Zeilen. „La Nazione“ ist die meistgelesene Zeitung in der Toscana.
Und noch immer drängen Hunderte Gläubige und Schaulustige an den Ort des Geschehens. Das „Wunder“ ist hier Tagesgespräch. Italien hatte schon immer einen Hang zur Mystik und Dramatik, zu Leidenschaft und Seelenstürmen, zu Mythologie, Barock und Überschwänglichkeit. Das alles dient dazu, die Realität zu verdrängen. Man flüchtet trotz - oder gerade wegen - aller Widrigkeiten in eine Scheinwelt.
Teil der Operette
Da stirbt in Afghanistan der 37. Italiener, da zeigen die neuesten Wirtschaftszahlen, dass 29,4 Prozent der unter 24Jährigen ohne Arbeit sind, da kämpfen viele Rentner mit jedem Euro ums Überleben, da brennt Libyen – und die Zeitungen bringen über Seiten hinweg die Geschichte von zwei roten Flecken auf dem Gesicht einer Madonna. Die Operette verdrängt die Wirklichkeit.
In nördlichen Ländern hätte die roten Flecken – wenn schon – eine Anzeige wegen Vandalismus zur Folge. In Italien sind sie Teil der Operette von der schon Giacomo Leopardi sprach. „Man scherzt nicht mit Heiligen“, sagt heute der Bürgermeister.
Doch Don Gianni Lanini ist nicht der Mann, der schnell an ein Wunder glaubt. Wenn es ein schlechter Scherz ist, sagt er, dann ist der „Verursacher dieses Scherzes ein Dummkopf: ein cretino“.
Und die grössten cretini, sagen die Jungen in der Bar an der Piazza della Libertà, „sind jene, die daran glauben“. Noch ist Italien nicht verloren.