Sonntagabend war es wieder mal so weit. Auf dem Programm: eine dieser pompös inszenierten Fernsehansprachen des Staatspräsidenten, die man hierzulande gewöhnlich als „solennel“ bezeichnet – ein Wort, das etwas Feierliches, aber auch Grossspuriges in sich trägt. Punkt 20 Uhr, zu Beginn der Hauptnachrichtensendungen im französischen Fernsehen sprach der Präsident zum Volk aus der republikanisch-monarchischen Machtzentrale, dem Élyséepalast. Und dies zum vierten Mal seit Beginn der Coronakrise.
Gezielt geschürte Erwartungen
Schon fünf Tage zuvor war Macrons Auftritt angekündigt worden und fünf Tage lang haben Leitartikler und Experten fast pausenlos herumanalysiert und spekuliert, was der Präsident denn nun zu sagen haben könnte. Sie haben den Themenkatalog seiner kommenden Rede aufbereitet, bis hin zu den Mutmassungen, wann denn nun eine Regierungsumbildung stattfinden und der Premierminister eventuell geschasst werden könnte.
Für eine Entlassung von Regierungschef Édouard Philippe gibt es zwar eigentlich keinen Grund. Die Franzosen haben ihm für sein sachliches Krisenmanagement sogar, im Gegensatz zum Präsidenten, deutlich steigende Umfragewerte beschert. Doch so ist es nun einmal in dieser reichlich perversen Fünften Republik Frankreichs mit ihren zwei Köpfen an der Spitze des Staates.
Sollte der republikanische Monarch im Élyséepalast aus reichlich undurchsichtigen Gründen der Ansicht sein, es müsse ein neuer Premierminister her, so kann er den alten einfach entlassen und das dann als Symbol dafür verkaufen, dass er mit einer neuen Regierung und einem neuen Premierminister neuen Schwung in die verbleibenden zwei Jahre seiner präsidentiellen Amtszeit bringen werde. Man hat das in den letzten drei Jahrzehnten in diesem Land ein halbes Dutzend Mal erlebt. Gebracht hat es nie etwas und trotzdem spielt man das Spielchen weiter, auch noch im Jahr 2020, wo Macron bei seiner Wahl vor drei Jahren doch eine „neue Welt“ angekündigt hatte.
Pompöse Leere
Mit der Hysterie und der Kaffeesatzleserei der aufgeregten Medien entstand in der vergangenen Woche ein Klima, als würde an diesem Sonntag, dem 14. Juni, alles, aber auch wirklich alles von den Worten abhängen, die da aus dem Mund des Staatsoberhauptes sprudeln werden.
Gewiss, es waren dann sorgsam gewählte Worte, wie immer zu guten Formulierungen zusammengesetzt, und doch klangen sie im Mund von Emmanuel Macron zumindest diesmal, in diesem aufgebauschten Rahmen der präsidialen Ansprache hinter seinem Élyséebüro mit dem plätschernden Brunnen im Garten des Präsidentenpalastes im Hintergrund, so hohl und nichtssagend wie wohl noch nie, seit der im Grunde begnadete Rhetoriker Macron im Amt ist.
Wie sagte es zum Beispiel der Starökonom Thomas Piketty am nächsten Morgen im französischen Rundfunk? „Der Präsident hat so gut wie gar nichts gesagt. Ich bin erstaunt über diese Art der politischen Kommunikation, wo der Präsident auf keine einzige Frage zu antworten hat. Selbst Trump hat Journalisten vor sich, die ihm Fragen stellen. Und wir in Frankreich, wir warten hier und das ganze Land ist gehalten, um 20 Uhr brav vor dem Fernseher zu sitzen, um schliesslich nichts, aber wirklich nichts zu hören.“
Voll des Eigenlobs
Nicht nur, dass Macron absolut nichts Konkretes für die Zeit nach Corona und den ökonomischen Wiederaufbau, auf den er gleichzeitig die Franzosen einschwor, zu sagen hatte. Schlimmer noch: Der 20-minütige Auftritt des Präsidenten, gefüllt mit Allgemeinplätzen und Worthülsen, geriet auch noch zu einer geradezu peinlichen Selbstbeweihräucherung. Mit dem Tenor: ich und meine Regierung haben im Grunde Grossartiges geleistet, worauf wir alle zusammen stolz sein können.
Kaum einer der 25 Millionen Fernsehzuschauer, der sich da nicht am Ohr gekratzt und gefragt hätte, was die von Eigenlob triefenden Passagen in dieser Ansprache zu suchen hatten angesichts der beachtlichen Schwierigkeiten und Pannen, die Frankreichs Regierung und Verwaltung bei der Bewältigung der Krise in den letzten Monaten zu überstehen hatten. Was sich wohl die Hundertausenden Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte in Frankreichs Krankenhäusern und Seniorenheimen bei diesen selbstgenügsamen Worten des Präsidenten gedacht haben mögen? Sie, die über Wochen hinweg ohne ausreichendes Schutzmaterial ihr Arbeit verrichten mussten.
Immerhin gestand Emmanuel Macron zwischen den Zeilen ein, dass Frankreichs bürokratischer Zentralismus in dieser Krise deutliche Schwächen gezeigt, wenn nicht versagt hat, indem er vage ankündigte, man müsse künftig deutlich mehr Kompetenzen und Verantwortung auf die Ebene der Départements und Gemeinden übertragen.
Für das wenige Konkrete, das Emmanuel Macron an diesem Sonntag zu sagen hatte, wäre aber wahrlich kein präsidialer Auftritt dieser Art nötig gewesen. Dass nun auch Bars und Restaurants in der Region Paris wieder normal öffnen oder Senioren in Altersheimen wieder besucht werden dürfen, dass jeder wieder, wann er will, die Pariser Metros und S-Bahnen benutzen kann: all dies und andere Details hätte man auch den Gesundheitsminister oder die Regierungssprecherin bekanntgeben lassen oder einfach ein Communiqué veröffentlichen können.
Leerläufe und Absurditäten
Dasselbe gilt für die wohl unsinnigste Massnahme, die Macron ankündigte und für die er umgehend Kritik und Hohn en masse ernten sollte: Ab 22. Juni, so der Präsident, herrsche wieder Schulpflicht. Alle Schüler bis zum Ende der Mittelstufe hätten wieder in den Klassenzimmern zu erscheinen. Man rieb sich die Augen. Denn erstens weiss jedes Kind, dass dies unter Einhaltung der Sicherheitsabstände unmöglich ist und zweitens beginnen in ganz Frankreich die Sommerferien bereits am 4. Juli! Wozu das ganze Theater?
Zwei Mal fünf Tage Chaos, Ungewissheit und Gezänk an zehntausenden Vor-, Grund - und Mittelschulen des Landes und sicherlich kein normaler Schulbetrieb, zumal häufig die Schulbücher bereits zurückgegeben wurden. Und alles nur, weil der Herr Präsident das so beschlossen hat?
Bei seiner vorletzten Ansprache am 13. April hatte Emmanuel Macron den Satz fallen lassen, dass sich Frankreich angesichts der Krise neu erfinden müsse und er, der Präsident selbst, zu allererst. Davon war bei seinem Fernsehauftritt an diesem Sonntag rein gar nichts zu spüren. Im Grunde ist eine derartige Inszenierung einer modernen Demokratie unwürdig.
Das vielleicht Skurrilste, ja Entlarvendste bei dieser Fernsehansprache, bei der im Grunde ja nichts zu sagen war, bestand darin, dass der Präsident höchtspersönlich gleich seinen nächsten Auftritt ankündigte, mit dem Tonfall: Anfang Juli komme ich wieder und dann sage ich euch wirklich, wo es langgehen soll.
Von einer Krise in die nächste
Emmanuel Macron bleiben in dieser Amtszeit noch 18 Monate, bevor der Wahlkampf für die nächste Präsidentschaft im Mai 2022 beginnen wird. Und diese 18 Monate stehen wahrlich unter keinem guten Stern, zumal Macron ziemlich angeschlagen und ausgelaugt ins Rennen geht.
Seit Ende 2018 hatte der Präsident es zunächst mit der Gelbwestenbewegung zu tun, die wie aus dem Nichts entstanden war und den jungen, mit unendlich vielen Vorschusslorbeeren überschütteten Macron sehr rüde von seinem Podest heruntergeholt hatte. Der selbsternannte Jupiter, der Frankreich eine neue Welt, zahlreiche Reformen und ein anderes demokratisches Miteinander versprochen hatte, musste sich plötzlich bescheidener geben.
Kaum waren diese während Monaten andauernden, von viel Gewalt begleiteten Gelbwestenproteste zurückgegangen, hatte Macrons Versuch einer Rentenreform eine historisch lange Streikbewegung in den öffentlichen Verkehrsbetrieben Frankreichs ausgelöst. Und kaum war diese Bewegung abgeebbt, purzelte das Land direkt in die Coronakrise. Mit anderen Worten: Frankreich ist unter Macron seit 18 Monaten praktisch nie zur Ruhe gekommen.
Und wenn nicht alles täuscht, steht Präsident Macron nun vor den Krisen Nummer 4 und 5.
Krise Nummer 4: Rassismus bei der Polizei
Die Debatte über Rassismus bei den Ordnungskräften und Polizeigewalt gegen Farbige ist gegen Ende der Coronakrise unerwartet heftig aus den USA nach Frankreich herübergeschwappt.
Am 2. Juni, ohne dass selbst die französischen Nachrichtendienste aufmerksam geworden wären, demonstrierten wie aus dem Nichts 20’000 überwiegend farbige Franzosen gegen Rassismus bei der französischen Polizei. Nur über die sozialen Netzwerke mobilisiert, erschienen sie unangemeldet und trotz Corona-Beschränkungen vor dem neuen Gerichtsgebäude am nordwestlichen Rand der französischen Hauptstadt.
Diese Demonstration war für die Regierung und das Establishment der Hauptstadt ein echter Schock. Plötzlich und unerwartet stand die ansonsten weitgehend ignorierte Vorstadtbevölkerung massiv innerhalb der berühmt-berüchtigten Ringautobahn, welche die Metropole von den Vorstädten trennt. Und sie stand vor einem Symbol der staatlichen Ordnung, um gegen Gewalttätigkeit und Rassimus auch bei der französischen Polizei zu protestieren.
Vor vier Jahren war im nördlichen Pariser Vorort Beaumont-sur-Oise der 24-jährige farbige Adama Traoré nach einer Festnahme durch die Polizei und einem Transport zum nächsten Polizeikommissariat zu Tode gekommen. Durch Ersticken, sagt seit vier Jahren die Familie des Opfers; genauso wie George Floyd in Minneapolis, sagt sie heute. Seit vier Jahren ist der Fall nicht geklärt.
Die Familie von Adama Traoré hatte nach dessen Tod einen Verein gegründet, „Justice pour Adama“, der im Lauf der letzten vier Jahre zu einem neuen, militanten und kompromisslosen Sprachrohr der französischen Banlieues geworden ist und jetzt auch der Initiator dieser Demonstration vom 2. Juni war.
Auch wenn die Verhältnisse bei der amerikanischen und der französischen Polizei nicht vergleichbar sind – tausend von der Polizei Erschossene pro Jahr in den USA, zwanzig in Frankreich – ist das immer wieder unter den Teppich gekehrte Thema des Rassismus bei der französischen Polizei hierzulande plötzlich in der breiten Öffentlichkeit, ebenso wie das seit zwanzig Jahren völlig zerrüttete Verhältnis zwischen der farbigen Bevölkerung in Frankreichs Bannmeilen und den Ordnungskräften. Rüde Polizeikontrollen von Farbigen und Schikanen auf der einen Seite. Jugendliche, welche die Polizei in Hinterhalte locken und sie mit Steinen und Feuerwerkskörpern bewerfen auf der anderen Seite.
Innenminister im Fettnapf
Präsident Macron, der sich zu diesem heiklen Thema in seiner Fernsehansprache so gut wie gar nicht geäussert hat, hatte zuvor seinen Innenminister beauftragt, zum Problem des Rassismus bei der Polizei Stellung zu nehmen. Und der leistete sich bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz sofort einen monumentalen Fehltritt, indem er verkündete, Polizisten würden in Zukunft vom Dienst suspendiert, wenn ein „gesicherter Verdacht“ auf rassistische Äusserungen oder Handlungen bestehe.
Die Folge war eine regelrechte Explosion des Unmuts bei Frankreichs Ordnungskräften, für die plötzlich die Unschuldsvermutung nicht mehr gelten sollte. Einige Hundert demonstrierten umgehend auf den Champs Élysées, stellten sich anderswo in Reih und Glied auf und warfen ihre Handschellen auf die Strasse oder klemmten sie an Gitter vor Gerichtsgebäuden. Polizigewerkschafter riefen dazu auf, einfach keine Verhaftungen mehr vorzunehmen.
Frankreichs seit 2015 überstrapazierte und erschöpfte Polizei – Terrorismus, Gelbwestenbewegung, Streiks gegen Rentenreform – ist mehr als empört darüber, plötzlich generell als rassistisch abgestempelt zu werden. Unser Chef, der Innenminister, hat uns fallen lassen, so der Tenor. Ein katastrophales Klima vor allem auch mit Blick auf die kommenden Monate. Dann nämlich, wenn die sozialen Auswirkungen der Coronakrise wirklich zu spüren sein und mit grosser Wahrscheinlichkeit zu neuen Protestbewegungen führen werden. Präsident und Regierung werden dann erneut auf die Polizeikräfte angewiesen sein, auf Polizeikräfte, die sich von der Politik verraten fühlen.
Krise Nummer 5: drohender Niedergang
Es ist, als rumore es unter der Oberfläche gewaltig in diesem Land und man hat fast den Eindruck, als habe die Exekutive Angst vor dem, was da nun kommen könnte, wenn spätestens gegen Ende des Jahres 2020 das ganze Ausmass der sozialen und ökonomischen Folgen der Coronakrise deutlich wird. Die Zahl der Arbeitslosen dürfte um bis zu 800’000 zunehmen und sich der Viermillionen-Grenze annähern. Betriebsschliessungen werden rasant zunehmen. Nur ein Beispiel: In Paris ist davon die Rede, dass ein Fünftel bis ein Drittel der Bars und Restaurants das Jahresende nicht überleben könnten.
Eine andere Sorge von Präsident und Regierung: im Herbst drängen rund 700’000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Der Generation von 18- bis 25-Jährigen wurde durch das Coronavirus besonders viel zugemutet; sie kommt zutiefst verunsichert aus dieser Krise heraus. Für sie haben sich zehntausendfach Pläne zerschlagen. Da sind Praktika und Ersteinstellungen, die es nicht geben wird, Examen oder die berühmten Concours zur Aufnahme an die Eliteschulen, die nur unter chaotischen Bedingungen oder gar nicht stattfinden, Auslandsaufenthalte, die nicht angetreten werden können. „Wir dürfen unsere Jugend nicht verlieren“, ist ein dieser Tage häufig zitierter Satz des Staatspräsidenten, der durchaus eine gewisse Angst zum Ausdruck bringt. Vor schwer zu kontrollierenden Schüler- und Studentenprotesten fürchten sich Regierungen in Paris traditionell am meisten.
Ganz zu schweigen von der finanziellen Situation des Landes. Um die wirtschaftlich-sozialen Folgen der Coronakrise einigermassen abzufedern, hat Frankreich so viel Geld aufgenommen, dass seine Gesamtverschuldung fast übert Nacht von knapp 100 auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen ist.
Wie gesagt: die kommenden Monate stehen für Frankreichs Staatspräsidenten wahrlich unter keinem guten Stern. Und im Hintergrund lauert, ohne bisher allzu viel Lärm zu machen, mit Blick auf die Wahlen 2022 eine gewisse Marine Le Pen.