Joel Meyerowitz ist einer der berühmtesten Fotografen unserer Zeit, und wenn er Ratschläge gibt, lohnt es sich allemal, hinzuhören. In einem schmalen Band hat er eine Auswahl seiner Bilder mit einigen für ihn selbst zentralen Einsichten und Überlegungen zusammengestellt.
Es mag eine gewisse Selbststilisierung sein, und wenn, ist sie jedenfalls gut gelungen: In seinem ursprünglichen Beruf war Joel Meyerowitz Art Director einer kleinen Agentur in New York. Eines Tages benötigte sie Bilder für eine Broschüre, und der Chef beauftragte dafür einen Fotografen. Meyerowitz schaute ihm bei der Arbeit zu, wusste aber gar nicht, wer dieser Fotograf war. «Doch in diesen anderthalb Stunden vollbrachte er so erstaunliche Dinge, dass die Welt für mich eine andere war, als ich hinterher die Strasse betrat. Jede Geste, jedes Ereignis auf der Strasse hatte plötzlich eine Bedeutung.»
Der «entscheidende Augenblick»
Auslöser für dieser Art eines Bekehrungserlebnisses war Robert Frank. Die Pointe dieser Geschichte besteht darin, dass für Joel Meyerowitz das Geheimnis grosser Fotografie nicht in der souveränen Beherrschung der Technik liegt, sondern in der Art und Weise, wie der Fotograf der Welt begegnet, die für ihn zum Motiv werden soll. Insofern ist die Fotografie für ihn die intensivste Form der Selbsterfahrung. Dieser Gedanke zieht sich durch das gesamte Buch.
Für Meyerowitz ist die Strasse der herausragende Ort der Fotografie. Hier geschieht ständig ungeheuer viel, und es kommt darauf an, dafür ein Sensorium zu entwickeln. Dazu gehört zum Beispiel die Fähigkeit, vorherzusehen, was in den nächsten Momenten in einer gegebenen Konstellation geschehen wird. Die Kunst des Fotografen besteht darin, diesen unwiederbringlich Moment zu erfassen. Henri Cartier-Bresson sprach in diesem Zusammenhang vom «entscheidenden Augenblick». Genau das meint auch Meyerowitz, geht dann aber darüber hinaus. Im Laufe seiner eigenen künstlerischen Entwicklung als Fotograf hat er sein Augenmerk auf kompositorische Merkmale verlagert, so dass nicht mehr der Augenblick, sondern die Konstellation einer Vielzahl von Bildelementen den Reiz eines Bildes ausmacht.
Die Komposition eines Bildes wird wesentlich durch die Art des Sehens beeinflusst. Der eine schaut mehr in die Breite, der andere mehr in die Ferne. Entsprechend wird jeder das passende Objektiv wählen. Meyerowitz fing mit einem 50-mm-Objektiv an zu fotografieren, was aber überhaupt nicht seinem subjektiven Blickwinkel entsprach. Mit 35 mm hatte er das passende Objektiv gefunden. Und er empfiehlt, bei einer Brennweite zu bleiben, also nicht ständig Objektive zu wechseln oder gar zu zoomen. Man müsse, wenn das Motiv noch nicht ganz zur Brennweite passe, sich eben bewegen und andere Blickwinkel suchen. Das ist eine viel aktivere Bildgestaltung als das Drehen am Zoom.
Schwarzweiss oder Farbe
Neben der Frage der Wahl des Objektivs steht jeder Fotograf vor der Entscheidung, ob er Schwarzweiss oder in Farbe fotografieren will. Mit der digitalen Fotografie stellt sich das Problem heutzutage etwas anders als früher, als vorab eine entsprechende Filmwahl getroffen werden musste oder zwei Kameras verwendet wurden. Heute kann man im Nachhinein entscheiden, aber man sollte sich das Ganze gut überlegen: «Fragen Sie sich, was Sie sagen wollen. Wenn Ihnen die grafische Welt wichtig ist, wählen Sie Schwarzweiss.» Graustufen geben die Welt völlig anders wieder als Farben. «Es wirkt fast, als wäre das zwei Sprachen, die ihre Botschaften mit unterschiedlichen visuellen Darstellungen kommunizieren.» Meyerowitz selbst legt sich nicht auf eine «Sprache» fest, sondern entscheidet sich von Fall zu Fall.
Entscheidend ist für ihn die Person des Fotografen. Die Kamera ist nur ein Instrument, die seine Begegnung mit der Welt intensiviert. Während er fotografiert, schärft er seine Sinne, und wenn er die Bilder nachträglich auswertet und bearbeitet, erfährt er viel über seine spezifische Sichtweise. Dabei spielt die direkte Begegnung mit anderen Menschen eine herausragende Rolle. Ist jemand in der Lage, zu anderen Personen eine vertrauensvolle und offene Begegnung aufzubauen, und sei es nur für Sekunden? In diesen Begegnungen sieht Meyerowitz ein «Mysterium».
Dieses schmale Buch bietet eine Art Summa von Joel Meyerowitz, der mittlerweile deutlich über achtzig ist. Es enthält viele Anregungen zur Auseinandersetzung mit der Frage, was das Fotografieren über den Fotografen aussagt und wie er dabei immer mehr zu sich selbst finden kann.
Joel Meyerowitz, Die Lizenz zu sehen, Midas Verlag, Zürich 2021. 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Broschiert, ca. 32 SFR