Joel Meyerowitz ist gerade 80 geworden, und c/o Berlin hat ihm in diesem Frühjahr eine umfassende Retrospektive gewidmet. Parallel dazu ist ein umfangreicher Bildband erschienen, den man nur als Glücksfall bezeichnen kann. Die Fotos sind betörend. Meyerowitz hat den verschiedenen Bildserien Kommentare beigefügt, die weit mehr liefern als nützliche Orts-, Zeit- und Inhaltsangaben. Bei den Kommentaren handelt es sich vielmehr um kurze Essays, in denen Meyerowitz dem nachspürt, was in seinem Inneren beim Fotografieren vorgeht.
Fotografisches Zwiegespräch
Die Bilder fesseln den Betrachter mit ihrem „magischen Glanz“, wie der Kenner Freddy Langer vor kurzem in der FAZ schrieb. Da muss ein ganz spezielles Sensorium eine Rolle spielen, das auch den Bildern von Wim Wenders den unverwechselbaren Zauber verleiht.
Folgt man seinen Beschreibungen, wie er sich auf die Menschen und Orte einstellt, so erkennt man, dass seine Fotografie nicht nur ein Ausdrucksmittel, sondern ganz wesentlich ein Zwiegespräch ist. Meyerowitz erspürt, was in den Dingen, in ihren Formen und Beziehungen zueinander oder eben auch in den Menschen noch verborgen ist und zum Ausdruck kommen will. Es geht um weit mehr als nur darum, attraktive Perspektiven und das optimale Licht zu erhaschen.
Kräfte spüren
Ganz am Anfang des Bandes schildert Joel Meyerowitz, wie er 1977 den Auftrag hatte, St. Louis, Missouri, zu fotografieren. Er durchwanderte die Stadt und plötzlich spürte er an bestimmten Orten die Kräfte, die von ihnen ausgehen. Er hätte, so spitzt er zu, am liebsten blind fotografiert, was für einen Fotografen eine ziemlich verrückte Idee sei. Er resümiert: „Being an artist is really about consciousness.“
Man könnte diese Art der Fotografie eher meditativ nennen und die Frage stellen, wie sie sich zur Strassenfotografie verhält, mit der Meyerowitz berühmt geworden ist. Hierbei kommt es darauf an, blitzartig Situationen zu erfassen. Immer wieder stellt Meyerowitz diese Frage. Zweifellos handelt es ich um zwei unterschiedliche Arten der Fotografie, aber im Kern geht es auch auf der Strasse darum, das Wesentliche eines Geschehens oder einer Situation intuitiv zu erfassen. Nur wer zum Wesentlichen in Resonanz steht, erkennt es blitzartig in der einmaligen und flüchtigen Konstellation von Menschen und Gruppen. Nicht umsonst sprach Meyerowitz mit seinem Witz und seiner Ironie davon, dass seine Strassenfotos doch im Grunde Selbstporträts seien.
Die Grossformatkamera
Für die Strassenfotografie eignet sich die handliche und schnelle Kleinbildkamera wie die von Meyerowitz benutzte Leica. Sie bietet zudem den Vorteil, dass sich der Fotograf quasi unsichtbar machen kann. Er arbeitet weitgehend unbemerkt.
Eine für ihn selbst unerwartete Entdeckung ist nun die „View Camera“, also eine grossformatige Kamera mit einem Balgenauszug für das Objektiv. Aus Lust und Neugier hatte Meyerowitz in den 70er Jahren eine solche Grossbildkamera gekauft und im Urlaub ausprobiert. Wie in alten Zeiten wird sie auf ein Stativ montiert, und der Fotograf schaut unter einem kleinen Tuch auf die Mattscheibe, auf der das Bild natürlich auf dem Kopf steht und seitenverkehrt ist.
Das ist eine völlig andere Art des Arbeitens. Sie erfordert Zeit, und der Fotograf setzt sich in einer anderen Weise mit seinen Motiven auseinander. Dazu macht Meyerowitz lesenswerte Anmerkungen.
Porträts im Dialog
Im Laufe der Zeit hat Joel Meyerowitz auch Porträts mit der Grossbildkamera gemacht. Das ist nicht ohne Witz, denn er beschreibt sich selbst als eher scheuen Menschen, dem es schwerfällt, spontan mittels der Kamera zu anderen Menschen in Beziehung zu treten. Als Strassenfotograf konnte er dieses Problem umgehen, indem er oft gar nicht bemerkt wurde.
Meyerowitz beschreibt, wie völlig anders die Situation mit einem sperrigen und anspruchsvoll zu bedienenden Aufnahmegerät ist. Da wundern sich manche Leute, was er da überhaupt treibt, und stellen Fragen. Und wenn er von ihnen Porträts machen will, muss er ihnen erklären, warum er dieses umständliche Verfahren gewählt hat.
Mit seinen Kommentaren gibt Meyerowtiz nicht nur Einblicke in seine Arbeitsweise, sondern er erzählt auch von sich selbst. Man begegnet dadurch nicht nur grossartigen Fotografien, sondern auch einem höchst interessanten Menschen. Meyerowitz berührt doppelt: durch Bild und Text. Er erzählt ganz unprätentiös von seinem Ringen und wie er sich selbst dabei findet – der Titel des Bandes ist klug gewählt.
9/11
Wie spannungsgeladen und vielschichtig die Bilder zusammengestellt sind, machen schon die ersten beiden Kapitel deutlich. Die ersten Fotos sind Stillleben, die er in der Toskana angefertigt hat. Das hätte man nicht unbedingt erwartet. Die begleitenden Texte erklären, wie diese Stillleben zustande gekommen sind, und werfen damit einen ersten Blick auf die inneren Schaffensprozesse des Fotografen.
Das zweite Kapitel handelt von 9/11 in New York. Meyerowitz ist mit dieser Stadt eng verbunden und hat im West Village eine Wohnung. Als der Anschlag geschah, war er gerade am Cape Cod in Chatham und genoss beim Fotografieren den Frieden der Natur in vollen Zügen. Dann rief seine Frau an. Fast ein Jahr lang ging er wieder und wieder zum Ground Zero und schuf dort Bilder von den zerstörten Monumenten und den Menschen, die sich darin bewegten. Trauerarbeit.
Das Buch hat zehn Kapitel, denen eine „Coda“ angefügt ist. In dieser Coda erzählt Meyerowitz, dass er 2016 einen grossen Teil seines Fotoarchivs verkauft habe. Beim Durchforsten sei er auf ein Stillleben von 1964 gestossen. Dieses bildet den Schluss der Bilder. Sorgfältig sind die abgebildeten Gegenstände benannt. Angefügt ist die Bemerkung: „What surprises me is how close they are to my impulses for arranging things now.“ Und somit wären wir wieder beim Anfang des Bandes.
Joel Meyerowitz: Where I find myself. A Lifetime Retrospective. 352 Seiten, Laurence King Publishing Ltd, London 2018.