In Lauenen ist morgens nicht viel los. Das kleine Dorf oberhalb von Gstaad liegt ruhig in der Morgensonne. Eine Kreissäge ist zu hören, das Gebell der Hunde und das abfahrende Postauto. Ein Stück weiter hinten im Tal, vor den Felswänden von Follhore, Mutthore und Spitzhore liegt der Lauenen-See. Wir werden ihn am Nachmittag mit den Skiern erreichen.
Das Aufziehen der Felle
Der Lift nimmt um zehn Uhr den Betrieb auf, aber die Piste ist leer, die meisten Touristen sitzen noch bei Café und Gipfeli. Es ist ein kleiner Lift, nur 200 Höhenmeter ziehen uns die Bügel den Hang hinauf.
Das Aufziehen der Felle ist Handwerk und Präzision. Die alten Hasen wischen die Schneereste von der Sohle des Skis, bevor sie mit einer gleichmässigen Handbewegung schnell und sicher das Fell feststreichen. Die weniger Geübten kämpfen mit dem Material, bleiben mit dem Ärmel am Klebefell hängen, der Wind weht ihnen die Plastikfolie weg, die Handschuhe fallen in den Schnee… Auch bei Skitouren steckt der Teufel im Detail.
Der Aufstieg geht über flache nordseitige Hänge hinauf zu einem kleinen Sattel namens Chrine. Im Wechsel von warmen Sonnentagen und kalten Nächten hat sich der Schnee gesetzt, die Schichten sind gut gebunden. An den sonnigen Flecken hat sich eine dünne Schicht Bruchharsch gebildet, im Wald dagegen und in den schattigen Nordmulden gehen wir weich und federnd durch tiefen Pulverschnee.
Harmonisierungseffekt und andere Faktoren
Man fragt sich immer wieder, wie das unbeschreibliche Hochgefühl zu erklären ist, das einen befällt, wenn man die erste Spur in unberührte Schneelandschaften legt. Da ist zum einen das Körpergefühl des sanften rhythmischen Gleitens. Und nur noch das. Das einfache Gehen auf ein Ziel hin erzeugt ein vitales Ganzheitsgefühl. „Harmonisierungseffekt“ nennt es der Sozialwissenschafter und Alpinist Ulrich Aufmuth: „Mein Ich ist für den Moment ausschliesslich identisch mit dem Arbeiten meines Körpers und meiner Sinne. Das andere, das reflektierende Ich, der Sitz von Zweifel und Disharmonie, hat solange nichts zu vermelden. Es verstummt im Feuerwerk der zusammenklingenden körperlichen Empfindungen.“
Sicher spielt auch die Lust am Abenteuer eine Rolle. Hineingehen in die Schneelandschaft als Pionier, wissend dass die Ski tragen, dass man nicht versinkt im Tiefschnee, dass die Felle greifen, dass man selbst den Weg sucht. Einen Weg suchen zwischen Felsblöcken und verschneiten Föhren, das ist Eroberung und Inbesitznahme von Terra incognita. Die Freude des Kindes, das sich die Welt aneignet.
Genuss statt Leistung
Vom Sattel der Chrine geht es weiter zwischen alten Fichten über einen sonnigen Rücken, zur rechten geht der Blick auf die Gipfel des Waadtlandes, zur linken liegen Lenk und das Berner Oberland. Der Aufstieg ist ein Genuss. Er hat nichts vom Kämpferischen, Qualvollen einer Patrouille des Glaciers. Keine Stoppuhr läuft, und die Performance, die vollbracht wird, ist nicht mehr und nicht weniger als das ruhige Atmen und das Wohlgefühl des gleichmässigen Pulsschlages.
Für Skitouren muss man viel Zeit haben. Schöne Plätze suchen und entdecken. Anhalten können, um einen uralte Fichte zu betrachten, die der Blitz geköpft hat. Eine Hasenspur begutachten. Oder ein paar Haarbüschel und Blutstropfen im Schnee, wo der Adler seine Beute geschlagen hat.
Eine runde Kuppe über der Waldgrenze ist unser Ziel: die Walliser Wispile. Kein grosser Gipfel sondern eine gemütliche, runde Schneekuppe. Aussichtpunkt und Frühstücksplatz. Wichtig ist das Einrichten eines sonnigen, windgeschützten Sitzplatzes. Noch wichtiger sind dann die Köstlichkeiten, die aus dem Rucksack geholt werden: ein Stück Schinkenspeck, Brot und Chäs, Äpfel und heisser Tee. Einer unserer Begleiter ist Winzer und zieht gar eine kleine Flasche seines neuen Pinot Noir hervor.
Einfache Vorgänge wie Essen und Trinken können auf einer Skitour die Bedeutung zurückgewinnen, die sie im Alltag unserer Fast-Food-Gesellschaft verloren haben. Wir spüren mit einem Mal, was Hunger und Durst ist, das Essen wird zum festlichen Ritual. Wir erinnern uns, dass wir einen Körper haben.
Die Weisse Linie ziehen
Parat zur Abfahrt. Vom Gipfel geht der Blick hinab zum Lauenensee. Die Nordosthänge liegen gleissend in der flachen Sonne des frühen Nachmittags, endlose blau-weisse Seidentücher, aufgespannt zwischen einzelnen Baumgruppen. Dann kommt das Take off, der Moment des Abhebens: Man kann sich hinein fallen lassen mit einer Wucht, dass der Pulverschnee hochfliegt. Jeder zieht seine Linie in die weiten Hänge. Die totale Verfügung über den freien Raum erzeugt ein Freiheitsgefühl, welches der Alltag mit seinen Mauern, Strassen und Begrenzungen nicht kennt.
Das Schwingen im tiefen Pulverschnee endet bisweilen in einer Art atemloser Trunkenheit. Fahre ich noch selbst oder wiegt mich die Mulde im Rhythmus? Beim Tiefschneefahren kann man an eine Grenze gelangen, wo die Realität zu entgleiten beginnt und der Rausch das Denken abstellt.
Unten treffen sich alle wieder am sonnigen Ufer des Lauenen-Sees. Atemlos und in freudiger Erschöpfung von soviel Tiefschnee-Bögeli. Die Windjacken müssen wir abziehen, denn hier unten meint es die Märzsonne gut.
Wir montieren die Felle für den nächsten Aufstieg. In der Nachmittagssonne glüht das Holz der alten Scheunen, dass es eine Pracht ist. Auf den Lauenen-See, diesen stillen Flecken Erde, hat die Rock-Band Span in den siebziger Jahren ihren unvergänglichen Hit gemacht:
„I weiss no guet, wo i är Sunnä bi gsässä. Wit äwäg vom Lärm vo dr Stadt.
I weiss no guet, wie i ha chönnä vergässä, dert hindä bim Louenesee.“
Eine Art Liebeserklärung der Mundart-Rocker an eine Landschaft. Und diese Art von Love Story gehört vielleicht zu den wenigen, die mit dem Gang der Zeit nicht verwelken.
Ulrich Aufmuth: Zur Psychologie des Bergsteigens. Frankfurt 1992