Die Begegnung mit Dirk Reinartz ist der Beginn einer Zeitreise. Man durchwandert mit ihm das letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts und wird durch die Kraft seiner Bilder in die damaligen Lebensgefühle zurückversetzt. Mit seinen zahlreichen Reportagen, Ausstellungen und Büchern hat er ein besonderes Kapitel der Fotokunst geschrieben.
Die Fotografie faszinierte Dirk Reinartz von Jugend an. Beeindruckend ist die Konsequenz, mit der er den Weg in eine professionelle Laufbahn einschlug. Nach seiner Schulzeit absolvierte er ab 1965 eine dreijährige Fotografenlehre bei Photo Preim in Aachen, einem Fachgeschäft, das 1882 gegründet wurde und das bis heute besteht. Sein Abschlusszeugnis war glänzend. Zudem hatte er bis dahin verschiedene Jugendfotopreise gewonnen. Das ermutigte ihn, sich an der Folkwangschule für Gestaltung in Essen zu bewerben. Das war damals die erste Adresse. Dort lehrte Otto Steinert, der für seine hohen Ansprüche bekannt war. Dirk Reinartz wurde angenommen, und Steinert sollte für sein weiteres Wirken prägend werden.
Proportionen und Kontraste
Steinert lehrte etwas, das auf den ersten Blick absolut nichts mit der gesellschaftskritischen Fotografie zu tun hat, mit der Reinartz später hervortreten sollte. Steinert ging es darum, dass seine Schüler am Beispiel einfacher Alltagsgegenstände ihren Blick für Proportionen, Kontraste und andere formale Gestaltungselemente eines Bildes entwickelten. Wieder und wieder stellte er ihnen Aufgaben im Rahmen dieser «Sachfotografie», und wieder und wieder wurden diese Bilder analysiert und kritisiert. Rückblickend bemerkte Reinartz. «Man kann durch die Sachfotografie so viel lernen – nicht nur technisch, sondern auch die Wahrnehmung, das Raumgefühl betreffend.» In dem Bildband gibt es eine Studienarbeit von Reinartz, in der er sich mit drei Milchflaschen beschäftigt hat. Dieses Bild besticht durch seine Klarheit und Schönheit.
Aber Steinert führte seine Schüler auch an Reportagethemen. Auch dafür formulierte er klare Richtlinien. So musste die Logik der Bildfolgen ebenso erkennbar sein wie bei einer sprachlichen Vermittlung. Mit diesen Vorgaben weckte Steinert in den Fotografen ein neues Selbstverständnis: Sie waren, gerade auch in der Zusammenarbeit mit den damals florierenden Zeitschriften, nicht nur Illustratoren, sondern auf ihre Weise auch Autoren. In Zusammenarbeit mit den Redaktionen und Textautoren traten sie mit einem neuen Selbstbewusstsein auf. Steinert hatte dafür die Grundlagen gelegt.
Das konnte sehr fruchtbar sein, zumal damals mit dem «Stern» und dem «ZEITmagazin» die geeigneten publizistische Bühnen für dieses neue Selbstbewusstsein und die neuen Sichtweisen zur Verfügung standen. 1971 wurde Reinartz als jüngster Reportagefotograf vom Stern eingestellt. Zudem arbeitete Reinartz, nachdem er von sich aus beim «Stern» gekündigt hatte, zeitweilig mit einer neuen Fotografenagenturagentur, VISUM, zusammen, in der die Autorschaft der Fotografen das Leitmotiv war.
Man kann sich Dirk Reinartz, der im Jahr 2004 im Alter von 56 Jahren starb, als einen unermüdlich arbeitenden und ebenso kreativen Fotografen vorstellen. Die Aufträge der Zeitschriften lasteten ihn nicht aus. Er suchte sich eigene Themen, aus denen zahlreiche Bücher entstanden, viele davon im Göttinger Steidl Verlag.
Seine Themenwahl ist eine eigene Betrachtung wert. Manches lag geradezu in der Luft. So reiste er im Auftrag des «Stern» nach Nordirland, um über den dortigen Bürgerkrieg zu berichten. Betrachtet man seine Bilder im vorliegenden Bildband, dann werden diese Schrecken wieder lebendig. Und in Deutschland gab es schon damals das grosse Problem der Arbeitslosigkeit, der Einbürgerung von Ausländern oder der Trostlosigkeit der neu entstandenen Wohnsilos. Zu diesen und ähnlichen Themen sind Dirk Reinartz Bilder gelungen, die an ihrer Überzeugungskraft und formalen Stimmigkeit nicht das Geringste verloren haben.
Bismarck
Besonderes Gewicht hatte für ihn die deutsche Vergangenheit. Für sein Buch «totenstill» besuchte er Auschwitz-Birkenau, und es gelang ihm, den Schrecken dieses Ortes mit ganz unprätentiösen, aber unerbittlich stimmigen Bildern für die Betrachter erfahrbar zu machen. Überhaupt die deutsche Vergangenheit: Worin liegen ihre Wurzeln? Hat Bismarck dabei eine unselige Rolle gespielt? Jedenfalls gibt es in Deutschland zahlreiche Bismarck-Denkmäler, die bei genauer Betrachtung einen ganz merkwürdigen Kult darstellen. Auf seinen zahlreichen Reisen durch Deuschland hat Dirk Reinartz immer auch diese Denkmäler fotografiert und für ein Buch den damals sehr bekannten Politikwissenschaftler und Historiker Christian Graf von Krockow gewonnen.
Auf seinen Amerikareisen ist Bismarck Dirk Reinartz wieder begegnet. Auch dort gibt es einen Bismarck-Kult, aber ganz anders als in Deutschland. Dieses Phänomen war ihm auch ein Buch wert. Der Kontrast zwischen diesen beiden Büchern ist verblüffend.
Bei seinem unerwarteten und allzu frühen Tod hinterliess er 370’000 Negative und 100’000 Diapositive. Dazu kommen 2’200 Prints und 10’000 Abzüge im Zusammenhang mit redaktionellen Aufträgen und Ausstellungen. Zunächst pflegte und verwaltete seine Frau Katrin diesen gewaltigen Nachlass und sorgte zum Beispiel dafür, dass Anfragen nach bestimmten Bildern bedient werden konnten. Im Jahr 2021 übergab sie den Nachlass an die Deutsche Fotothek in Dresden und die Stiftung F. C. Gundlach in Hamburg.
Der jetzt erschienene Bildband entstand im Zusammenhang mit einer Ausstellung im LVR-LandesMuseum Bonn. Er ist sehr klug gegliedert, und die begleitenden Texte sind allesamt in ihrer Klarheit vorbildlich. Es gibt nur wenige Bildbände, in denen man wie hier nicht nur viel über einen Fotografen und seine Zeit erfährt, sondern ebenso viel über Fotografie lernt. Liest man die Begleittexte, blättert man unwillkürlich wieder die Bildstrecken durch und erkennt mehr und mehr, mit welcher subtilen Kunst die Fotos komponiert sind.
Dirk Reinartz: Fotografieren, was ist. 272 Seiten, 262 Abbildungen, Steidl, Göttingen August 2024, 40 Euro