Von sogenannten Mainstream-kritischen Medien werden immer wieder Berichte und angebliche Beweise verbreitet, dass kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs Moskau und Kiew sich bei Verhandlungen in Istanbul im März 2022 über eine grundsätzliche Einigung für ein Friedensabkommen verständigt hätten. Dieses sei dann vom damaligen britischen Premier Boris Johnson torpediert worden. Bei näherem Hinsehen handelte es sich um tendenziös manipulierte Behauptungen.
Zu den Instrumenten angeblich unterschlagener Wahrheiten, die von Kritikern des sogenannten Mainstreams gestreut werden, gehört die Berufung auf prominente Namen, deren Aussagen von westlichen Zensoren bewusst ausgeblendet oder verdreht würden. So etwa wird der frühere israelische Ministerpräsident Naftali Bennett von Kritikern, die vorgeben, die Öffentlichkeit über die «wahren» Zusammenhänge und Hintergründe des Ukraine-Krieges aufzuklären, gern zu einer Art «Kronzeuge» stilisiert. Bennett war zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine israelischer Regierungschef und engagierte sich im März 2022 für eine Vermittlung zwischen den Kriegsparteien. Er flog nach Moskau zu Gesprächen mit Putin und konferierte auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
«Kronzeuge» Naftali Bennett
Im März 2022 fanden in Istanbul Gespräche zwischen ukrainischen und russischen Vertretern über eine mögliche Beendigung der Kriegshandlungen statt. Diesen Gesprächen waren erste Kontakte von Delegationen in Belarus (Weissrussland) vorausgegangen.
In einer mehrseitigen angeblichen «Rekonstruktion der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vom März 2022» behauptet nun der der frühere Generalinspektor der Bundeswehr, Harald Kujat, und der emeritierte Politikwissenschafter Hajo Funke (er gehört zu den Erstunterzeichnern des umstrittenen «Friedensmanifests» von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht), Naftali Bennett habe erklärt, ein ukrainisch-russischer Waffenstillstand sei bei den Istanbuler Verhandlungen «in greifbarer Nähe» gewesen. Dann aber sei die «paraphierte» (vorläufige) Einigung» vom damaligen britischen Regierungschef Boris Johnson vehement zurückgewiesen worden.
Diese sogenannnte «Rekonstruktion» ist zuerst in der obskuren schweizerischen Publikation «Zeitgeschichte im Fokus» veröffentlicht und dann von Köppels «Weltwoche», die sich gern im Dienste der «Putin-Verklärung» in Szene setzt, tel quel übernommen worden.
Bennetts Aussagen über eine teilweise Annäherung zwischen Russland und der Ukraine beziehen sich auf ein weit ausholendes, fünfstündiges Gespräch, das der frühere israelische Regierungschef Anfang Februar mit einem israelischen Journalisten in hebräischer Sprache geführt hat und das auf Youtube mit englischen Untertiteln anzuhören ist. Die von Kujat und andern «alternativen» Stimmen zitierten Aussagen Bennets wurden auch vom staatlichen russischen Nachrichtendienst «Sputnik» kolportiert und als «Beweis» dafür interpretiert, dass der Westen für das anhaltende Blutvergiessen in der Ukraine verantwortlich sei.
Der Einfluss des Butscha-Massakers
Die Internetplattform «Business Insider» für internationale Wirtschaftsnachrichten hat die Aussagen Bennetts zum Thema ukrainisch-russische Friedensverhandlungen gründlicher recherchiert. Bennett hat gemäss dieser Quelle in dem mehrstündigen Youtube-Gespräch weiter erklärt, dass es nicht die USA und andere Westmächte gewesen seien, die zur Beendigung der Istanbuler Friedensgespräche geführt hätten. Vielmehr habe die Entdeckung der grauenvollen Massaker durch russische Soldaten in dem Kiewer Vorort Butscha Anfang April 2022 entscheidend zum Abbruch der Verhandlungen beigetragen.
Weshalb die medialen «Aufklärer», die als angeblich unbestechliche Wahrheitsvermittler diese ergänzenden zusätzlichen Aussagen ihres «Kronzeugen» Bennet ausblenden, kann man sich unschwer ausmalen.
Ähnlich löcherig ist die Argumentation zu den angeblichen Hauptpunkten, auf die sich die Verhandlungsdelegationen in Istanbul verständigt haben sollen. Gemäss dem von der «Weltwoche» publizierten Text zur «Rekonstruktion» dieser Gespräche soll sich die Ukraine bereit erklärt haben, für die Beendigung des Krieges auf den geplanten (aber in keiner Weise definitiv entschiedenen) Beitritt zur Nato zu verzichten. Im Gegenzug soll Moskau Offenheit für «Sicherheitsgarantien» zugunsten der Ukraine signalisiert haben. Um welche Art von «Sicherheitsgarantien» es sich handelte, bleibt absolut offen. Dass man sich in Kiew nie mit Sicherheitsgarantien von Putins Gnaden abfinden würde, liegt auf der Hand. Schliesslich hatte der Kreml mit der Annexion der Krim 2014 und dem frontalen Überfall vom Februar 2022 alle seine früheren Unterschriften zur Respektierung der ukrainischen Grenzen als Makulator entwertet.
Vollkommen ungeklärt bleibt bei dieser sogenannten Rekonstruktion der Istanbuler Gespräche auch die zentrale Frage: auf welche Grenzen sich denn die russischen Truppen gemäss dem angeblich schon paraphierten Friedensabkommens zurückziehen würden.
Putin schwenkt «unterzeichnetes» Dokument vor der Kamera
Auch der notorische Wahrheitsverdreher Putin selbst hat behauptet, es habe im Frühjahr 2022 eine vorläufige bilaterale Verhandlungsvereinbarung gegeben und diese sei von ukrainischer Seite unterzeichnet worden. Anlässlich eines Vermittlungsversuches südafrikanischer Staatschefs in Moskau im Juni 2023 hat Putin dieses angebliche Papier sogar kurz vor laufender Kamera geschwenkt – allerdings so kurz und unlesbar, dass für die Zuschauer beim besten Willen keine Unterschriften zu erkennen sind.
Hier stellt sich die nahliegende Frage, weshalb Moskau den behaupteten vorläufigen Einigungsvertrag mit der Ukraine vom März 2022 seither nicht im Wortlaut mitsamt den angeblichen Unterschriften schon längst zuhanden der Öffentlichkeit publiziert hat. Wenn dieser Entwurf tatsächlich in der von Putin behaupteten Form und den erwähnten Einigungspunkten existiert, müsste der Kreml dieses Dokument doch längst als potentes Propaganda-Instrument ausgeschlachtet haben. Damit liesse sich zuhanden der Weltöffentlichkeit gewissermassen schwarz auf weiss «beweisen», dass zu jenem Zeitpunkt tatsächlich eine weit fortgeschrittene Friedensvereinbarung zu zentralen Fragen mit der Ukraine vorlag.
Moskau wird seine Gründe haben, weshalb ein solches Dokument bisher nicht publiziert worden ist.
Das Narrativ von Boris Johnsons «Verhinderungsmission» in Kiew
Ein anderer Aspekt der Legende von einem angeblich im Frühjahr 2022 durch die Westmächte verhinderten Friedensvertrag zwischen der Ukraine und Russland ist die Behauptung, der damalige britische Premier Boris Johnson habe Anfang April 2022 in Kiew energisch gegen ein solches Abkommen interveniert. Er habe Präsident Selenskyj angedroht, die westliche Unterstützung für die Ukraine werde eingestellt, wenn Kiew einem solchen Abkommen zustimme. Dieses von «alternativen» Medien verbreitete Narrativ ist bisher weder von verlässlichen britischen noch ukrainischen Quellen gestützt worden. Es erscheint für einen nüchternen Betrachter auch wenig glaubwürdig, dass ein britischer Premier gewissermassen als Soloaktion die ukrainische Regierung ruckzuck davon abbringen kann, eine angebahnte Friedenvereinbarung mit Moskau über Bord zu werfen.
Auch in der britischen Presse waren damals Spekulationen in dieser Richtung angestellt worden. Der britische «Guardian» berichtete Ende März indessen im gleichen Zusammenhang, für Kiew komme ein etwaiger Verzicht auf einen Nato-Beitritt nur in Betracht, wenn westliche Grossmächte wie die USA, Frankreich und Grossbritannien bereit wären, «bindende Sicherheitsgarantien» für die Ukraine einzugehen. Dies könnte für die Ukraine den gleichen Wert wie der Beistandsartikel Nr. 5 im Nato-Vertrag haben. Ob Putin je bereit gewesen wäre, derartige Sicherheitsgarantien zugunsten der Ukraine zu akzeptieren, bleibt bis heute völlig im Dunkeln.
Dementi im ukrainischen Fernsehen
Inzwischen ist von ukrainischer Seite die Erzählung von der Torpedierung eines angeblichen vorläufigen Abkommens zwischen Kiew und Moskau durch Boris Johnson klar dementiert worden. Dawyd Arachamija, der Vorsitzende von Selenskyjs Partei «Sluha narodu» (Diener des Volkes) und Teilnehmer bei den Istanbuler Verhandlungen, hat in einem Fernseh-Interview erklärt, man habe bei jenen Gesprächen dem russischen Angebot, als Gegenleistung für einen definitiven ukrainischen Verzicht auf einen Nato-Beitritt den Angriffskrieg zu beenden, überhaupt kein Vertrauen entgegengebracht. Die Russen hätten ja schon vieles versprochen. Die Ukraine sei nicht bereit gewesen, den angeblich fertigen Entwurf für ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Das Interview ist Ende November vom ukrainischen Sender 1+1 veröffentlicht worden und kann unter anderem in dem Nachrichtenkanal «Intellinews» angehört werden.
Was bleibt von all diesen halbgaren «Rekonstruktionen», unbewiesenen Behauptungen, manipulierten Zitaten und unbeantworteten Fragen über ein angeblich im März 2022 verpasstes oder vom Westen gezielt verhindertes Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine?
Kurze Antwort: Diese Erzählung gehört ins Reich der Legenden. Sie könnte aber zu einer Zukunftsperspektive werden, wenn Putin verbindlich präzisieren würde, welche Art von Sicherheitsgarantien er für die Ukraine als Gegenleistung für deren Verzicht auf einen Nato-Beitritt akzeptieren würde. Und auf welche Grenzen er die russischen Truppen im Rahmen eines tatsächlichen Friedensabkommens zurückziehen würde.