Hans-Peter Dürr kennt die Quantenphysik von Grund auf. Er ist 1929 geboren, hat in den USA bei Edward Teller, der an der Entwicklung der Wasserstoffbombe beteiligt war, studiert und war danach lange Zeit Assistent von Werner Heisenberg. 1977 wurde er dessen Nachfolger als Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik in München. Er hatte dieses Amt bis zu seiner Emeritierung 1997 inne.
Die Quantenphysik eröffnet für Physiker wie Dürr eine vollständig neue Sicht auf die Welt. Diese Revolution hat sich noch nicht im modernen Alltagsbewusstsein durchgesetzt. Denn die Quantenphysik hat den Nachteil, absolut unanschaulich zu sein. Max Planck, auf den sie zurückgeht, und Werner Heisenberg, der sie weiterentwickelte, haben immer wieder davon gesprochen, dass die Erkenntnisse sich nur mathematisch oder in Gleichnissen ausdrücken lassen.
Blick für die Potentiale
In den beiden anspruchsvollen einführenden Kapiteln seines Buches spricht Hans-Peter Dürr davon, dass der Physiker, wenn er die Materie in immer kleinere Teile zerlegt, auf etwas stösst, das als „Beziehung“ bezeichnet werden kann. Es gibt also nicht immer noch kleinere Teile, die allem zu Grunde liegen, sondern hinter den Teilen liegt immaterielle „Beziehung“. Um zu veranschaulichen, was er damit meint, verwendet Dürr die Begriffe Form und Inhalt. Dem Inhalt, der Materie, liegt Form zu Grunde, also Beziehung.
Das ist ein sehr abstrakter Gedankengang. Die Argumentation von Dürr zielt nun darauf ab zu zeigen, dass diese Einsicht die Grundlage für ein verändertes Wirklichkeitsverständnis auch in unserem Alltag sein kann. Denn, so Dürr, wenn am Anfang der Welt keine festgelegte Materie am Werk ist, sondern Formen in Gestalt von Beziehungen, so bedeutet dies, dass die materielle Welt lediglich eine „Verkrustung“ bestimmter Formen aus einem unendlichen Spiel von Möglichkeiten ist. Damit möchte er unseren Blick für die Potentiale öffnen, die im Spiel der Wirklichkeit stecken. Die Welt ist nicht festgelegt, sondern sie entsteht in jeder Sekunde neu.
Fundamentalismus der Wissenschaft
Das ist natürlich schwer vorstellbar, aber Dürr verwendet ein Gleichnis für seine Sichtweise. Auf einer herkömmlichen Schallplatte ist die Musik in Rillen gepresst. So kann man in einem Oratorium einen einzelnen Sopran herauszuhören. Diesen Sopran wird man aber nicht finden, indem man die Rille mit einem Vergrösserungsglas untersucht. „Der Sopran mit seinen vielfältigen Klangfarben ist nämlich in der Gestalt der Rille verborgen, in einer Beziehungsstruktur verschlüsselt.“
In diesem Gleichnis steckt auch ein gewaltiger Vorwurf, den Dürr speziell der modernen Naturwissenschaft macht. Trotz aller Erfolge folgt sie ganz bestimmten Sichtweisen auf die Welt und vernachlässigt andere. Das ist der „Fundamentalismus“ der westlichen "wissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Ideologie". Deswegen haben auch diejenigen, die selbst keine Naturwissenschaftler sind, es sehr schwer, sich für Sichtweisen zu öffnen, die über diejenigen der Naturwissenschaften hinausgehen.
Der poetische Blick
Er nennt diese Sichtweisen „poetisch“. Im Gegensatz zur „Schärfe“ des Blicks auf isolierte Details richtet sich die „poetische Betrachtung“ auf die Beziehungsstruktur. Wer dafür keinen Sinn entwickeln kann, verhält sich wie ein „Analphabet“, der zum Beispiel ein Gedicht von Goethe nicht lesen und schon gar nicht verstehen kann und stattdessen stolz darauf sind, die Buchstaben des Gedichtes ihren Formen nach zu ordnen und auf diese Weise eine übersichtliche Struktur zu schaffen.
„Mir scheint die Aktivität des Analphabeten gewisse Ähnlichkeit mit einem Menschen zu haben, der sich die Natur ansieht und dort nur eine grosse Vielfalt von verschiedenartigen Formen und Organismen entdeckt und dabei das Gefühl hat, dass all dies doch ziemlich verschwenderisch und ineffizient arrangiert ist.“
Bei aller Kritik macht Dürr ganz klar, dass er als begeisterter Quantenphysiker argumentiert: „Es ist nicht wissenschaftsfeindlich, wenn auf prinzipielle Grenzen der Wissenschaft aufmerksam gemacht wird. Gerade das Aufzeigen der Grenzen schärft den Blick für das, was man begreifen kann, es festigt letzten Endes die Fundamente des Wissenschaftsgebäudes.“
Verhalten wie Bankräuber
Nach den beiden Eingangskapiteln folgt ein „Wörterbuch des Wandels“. Darin spricht sich Dürr unter anderem gegen die Nutzung der Kernenergie aus. Denn die Folgen der Unfälle seien nicht beherrschbar. Und sie seien statistisch nicht erfassbar. "Wahrscheinlichkeiten sind relative Häufigkeiten, und einmalig ist eben nie häufig. Das sieht man auch daran, dass es keine Versicherungsgesellschaft gibt, die einen Kernreaktor voll versichern würde." Der Umstieg auf alternative Energieformen ist aus seiner Sicht eben deshalb möglich, weil die Welt ungeahnte Potentiale hat, die mit der dazugehörigen Fantasie erschlossen werden können.
Bislang aber würden wir uns aufgrund unseres Mangels an Fantasie jetzt wie Bankräuber verhalten, die sich an den Naturschätzen vergreifen: „Wir stellen Schweissgeräte her, brechen damit einen Naturtresor nach dem anderen auf, nehmen Schätze und Energie heraus, um nebenbei neue, raffiniertere und meist auch teurere Schweissgeräte zu bauen, mit denen immer dickwandigere Naturtresore geplündert werden.“
Die Kunst des Friedens
Die Polemik von Dürr ist zwar scharf, aber nicht bitter, und er selbst ist kein Eiferer – dazu ist er viel zu generös. Dürr hat sich auch in der Umwelt- und Friedensbewegung einen Namen gemacht. 1987 erhielt er für seine Kritik an der strategischen Verteidigungsinitiative von Ronald Reagan den Alternativen Nobelpreis. Diese Kritik hatte er aus der Sicht eines Physikers verfasst und sie ist bis heute aktuell. Dürr ist Mitglied bei Pugwash, beim Club of Rome und gehört zum Rat des World Future Council.
Nüchtern stellt er fest: „Der Mensch ist der sensibelste Teil des Ökosystems. Wenn etwas schief läuft, ist er der erste, der abstürzt.“ Mit der Knappheit und Klarheit des Naturwissenschaftlers fasst er die Ziele der ökologischen Bewegungen zusammen: „Wir wollen die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören, wir wollen auch, dass die Menschen friedlich und in Gerechtigkeit zusammenleben, und wir wollen drittens ein gutes und lebenswertes Leben haben.“ Der Frieden untereinander und mit der Natur erfordert „viel Einsicht, Umsicht, Vorsicht und Weitsicht. Frieden ist eine Kunst.“ - Dürrs Buch gibt von der Kunst des Friedens ein schönes Beispiel.
Hans-Peter Dürr ist am 10. November 2011 um 20.00 Uhr in der CityKircheZug, Alpenstrasse 7, 6300 Zug, zu Gast.
Hans-Peter Dürr, Das Lebende lebendiger werden lassen. Wie uns neues Denken aus der Krise führt, oekom verlag, München 2011